Parvus

Die Orientfrage

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5. Russlands jetzige Orientpolitik


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 5. Russlands jetzige Orientpolitik, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 75, 1. April 1897.



Als 1866 der große Aufstand auf Kreta begann, der letzte Vorgänger der jetzigen Revolution, da schrieb am 16. November 1866 der russische Kanzler Fürst Gortschakoff an den russischen Gesandten von Budberg in Paris mit dem Auftrage, die Stellung Russlands in der Orientfrage der französischen Regierung gegenüber klarzulegen: für Kreta gäbe es nur eine gründliche Lösung, und diese sei die Einverleibung in Griechenland; wenn dies zu radikal erscheine, so möge man wenigstens Kreta einen selbständigen, nur in einem einfachen Vasallenverhältnis zur Pforte stehenden Staat machen; es wäre dies ein Übergang zur Einverleibung in Griechenland, die früher oder später unausbleiblich erscheint; sollte es gegen Russlands Wunsch zu einer größeren Ausdehnung von Aufständen der Christen kommen, so hält Russland es für unmöglich, dass irgendeine christliche Macht materiell Partei für die Türkei und gegen die Verzweiflung der christlichen Bevölkerung nimmt. [3] Ein schärferer Gegensatz zu dem jetzigen Verhalten Russlands Kreta gegenüber lässt sich kaum denken, denn jetzt ist es Russland, welches die christlichen Mächte zu einem bewaffneten Kampf gegen die christliche Bevölkerung Kretas anführt, weil diese für die Einverleibung in Griechenland, diese – wie Gorchakov meint – einzige und unausbleibliche Lösung der Kretafrage, eintritt!

Tiefer Widerspruch im Einzelnen zeigt aber nur, mit welch rücksichtsloser Konsequenz Russland seine allgemeine Orientpolitik verfolgt. Damals, 1666, hatte sich Russland von den Schlägen des Krimkrieges noch nicht erholt. Es konnte weder in Europa, noch in der Türkei einen maßgebenden Einfluss ausüben, war vor der Hand nicht im Stand, sich direkte Vorteile im Orient zu erringen und es nahm sich deshalb zur einfachen diplomatischen Richtschnur, die Türkei zu schwächen. Wäre damals Russland nicht für die Einverleibung Kretas in Griechenland eingetreten, so musste es entweder den bestehenden Zustand oder ein englisches respektive französisches Protektorat billigen. Im Allgemeinen ging die Orientpolitik Russlands alles weniger denn darauf hinaus, aus Griechenland einen Großstaat zu machen.

So gern sich die russische Diplomatie den Mund voll nimmt von der Dankbarkeit, welche ihm die christlichen Nationen der Balkanhalbinsel schulden, so wenig hat sie in Wirklichkeit je auf diese Dankbarkeit spekuliert. Sie wusste sehr gut, dass die kleinen Nationen aus politischem Selbsterhaltungstrieb sich gegen die russische Vormundschaft werden auflehnen müssen und war deshalb stets bestrebt, die russische Herrschaft nicht auf moralische Tugenden, sondern auf materielle Notwendigkeiten zu basieren, indem sie die politische Karte der Balkanhalbinsel so zurecht schnitt und auch sonst derartige Bestimmungen traf, dass die Staaten in ihrer selbständigen Entwicklung gehemmt wurden und Russland über ihre Schicksale verfügen konnte.

1878 hat Russland, wie schon erwähnt, ein großes Bulgarien schaffen wollen. Der Vertrag von St. Stefano führt sogar zu der sehr begründeten Annahme, dass man darauf hinausging, mit der Zeit Serbien in Bulgarien einzuverleiben. Welche Gefahr selbst das vom Berliner Kongress geschaffene Bulgarien für Serbien wurde, hat ja der bulgarisch-serbische Krieg gezeigt, – wie viel mehr noch wäre es das dreifach größere Bulgarien des Vertrags von St. Stefano? Weshalb nun Bulgarien diese russische Wohltat? Das wird begreiflich, wenn man sich zwei weitere Bestimmungen des Vertrags von St. Stefano vergegenwärtigt: einmal, dass danach die russische Armee Bulgarien während voller zwei Jahre in Okkupation behalten sollte, sodann dass Russland sich von der Türkei die Dobrudscha respektive die Donaumündungen abtreten lassen wollte. Während der zwei Jahre der Okkupation wäre Bulgarien da facto nichts anderes als eine russische Provinz gewesen. Unter diesem Druck wäre seine gesamte politische Gestaltung nach russischen Ordres vor sich gegangen. Hätte sich auch die russische Armee nach Ablauf der zwei Jahre zurückgezogen, so wäre doch Russland, das sich in der Dobrudscha hart an der bulgarischen Grenze festsetzte, in der Lage gewesen, beim ersten Konflikt eine Armee in das bulgarische Gebiet zu werfen. Der Besitz der Dobrudscha sicherte Russland die Unterwerfung Bulgariens, und dann war es allerdings in seinem Interesse, Bulgarien möglichst groß zu machen. Der Berliner Kongress hat aber der russischen Diplomatie einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er Russland hinter die Donau zurückwarf, so dass ihm kein anderer Zugang zu Bulgarien blieb, als auf dem Wege über das Schwarze Meer – und dadurch erst erhielt Bulgarien die Möglichkeit jener selbständigen Politik, die es eine Zeitlang getrieben hat. Aus dem gleichen Grunde änderte sich aber auch die russische Politik, die sich nunmehr einer Machtausdehnung Bulgariens widersetzte.

Nichtsdestoweniger bleibt Bulgarien von allen Balkanstaaten immer das Land, welches am meisten auf russische Gunst rechnen kann – weil es noch immer dasjenige ist, welches von Russland am meisten abhängt, denn es liegt Russland am nächsten und steht mit ihm, wenn auch auf dem Seeweg, in unmittelbarer Verbindung. Dazu kommt, dass das im Besitz der Balkanübergänge befindliche Bulgarien für Russland das strategisch wichtigste Land ist auf dem Weg nach Konstantinopel. Nicht die Bonhomie Nikolaus II war es, welche ihn veranlasste, dem Koburger die Abolition zu erteilen: und wenn sich Ferdinand zu den Füßen des Zaren die Nase am Boden platt gerieben hätte, der Zar würde die Kränkungen, welche das kleine Bulgarien seinem Vater bereitet hat, nie verziehen haben, wenn es nicht im Interesse Russlands läge, mit Bulgarien Frieden zu schließen.

Im Gegensatz zu Bulgarien ist Griechenland der russischen Politik am wenigsten sympathisch, weil es von Russland am wenigsten abhängig ist. Schon die geografische Lage bedingt es, dass Russland keinen direkten Einfluss auf Griechenland ausüben kann. Griechenland ist ihm strategisch unzugänglich. Es müsste sämtliche Gebirgsketten der Balkanhalbinsel durchbrechen, Rumänien, Bulgarien und die Türkei durchschreiten, um nach Griechenland zu gelangen. Der Seeweg aber ist ihm verschlossen durch die Meerengen. Andererseits fehlen zwischen Griechenland und Russland jene nationalen Bande, welche diesem die Vormundschaft über die kleinen slavischen Nationen sichern.

Auch in der Geschichte Neu-Griechenlands spielte Russland eine maßgebende Rolle, doch nirgends hat es ein so heimtückisches Spiel geführt wie hier. Es hat unter den Griechen gewühlt und gehetzt, die geheimen Verschwörungen unterstützt, die Flüchtlinge ausgenommen, begünstigt, militärisch geschult, so lange er sich bloß um eine geheime Zersetzung der Türkei handelte. Als aber die Griechen sich zum ernsten Kampf für ihre Freiheit entschlossen hatten und Alexander Ypsilantis das Banner des Aufstandes erhoben hatte, – da nahm Russland nicht bloß seine schützende Hand weg, es wandte sich direkt dagegen, Alexander Ypsilantis, soeben erst von Alexander I. in hoher Gunst gehalten, wurde aus den russischen Armeelisten gestrichen und die Türkei erhielt die russische Erlaubnis, in die Donaufürstentümer, den Schauplatz des Aufstandes, einzurücken. Das hinderte jedoch die russische Regierung nicht, als später der griechische Verzweiflungskampf auf Morea die Türkei in ernste Verlegenheit brachte, die Situation zu einer Kriegsprovokation auszunutzen. Ein Raubzug gegen die Türkei war ja auch das einzige Ziel der russischen Griechenpolitik. In der Ausführung dieses Planes war aber Russland zunächst durch die europäischen Mächte gehindert. Erst unter diesen Verhältnissen sah sich Russland veranlasst, huldvollst eine Selbständigkeit Griechenlands in der Art vorzuschlagen, dass aus Griechenland drei besondere Vasallenstaaten der Türkei gemacht werden sollten! Man sieht, Russland ging von Anfang an darauf hinaus, der selbständigen Entwicklung Griechenlands die Wurzel zu untergraben. Als Metternich, um Russland in die Enge zu treiben, die Alternative stellte: entweder Unterwerfung oder Unabhängigkeit Griechenlands, antwortete Nesselrode, Russland könne niemals die Unabhängigkeit Griechenlands anerkennen. Die griechischen Freiheitskämpfe endeten bekanntlich mit der fast vollständigen Niederwerfung der Aufständischen, aber das zweite Resultat war die Zerrüttung und Erschöpfung der Türkei. Nunmehr hielt Russland den Augenblick für gekommen, erklärte der Türkei den Krieg und wurde dadurch zum unfreiwilligen „Befreier“ Griechenlands. Wie dann Griechenland von der europäischen Diplomatie zweiter fabriziert wurde, ist zwar sehr lehrreich, doch können wir uns darüber nicht verbreiten. Ein jämmerlicheres Produkt ist aus der diplomatischen Garküche noch nie herausgekommen. Man hat Griechenland die Kehle zugeschnürt und die Füße gebunden und erklärte ihm: „Du bist frei – lebe!“ Die ganze politische Geschichte des jetzigen Griechenlands ist ein Ringen nach Luft. [4] Nur die europäische Diplomatie ist an der jetzigen wirtschaftlichen und politischen Verelendung Griechenlands schuld, und wer dies aus den nationalen Eigenschaften der jetzigen Griechen ableitet, hat nicht nur kein Verständnis von den Triebfedern der Geschichte, sondern er hat nie eine politische Geschichte Neu-Griechenlands zu Gesicht bekommen. Dass die Griechen ihre politische Selbstständigkeit erlangt und nunmehr durch Dreivierteljahrhundert behalten haben, beweist, dass sie politisch lebensfähig sind, noch mehr aber, dass die Türkei schon längst es nicht mehr ist.

Vergegenwärtigt man sich diese geschichtlichen Tatsachen, so überrascht auch das jetzige Verhalten Russlands in der Kreta Frage nicht mehr. Aber Russland hat noch einen besonderen Grund, die Entwicklung Griechenlands zu hemmen, und das ist die Rivalität um Konstantinopel. Einmal kommt in Betracht, dass Griechenland das einzige Land ist, welches ein geschichtliches Anrecht auf den Besitz Konstantinopels hat. Noch mehr aber fällt ins Gewicht, dass Griechenland der einzige Staat auf der Halbinsel ist, der wirtschaftlich und politisch als präsumtiver Erbe Konstantinopels ernstlich in Erwägung gezogen werden kann. Die Griechen bilden den ausschlaggebenden Teil der unter der türkischen Herrschaft noch verbliebenen christlichen Bevölkerung. Sie bilden aber auch zugleich die wirtschaftlich dominierende Bevölkerung – Handel und Gewerbe sind in ihren Händen. In Konstantinopel selbst gab es nach der Zählung von 1885 auf 384.910 türkische Mohammedaner, 202.741 Griechen, worunter 50.000 Ausländer, d. h. Angehörige des griechischen Staates; die der Zahl nachfolgende Bevölkerungsschicht waren die christlichen Armenier mit 149.590, währenddem man Bulgaren bloß 4.377 zählte; die Gesamtzahl der Ausländer betrug 129.243: die Zahl der jüdischen Bevölkerung 44.361. Man ersieht daraus nicht nur, dass Konstantinopel keine türkische Stadt ist, sondern dass, wenn im Falle eines Krieges das türkische Heer nach den Grenzen des Reiches konzentriert, die Regierung durch erlittene Niederlagen geschwächt ist, die Griechen mit Unterstützung der Armenier es wohl wagen könnten, durch einen Aufstand sich in den Besitz der Stadt zu setzen. Doch hätte das selbstverständlich nur dann einen Sinn, wenn die Griechen in Konstantinopel einen Rückhalt in einem starken Griechenland außerhalb Konstantinopels fänden. Ein kräftiges Griechenland würde aber auch einen großen Einfluss ausüben auf das gesamte Europa zugekehrte Küste Kleinasiens, da auch hier die griechische Bevölkerung überwiegt und die Griechen den Handelsverkehr durchaus beherrschen. Man sieht, die Chancen Griechenlands für die Wiederherstellung seiner einstmaligen Beherrschung des Ägäischen und des Marmarameeres sind keineswegs gering. So ist es denn sehr begreiflich, dass Russland, besonders seitdem die Orientfrage auf die nackte Frage des Besitzes von Konstantinopel reduziert worden ist, sich der Machtentwicklung Griechenlands entgegensetzt.

Weniger ausgeprägt ist das Verhältnis Russlands zu Serbien und Montenegro. Das Verhalten Russlands Serbien gegenüber ist in hohem Grad bestimmt durch seine Beziehungen zu Bulgarien. Glaubt Russland in Bulgarien seines Einflusses sicher zu sein, so wird es nicht zaudern, ihm Serbien auszuliefern. Denn Serbien ist nach seiner Lage nicht nur strategisch, sondern auch handelspolitisch von Österreich abhängig. Eine Ausdehnung Montenegros würde wohl im Interesse Russlands sein, weil dieses dadurch ein neues Blatt im Spiel erhält, welches es gegen die zwei anderen slavischen Staaten, aber auch gegen Griechenland verwenden kann.

Der jetzige Zustand der politischen Zersplitterung der Balkanhalbinsel ist für Russland der günstigste. Kein Staat, der sich ihm, wollte es einen Feldzug gegen die Türkei unternehmen, ernstlich entgegenstellen könnte; kein Staat, der sich innerhalb seiner jetzigen Grenzen selbständig entwickeln könnte; kein Staat aber auch, der sie aus eigener Kraft erweitern könnte; alle im Streite gegen die Türkei und im Wettbewerb miteinander, – so verfallen sie denn einer nach und neben dem anderen immer wieder dem russischen Einfluss, weil sie nach einem kurzen Widerstand der Verzweiflung sich stets von neuem überzeugen müssen, dass ihre weitere Entwicklung von der Gunst Russlands abhängt. Das ist die jetzige Situation auf der Balkanhalbinsel, die zu bewahren die Freunde der „Integrität der Türkei“ mit solchem rührenden Eifer bestrebt sind. Wahrlich nichts Besseres könnte sich Russland wünschen, als wenn es gelingen sollte, diesen Zustand so lange aufrecht zu erhalten, bis das russische Heer auf den Wegen, welche ihm die russische Diplomatie gebahnt hat, nach Konstantinopel schreitet.

Da aber auch die russische Diplomatie bereits soweit in der marxistischen Auffassung der Geschichte fortgeschritten ist, dass sie nicht in ihren eigenen Intrigen die bewegenden Kräfte der Geschichte erblickt, so rüstet sie auch für den Fall, dass die Integrität der Türkei schneller in die Brüche geht, als es ihr genehm ist. Das Verhalten Russlands wird in diesen! Fall folgende Richtlinien aufweisen: Möglichste Zurücksetzung Griechenlands. Auf eine Gebietsausdehnung Griechenlands wird es mit der Forderung antworten, Makedonien an Bulgarien abzutreten. Durch die Erweiterung Bulgariens bis an das Ägäische Meer zerreißt es die festländische Verbindung zwischen Griechenland und Konstantinopel. Um Bulgarien für die Zukunft an der Leine zu behalten, wird es ihm als späteres Beutestück Serbien aufbewahren. Russlands weitere Forderung wird sein die Zuteilung von Albanien an Montenegro – zweites Gegengewicht zu Griechenland. Für sich selbst wird Russland Armenien ausbitten – wenn es sich noch nicht entschließt, in Konstantinopel einzumarschieren. Hält es aber den Moment für geeignet, seinen letzten Streich in der „Orientfrage“ zu führen, so wird es mehr Gunst auf Seite Griechenlands zeigen. Es befürchtet in ihm den späteren Rivalen, – darum ist die Politik diese: entweder seine Machtausdehnung für die Zukunft zu verhindern, oder denn mit seiner Hilfe sich jetzt schon in den Besitz Konstantinopels zu setzen, und dann hats nichts zu bedeuten, wenn deshalb Griechenland noch ein Lappen Landes versprochen oder auch wirklich abgetreten wird. In diesem letzten Fall des entschiedenen Vorgehens wird Russland die Türkei in einen Krieg mit Bulgarien und Griechenland und, wenn möglich, auch mit den anderen Staaten zu verwickeln suchen, es wird vor keinen Versprechungen an die einzelnen Staaten zurückschrecken, die Griechen und Armenier zu einem Aufstand in Konstantinopel aufreizen und diesen Augenblick dazu ausnutzen, um die Stadt zu okkupieren, nachdem es schon früher seine Truppen über den Balkan gebracht haben würde.

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Anmerkungen

3. Felix Bamberg, Geschichte der orientalischen Angelegenheit im Zeitraum des Pariser und Berliner Friedens, Berlin: G. Grote, 1892.

4. Ein Kapitel für sich ist die Geschichte der griechischen Schuld. Diese hatte die Zahlungsunfähigkeit zur Voraussetzung und war nackter Wucher von Anfang bis zu Ende.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025