Parvus

Die Orientfrage

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6. Die Konsolidierung der Balkanstaates


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 6. Die Konsolidierung der Balkanstaates, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 79, 6. April 1897.



Wenn man sich nicht mit ideologischer Phrasendrescherei begnügt, sondern Russland wirkliche politische Hindernisse in seinem Streben nach Konstantinopel, dessen Besitz Russland zum Herrscher Europas macht, entgegensetzen will, muss man an die gegenwärtigen Verhältnisse anknüpfen und nicht an den politischen Zustand Europas im vorigen Jahrhundert.

Gewiss, ein Groß-Polen wäre die beste Schutzmauer gegen Russland. Aber was ist jetzt Polen? Ein politisches Gespenst, kein politischer Faktor der Gegenwart. Die geschichtlichen Ergebnisse lassen sich nicht ignorieren. Polen war einst, es hat den Kampf geführt, den man ihm jetzt von neuem zuweisen möchte, und es unterlag in diesem Kampf und ging zu Grunde. Dieses Kapitel der politischen Geschichte Europas ist zu Ende. Die polnische Nation existiert und ist existenzfähig, der polnische Staat ist für immer vernichtet. [5] An Stelle des verschwundenen Polens sind aber neue politische Gestaltungen getreten. Wollte man jetzt ein großes Polen aufrichten – und kein Narr der Welt wird doch glauben, dass etwa ein neuer Warschauer Fürstentum Russland den Weg nach Konstantinopel versperren könnte –, so müsste man nicht Russland allein, sondern Deutschland und Österreich zertrümmern. Und ist es denn nicht klar, dass es unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwieriger ist, Russland auch nur das armseligste polnische Dörfchen zu entreißen, als es vor einem Eingriff in die Türkei zurückzuhalten? Nichtsdestoweniger hat man uns soeben erst wieder folgende Lösung der Orientfrage vorgeschlagen: „Kommt, wir wollen Polen befreien, um Konstantinopel zu verteidigen!“ Viviani, Barbato und ihre Freunde, die sich nach Griechenland einschifften, um unter der Führung eines Kronprinzen einen Freiheitskampf zu kämpfen, sind gewiss phantastisch angelegte Naturen, aber hinter dieser Romantik des Schattenreichs stehen sie weit zurück. Es ist ein schönes Bild, wenn im bleichen Lichte des Mondes über den Gräbern der polnischen Freiheitskämpfer eine weiße Gestalt mit wildwehendem Haar sich erhebt und ins Kriegshorn stößt – dennoch müssen wir als praktische Politiker bei der nüchternen Wirklichkeit bleiben, die keine Ritterromantik verträgt. Ein polnischer Aufstand wäre in diesem Augenblick ein ebenso tolles Beginnen wie etwa der Kampf mit Hellebarden gegen das moderne Infanteriegewehr.

Aber die Geschichte ist bereits nicht nur über Polen, sondern auch über die Türkei hinausgeschritten. Die Türkei, reduziert auf ein Paar Provinzen seines früheren Bestandes, kann Russland in Europa keinen Widerstand mehr leisten, seitdem es den Balkan verloren hat. Der Sozialismus, der allein die ganze Tragweite des russischen Vordringens im Orient abzuschätzen vermochte, focht bis zum letzten Augenblick für die Integrität der Türkei, – allein die Regierungen, untereinander uneinig, haben Europa verraten, und so gelang es Russland, 1878 die Türkei zu zertrümmern.

Die Frage der Integrität der Türkei war die Frage der einheitlichen politischen Gestaltung der Balkanhalbinsel. Wollen die jetzigen Verfechter der Integrität keine Wortspielerei treiben, sondern bei den politischen Begriffen bleiben, so müssten sie die Wiederherstellung der Türkei bis an die Donau fordern, was übrigens keine größere Utopie wäre, als die Wiederherstellung Polens. Dass selbst die enragierten Türkenfreunde diesen Vorschlag nicht wagen, zeigt, wie wenig Zutrauen sie selbst zu der von ihnen hochgepriesenen türkischen Kultur und vor allem zu der politischen Stärke und Entwicklungsfähigkeit der Türkei haben. Da sie aber dies nicht wagen, so gelangen sie dazu, dass sie unter dem Namen der „Integrität der Türkei“ einen Zustand verteidigen, den die früheren ernsten Kämpfer für die Integrität gerade vermeiden wollten: den Zustand der politischen Zersplitterung der Balkanhalbinsel.

Nicht um die Integrität der Türkei handelt es sich mehr, sondern um die Konsolidierung der Balkanstaaten. Das ist keine politische Spekulation, es ist eine geschichtliche Entwicklung. Die Staaten des Balkans sind nun einmal da und werden durch die einfachsten geschichtlichen Existenzbedingungen dazu getrieben, die verstümmelte Gestalt, welche ihnen die europäische Diplomatie gegeben hat, durch Gebietserweiterungen zurechtzumachen. Es ist ein politischer Faktor, mit dem man schon deshalb rechnen muss, weil dieses Streben die Balkanstaaten in die Arme Russlands wirft. Und da man die Türkei nicht mehr erweitern kann, so gibt es kein anderes Mittel, die Balkanhalbinsel aus dem Zustand der politischen Zersetzung heranzubringen, als indem man die christlichen Staaten entwickelt. Diese Lösung ist aber selbst ein Problem, das die größten Schwierigkeiten bietet.

Es gibt eine Möglichkeit, auf der Balkanhalbinsel einen einheitlichen bedeutenden Staat zu schaffen. Das ist die Vereinigung von Bulgarien und Serbien und die Erweiterung der Grenzen dieses Doppelstaats auf die noch unter türkischer Herrschaft verbliebene slavische Bevölkerung. Dieser Staat von etwa 8 Millionen Einwohnern würde nun zwei ausgesprochene Bestrebungen haben: die Einverleibung der Südslaven Österreichs und die Ausdehnung des Gebiets dem Süden zu längs der Küstenlinie des Ägäischen und Marmarameeres, inklusive Konstantinopel. Bringt ihn auch das zweite Bestreben in einen Gegensatz zu Russland, so verbindet ihn das erste mit ihm. Diese jedenfalls sehr gewagte Gründung eines balkanischen Polens würde aber zweifellos auf den äußersten Widerstand Österreichs stoßen.

Am einfachsten, weil hier das Verhältnis Russlands die geringsten Kombinationen aufweist, ist die Lösung der griechischen Frage. Aus Gründen, die wir bereits erörtert haben, muss das Gebiet Griechenlands bis über die Westküste Kleinasiens ausgedehnt werden. Was aber den Besitz auf der Balkanhalbinsel selbst anbetrifft, so liegt es im Interesse Griechenlands, Bulgarien nicht zum ägäischen Meer zuzulassen, weil es sonst ohne festländische Verbindung mit Konstantinopel bleibt. Die Rivalität zwischen Griechenland und Bulgarien um das Ägäische Meer und schließlich selbst um Konstantinopel wird desto schärfere Formen annehmen, je mehr die Machtsphäre jedes von beiden wachsen wird. Wieder ein Umstand, der Russland zugutekommt.

Wenn kein einheitlicher slavischer Staat geschaffen wird, so ist es eine unerlässliche Notwendigkeit, Serbien zu stärken. Serbien, wie es jetzt ist, hat keine wirtschaftliche und keine politische Existenzmöglichkeit. Es muss bis an das Adriatische Meer ausgedehnt werden – dann auch wird es erst ein wichtiges Gegengewicht zu Bulgarien bilden. Andererseits ist jede Gebietserweiterung Bulgariens eine Gefahr für Serbien. So begegnen wir auch hier wiederum einem Interessengegensatz, der nur durch die Vereinigung beider Staaten beseitigt werden könnte. Dass eine Vergrößerung Serbiens den österreichischen Besitz Bosniens gefährdet, ist nicht minder klar. Schließlich, da eine Gebietserweiterung Montenegros nur weitere Konflikte zwischen den drei slavischen Staaten nach sich ziehen würde, weshalb dies auch von Russland begünstigt wird, so könnten sich die Montenegriner sehr gut auch fernerhin mit dem von ihnen so lange erstrebten, aber nun endlich 1879 erworbenen Zugang zum Meere begnügen.

Wenn aber auch in dieser Weise die Aufteilung der Türkei vor sich geht, so bleibt noch immer die Frage des Besitzes von Konstantinopel ungelöst. In diesem Augenblick gibt es keinen Staat auf der Balkanhalbinsel, der im Stand wäre, Konstantinopel zu schützen. Ob man nun für oder wider die Integrität der Türkei, respektive die Konsolidierung der Balkanstaaten eintritt, um diesen Punkt, in dem das Schwergewicht der Ganzen liegt, kommt man nicht herum. Konstantinopel ist Russland ausgeliefert, wenn nicht Europa selbst Vorkehrungen trifft, um Konstantinopel zu verteidigen. Und das zeigt, dass man die diplomatische Lösung der Orientfrage auf anderem Gebiet suchen muss!

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Anmerkung

5. Auch die soziale Revolution wird Polen nicht wiederherstellen. Ihre erste Aufgabe, wenn nicht ihre Vorbedingung, wird die Vereinigung Europas sein, nicht die Aufstellung neuer Staatsschranken. Der Sozialismus wird aber überhaupt den „Staat“ vernichten und eine politische Form schaffen, welche frei genug sein wird, um allen Nationen die Möglichkeit der Entwicklung zu gewähren, aber gerade deshalb dem heutigen Staat ebenso wenig ähneln wird, wie die sozialistische Eigentumsform dem Privateigentum. Das Polen des Adels ist verloren, ein Polen der Bourgeoisie wird nie entstehen, wer aber, statt dieser, dass Polen des Sozialismus unterschiebt, täuscht sich und die anderen durch die Gleichheit der Namen, der Worte über den Unterschied der Dinge, der Begriffe.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025