Parvus

Die Orientfrage

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3. Bismarcks Vorschubdienste an Russland


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 3. Bismarcks Vorschubdienste an Russland, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 62, 16. März 1897.



1856 hatte Europa die russische Bestie in seiner Gewalt. Die russische Kriegsflotte wie die russische Armee waren bei Sebastopol vernichtet, die militärischen und finanziellen Hilfskräfte des Landes waren erschöpft, das Reich befand sich in vollständiger Auflösung. Der gesamte Umkreis der russischen Küste des Schwarzen Meeres stand den verbündeten Mächten frei. Aber so lüstern noch Frankreich wie England nach der Krim schielten, so stand noch einer Okkupation der Halbinsel nicht nur ihre gegenseitige Rivalität im Wege, sondern die sichtbare Unmöglichkeit, eine derartige isolierte Okkupation auf die Dauer aufrecht zu erhalten: Krim als französische oder englische Besitzung würde, in weiter Entfernung vom Mutterlande, vor sich die erdrückende Masse des russischen Volksgebietes haben und hinter sich nur das Meer, dessen Eingang in dem Besitz einer dritten Macht, der Türkei, wäre, in deren Gewalt es stände, die Kolonie gänzlich vom Mutterlande zu isolieren. Das einzige Mittel, den politischen Erfolg des Krimkrieges, der so viele Opfer gekostet hat, auf die Dauer zu sichern, war, die Moldau und Walachei an Österreich abzutreten, um dieses an die Meerküste zu bringen. Aber dem würde sich mit aller Macht Österreichs deutsches Bruderland Preußen widersetzen; vor allem aber konnte Österreich, das sich in dem Krieg nicht beteiligt hat, gar nicht einmal daran denken, artige Ansprüche zum Ausdruck zu bringen. So wurden denn Russland bloß, auf Drängen Österreichs, die Donaumündungen zurückgenommen, die nunmehr der Moldau-Walachei zuerteilt wurden, und im Übrigen zog sich die verbündete Flotte aus den Gewässern des Schwarzen Meeres zurück, hinter sich bloß die papierne Bestimmung zurücklassend, dass Russland keine Kriegsschiffe im Schwarzen Meere unterhalten dürfe. Das Neutralitätsprinzip ist längst vernichtet, in den Besitz der Donaumündungen ist aber Russland nicht mehr gekommen, trotz seiner Siege von 1878 – das zeigt deutlich, wo man 1856 den Hebel hinzusetzen hatte. Europa hatte wohl die Kraft, Russland zu bewegen, aber nicht die Einigkeit, um den Sieg ausnutzen zu können.

Man kann sich kein widerlicheres Gemisch von Feigheit, Narrheit und Perfidie denken, als das, welches die österreichische Politik während des Krimkrieges bildete. Vor dem Krieg zeigte sich das Wiener Kabinett im völligen Einverständnis mit Nikolaus I, und es ist begründete Annahme vorhanden, dass geheime Abmachungen zwischen Russland und Österreich in Bezug auf die Türkei stattfanden; als es sah, dass eine mächtige Verbindung Russland gegenüberstand, ließ es beim Ausbruch des Krieges Russland in Stich; als der Verlauf des Krieges sich immer entschiedener zu Ungunsten Russlands wendete, machte Österreich Anstalten, um Russland den Krieg zu erklären, spielte aber gleichzeitig noch immer den freundschaftlichen Vermittler; jedoch, so lange noch Sebastopol stand, wagte es Österreich auch nicht, sich den verkündeten Mächten anzuschließen; da Russland trotz der größten Konzentration seiner Kräfte nach der Krim kaum im Stande war, Sebastopol zu halten, so würde ein Angriff seitens Österreichs für Russland geradezu vernichtend gewesen sein, – aber Österreich zögerte trotz der größten Versprechungen, die ihm besonders seitens Frankeichs gemacht wurden, zog die Verhandlungen in die Länge und konnte sich bis zum letzten Augenblick nicht entschließen; noch im Juni 1855 erklärte Kaiser Franz Joseph dem Fürsten Alexander Gorchakov, er wolle die Stellung Österreichs in den Donaufürstentümern ausrecht erhalten, werde aber einen Angriff auf dieser Seite gegen Russland nicht dulden, – und als Sebastopol fiel, der Krieg zu Ende und nichts mehr zu befürchten war, da machte Österreich selbst diesen Angriff, indem es die schon erwähnte Zuteilung der Donaumündung en an die Donaufürstentümer als unerlässliche Friedensbedingung hinstellte. Hätte Österreich statt dieser heimtückischen List mehr Kühnheit und Tatkraft gezeigt, so würde es ganz andere Erfolge erzielt haben, und es ist wohl möglich, dass dann die gesamte politische Entwicklung Deutschlands und Europas andere Wege gegangen wäre. Aus den im vorigen Artikel erörterten Gründen konnte das aber gar nicht anders sein. Das innerlich zerrüttete Österreich wurde während des Krimkrieges von Preußen in einer zielbewussten und rücksichtslosen Weise im Zaum gehalten.

Bismarck, in dessen Charakter politischer Scharfblick mit junkerlicher Borniertheit zu einem Willen zusammengeschweißt sind, beherrschte während des Krimkrieges die Situation, nicht dank seinem Scharfsinn, sondern dank seiner Beschränktheit. Bunsen hat in seiner Denkschrift zweifellos eine unvergleichbar liefere und umfassendere Auffassung vertreten. Er erklärte (und das gleich beim Beginn des Krieges), der Augenblick sei gekommen, die Macht Russlands zu brechen; so lange das Schwarze Meer im russischen Besitze, sei Konstantinopel nicht sicher; um aber die Übermacht Russlands zu beseitigen, müsse man die Donaufürstentümer Österreich zuteilen und Russland außerdem Bessarabien und Taurien nehmen. Aber der Plan Bunsens erforderte ein Zusammengehen Preußens und Österreichs, und Bismarck lag es gerade daran, eine etwaige Stärkung Österreichs zu verhindern. Er hatte nur sein enges Ziel im Auge, Preußen über Österreich emporzuheben, um dann Deutschland zu beherrschen, und ließ die allgemeinen politischen Zusammenhänge Europas gänzlich außer Acht. Mit Recht hob Bunsen hervor, dass die Niederwerfung Russlands den größten Feind der deutschen Einheit beseitige, – das wusste auch Bismarck, aber er brauchte die Niederlage Russlands ohne gleichzeitige Stärkung Österreichs. So opferte er Preußens Interessen die Machtentfaltung des allgemeinen Deutschlands, das damals die Möglichkeit hatte, sich eine politische Stellung in Europa zu erobern, an die es seither gar nicht mehr träumen kann! Preußen unter Bismarcks Führung hat im Krimkrieg Russland gerettet, indem es Deutschland verraten hat!

So kam damals Russland nicht nur, trotz seines schmählichen militärischen Zusammenbruchs, so ziemlich mir heiler Haut davon, sondern von da an wurde jeder Schritt zur Einigung Deutschlands respektive dessen Annexion durch Preußen zu einem Triumph für Russland. So wurde Preußen zum Handlanger Russlands. Das wurde mehrmals von Bismarck selbst als lästig genug empfunden, doch konnte er das Verhältnis, das er sich selbst angebunden hat, nicht mehr loswerden, denn, wie er diesen Weg beschritten hatte, musste er auch jedes Mal von neuem mit Russland rechnen. Dies die Ursprünge der Liebedienerei Bismarcks vor Russland. Bei alledem ist ja die Einigung Deutschlands doch unvollendet geblieben. Und diese Vollendung kann, unter Beibehaltung des gegenwärtigen politischen Systems, gar nicht mehr anders stattfinden, als durch Zertrümmerung Österreichs. Die deutsche Öffentlichkeit ist ja jetzt derartigen Plänen weit entrückt. Aber in Deutschland macht noch die Öffentlichkeit nicht die Politik. Und in Kreisen, welche die Politik, besonders die äußere, außerhalb der Öffentlichkeit machen, sind solche Pläne wohl denkbar, sogar sehr wahrscheinlich, dass man sie hegt, wenn man sich ihrer auch noch nicht in ihrer ganzen Tragweite bewusst sein mag und vor allem sich scheut, damit vorzeitig unter das große Volk zu treten. Wer nun von einem „größeren“ Deutschland träumt, denkt zugleich an einen Krieg mit Österreich und muss sich um die Bundesgenossenschaft Russlands bewerben.

Dass an dem deutsch-österreichischen Krieg Russland seine helle Freude haben musste, liegt auf der Hand. Um ihn direkt auszunutzen, war Russland noch zu schwach. Dagegen griff es sofort zu beim deutsch-französischen Krieg und erwirkte sich vor allem die Beseitigung der Neutralitätsklausel, worauf wir schon verwiesen haben. Wäre Preußen von bezahlten Agenten Russlands geleitet, konnte es Russland keine besseren Dienste leisten, als die, welche es ihm dadurch erwiesen hat, dass es Österreich und Frankreich unterdrückte. Nun war für Russland der Weg nach dem Orient geebnet, denn der einzige Gegner, der ihm dabei ernstlich gegenüberstand, war England, das aber, wie es sich nachher zeigte, allein den Kampf nicht aufzunehmen wagte. Nur das Gefühl der eigenen Schwäche hielt Russland davon zurück, sofort loszuschlagen. Aber die von der türkischen Regierung aufgefangene geheime Korrespondenz Ignatievs (Ignatjeffs) zeigt mit aller erwünschten Deutlichkeit, dass man in Russland gleich nach dem deutsch-französischen Friedensschluss den Krieg gegen die Türkei beschlossen hat. So schrieb Ignatiev schon am 30. Mai 1871 an den Vizekönig von Ägypten, mit dem Russland in geheimer Verbindung stand: „Rüstet, trefft die notwendigen Vorbereitungen für einen langen Krieg, schließt Verteidigungs- und Angriffsverträge mit Griechenland, Serbien und Rumänien ab (wobei wir euch zweifellos helfen werden) und fahrt fort, den Forderungen des Hofes des Suzeräns Schritt für Schritt Trotz zu bieten.“ Wie Ignatiev (Ignatjeff) sich in dieser Korrespondenz öfters ausdrückt, brannte er vor Ungeduld, „seine Pässe einzufordern“, d. h. mit der türkischen Regierung offiziell zu brechen.

Der russisch-türkische Krieg von 1878 war nicht erst durch die Verfolgungen der Bulgaren hervorgerufen, sondern er war die unerlässliche Folge der „glorreichen“ Siege Preußens 1866 und 1870/71. Ohne dies wäre der Feldzug wie der Sieg Russlands gleich unmöglich gewesen. Das war der zweite große Dienst, den Bismarck Russland erwiesen hat, und das zweite große Verbrechen an Deutschland und Europa! Nun müssen wir noch, bevor wir die jetzige Lage erörtern, einen Blick werfen auf die Situation, welche der russisch-türkische Krieg von 1878 geschaffen hat.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025