Parvus

Die Orientfrage

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4. Was hat Russland 1878 erreicht?


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 4. Was hat Russland 1878 erreicht? Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 66, 21. März 1897.



Was Russland 1878 bezweckt hat, zeigt deutlich der Vertrag von St. Stefano, der später durch die Bestimmungen des Berliner Kongresses ersetzt wurde. Die hauptsächliche Bestimmung dieses Vertrags war die Gründung eines selbständigen Bulgariens. Doch was für ein Bulgarien! Ein Bulgarien, dem ganz Makedonien (jedoch ohne Saloniki und die anliegende Halbinsel) zugeteilt wurde, dass im Süden am ägäischen Meer einen breiten Küstenstrich erhielt, etwa 3.000 Quadratmeilen und eine Bevölkerung von rund 5 Millionen umfasste, ein Bulgarien, das allein bedeutend größer war, als der ganze Länderbesitz, welcher der Türkei auf der Halbinsel noch verblieben war. Dass ein derartiges Bulgarien sich in absehbarer Zeit in den Besitz der ihm vorenthaltenen Halbinsel setzen würde, welche ohne festländischen Zusammenhang mit den türkischen Stammlande blieb, war mit Sicherheit vorauszusehen. Die europäische Türkei wurde durch dieses schräg über die breite Mitte der Halbinsel gelegte Bulgarien, vom Schwarzen und hart bis an das Adriatische Meer, in drei vereinzelte Stücke zerrissen: Konstantinopel und das umliegende Gebiet, die Halbinsel Chalkidiki im Ägäischen Meer und der größere Rest, der, von der Save beginnend, sich in breitem Streifen längs der Ostküste zog, Montenegro umging, im Süden zwischen dem Golf von Saloniki und dem Ionischen Meer sich ausweitete und hier nördlich von Bulgarien, weiter dem Süden zu von Griechenland eingeschlossen war. Diese drei Teile ihres europäischen Reiches könnte die Türkei nur auf dem Seeweg in Verbindung miteinander unterhalten. Dabei war das Schicksal von Bosnien und Herzegowina, ihre Annexion durch Österreich, schon damals entschieden. Was also in Wirklichkeit im östlichen Teil der Halbinsel der Türkei noch übrig blieb, war Albanien, Thessalien und Epirus. Dass es unter solchen Verhältnissen für die Türkei geradezu unmöglich war, diese Landesgebiete auf die Dauer zu behalten, zeigt ein Blick auf die Karte und wurde auch durch die spätere Geschichte der Balkanhalbinsel schlagend erwiesen. So bedeutete der Vertrag von St. Stefano nichts anderes als die Vernichtung der europäischen Türkei bis auf einen kleinen genau umzirkelten Rest, der die Meeresengen umfasste und in Konstantinopel seinen nördlichen Schlusspunkt hatte. Diese Losschälung Konstantinopels und des Marmarameers es war es, worauf Russland 1878 hinausging. Es konnte damals noch nicht wagen, sich in den Besitz von Konstantinopel zu setzen, darum bereitete es die Situation so, dass es in der Zukunft, wenn der geeignete Moment gekommen sein wird, direkt auf sein eigentliches Ziel marschieren konnte.

Nun wollen wir noch einen Blick werfen auf die Landesabtretungen, welche Russland sich selbst in St. Stefano zugedacht hatte. Vor dem Kriege hat allerdings Kaiser Alexander II wiederholt in einer ganz bestimmten Weise erklärt, Russland erstrebe keine Landannexionen in der Türkei. Aber wenn ein Fürst sein Wort brechen will, ist man nie um eine Ausrede verlegen. So wurde denn auch hier folgender Kniff, um den die jüdischen Talmudisten die orthodoxe, christliche, zaristisch Regierung beneiden könnten, gebraucht: Der Türkei wurde eine Kriegsentschädigung von 1.410 Millionen Rubel (zirka 3 Milliarden Mark) auferlegt, zugleich aber wurde bestimmt, dass, da die Türkei diese gewaltige Summe nicht zu zahlen vermöge, der Zar einwillige, dass der größere Teil davon durch Gebietsabtretungen ersetzt werde! Der Türkei wurde aber keineswegs auch nur die geringste Wahl darin gelassen, welche Ländereien sie abtreten soll, sondern der Vertrag bestimmte auch sofort und in einer entscheidenden Weise, was Russland erhalten soll. Die Türkei musste einwilligen, und auch Europa hat die Komödie über sich ergehen lassen müssen. Nach dem Vertrag von St. Stefano hat nun Russland auf der Balkanhalbinsel die Donaumündungen erhalten sollen nebst einem beträchtlichen Teil der Donau selbst und des Pruth – ein Landstrich an der Westküste des Schwarzen Meeres, der in seiner Uferlinie über 300 Kilometer misst. In Asien sollte Russland ein gewaltiges Stück des türkischen Armeniens zufallen, wobei wiederum sein Küstenbesitz am Schwarzen Meere, diesmal im Westen, bedeutend erweitert und um wichtige Häfen vermehrt wurde. Nie hat Russland die Ziele seiner „Orient“-Politik so klar gezeigt, als durch diesen Vertrag: im Zusammenhang mit der Eroberung Konstantinopels respektive der Meerengen geht sein zweites großes Bestreben dahin, das Schwarze Meer in ein russisches Innenmeer zu verwandeln!

Die ungeheure Frechheit dieses von Ignatiev diktierten Friedensvertrages alarmierte ganz Europa. Österreich, das den europäischen „Orient“ zu bewachen hatte, hat sich freilich durch die ihm großmütigst von Russland zugestandene Okkupation Bosniens, wie ein feiger und hungriger Hund durch ein zugeworfenes Speckstück, abfüttern lassen. Aber England wies mit aller Energie Russland in die Schranken, und seinem kriegerischen Auftreten, wobei die Öffentlichkeit den größten Druck auf die Regierung ausübte, hat Europa das Zustandekommen und die Bestimmungen der Berliner Konferenz zu verdanken, die man nachher so sehr bemüht war, dem diplomatischen Genie Bismarcks zuzuschreiben. Wir haben bereits gezeigt, dass es vielmehr die Bismarcksche Politik war, welche die Situation für Russland vorbereitet hat. Richtig ist nur, dass es nachgerade Bismarck selbst vor dem russischen Einfluss bange wurde, und da er, weil er sein Ziel erreicht hatte, nunmehr überhaupt seinen Blick freier bekam, so spielte er den „ehrlichen Metier“, um – jedoch stets unter der größten Besorgnis – Russland aus dem Konzept zu bringen. Man hat es ihm in Russland nie verzeihen können. Und doch kann sich Russland höchstens nur über getäuschte Hoffnungen beklagen, denn in Wirklichkeit haben die Beschlüsse der Berliner Konferenz bloß im Einzelnen ausgeführt, was durch die russisch-englische Abmachung vom 30. Mai 1870 bereits festgesetzt wurde.

Die Berliner Konferenz hat den Vertrag von St. Stefano bedeutend zugestutzt, – aber man glaube nicht, dass die Situation dadurchc wesentlich geändert wurde. Bulgarien wurde hinter den Balkan, Russland hinter die Donau zurückgewiesen. Die asiatischen Landesabtretungen wurden nur um ein geringes gekürzt. Bosnien ging an Österreich ab. Aus dem Bulgarien südlich des Balkans wurde die Provinz Ostrumelien gebildet, der eine Selbstverwaltung gewährt wurde. Dass das selbständige Bulgarien den von ihm losgelösten südlichen Teil mit der Zeit an sich heranziehen wird, wurde schon damals vorausgesehen und ist auch 1885 eingetroffen. Auf Grund der vom Kongress versprochenen Vermittlung ist 1881 an Griechenland Thessalien und ein Teil des Epirus abgetreten worden. England erhiel durch eine noch vor dem Kongress getroffene selbständige Abmachung mit der Türkei die Insel Cypern.

Folgendes ist die Liste dessen, was die Türkei durch den Krieg von 1878 allein auf der Balkanhalbinsel eingebüßt hat:

 

Gebiet

Bevölkerung

Bulgarien (nebst Ostrumelien)

  99.873 Quadratkilometer

3.000.000

Bosnien (ohne Novi Pazar)

  52.102 Quadratkilometer

1.158.440

Landesabtretung an Serbien

  11.079 Quadratkilometer

   506.934

Landesabtretung an Griechenland

  20.000 Quadratkilometer

   300.000

Landesabtretung an Rumänien

  13.210 Quadratkilometer

   110.000

Landesabtretung an Montenegro

    5.019 Quadratkilometer

     50.000

Insgesamt

201.283 Quadratkilometer

5.825.374

Es sind danach der Türkei selbst noch verblieben auf der Halbinsel: 165.439 Quadratkilometer mit circa 4½ Millionen Einwohnern, worunter noch nicht einmal 1½ Millionen reine Osmanen! Man hat also der Türkei drei Fünftel ihres europäischen Bodenbesitzes und die größere Hälfte der Bevölkerung entzogen. Um die Tragweite dieser Gebietsabtretungen zu bemessen, denke man sich, dass man etwa Preußen den ganzen Osten bis auf die Provinz Brandenburg und außerdem noch Schleswig-Holstein und die Provinz Hannover genommen hätte!

Der Vertrag von St. Stefano würde die Existenz der europäischen Türkei vernichtet haben – der Berliner Vertrag hat ihre Existenzfähigkeit vernichtet. Die Frage der Integrität der Türkei ist bereits 1878 ein für alle Mal entschieden worden. Als Karl Marx für die Integrität der Türkei eintrat, dachte er an eine Türkei, die bis an die Donau reichte, also über den Balkan hinaus, und eine derartige Türkei, die sich Marx außerdem noch durch eine politische Revolution gründlich reformiert dachte, wäre allerdings eine Schutzmauer gegen Russland – eine Türkei aber, der die Donau und der Balkan genommen sind, und von der überhaupt nichts mehr übriggeblieben, als ein elender Stummel, bietet weder Schutz, noch Trutz. Die politische Karte der Türkei, welche Marx 1878 benutzt hat, ist heute noch viel weniger zu gebrauchen, als die Eisenbahnfahrpläne jener Zeit. Ein Blick in die neuere Karte des „Orients“ zeigt aber, dass durch die 1878 stattgehabte Vernichtung der Integrität der europäischen Türkei eine andere Frage hervorgerufen und in den Vordergrund gedrängt wurde: die Konsolidierung der Balkanstaaten!


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025