Parvus

Die Orientfrage

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7. Die diplomatische Lösung der Orientfrage


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 7. Die diplomatische Lösung der Orientfrage, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 80, 7. April 1897.



Die Großmächte Europas. haben in diesem Jahrhundert schon oft, ja stets, wenn die Orientfrage wieder einmal aktuell wurde, die Erklärung abgegeben, sie würden eine Besitzergreifung Konstantinopels durch Russland nicht dulden. Die bloße Erklärung genügt aber diesmal nicht mehr. Die Situation ist so, dass Russland im Falle eines Krieges Konstantinopel okkupieren kann, noch bevor die Großmächte in den Stand kommen, es daran verhindern zu können. Wenn Russland wie 1878 mit den Donaustaaten einen Durchgangsvertrag abschließt, so bringt es binnen weniger Tage seine Armee vor die Tore Konstantinopels! Und wenn selbst Rumänien sich mit Erfolg widersetzt, so schifft Russland seine Soldaten in Odessa, Sebastopol, Novorossiysk ein und bringt sie binnen 24–36 Stunden nach Burgas und die anderen Häfen Ostrumeliens, von wo es auf den besten Straßen in kurzen Tagesmärschen Konstantinopel erreicht. Nicht der Widerstand der türkischen Armee, sondern der Balkan war schon 1878 das stärkste Hindernis für Russland auf dem Wege nach Konstantinopel. In dem Moment, wo es das Gros seiner Armee über den Balkan, also nach Ostrumelien brachte, war auch das Schicksal des Krieges entschieden. Diesmal aber würde nach unserer Voraussetzung die russische Armee ohne Hindernisse den Balkan passieren, oder sie würde den Balkan auf dem Seewege umgehen, oder beides zusammen, sie würde frisch und vollzählig vor Adrianopel erscheinen, währenddem das türkische Heer jetzt schwächer ist, denn je. Die Besitzergreifung Konstantinopels bietet jetzt Russland keine großen Schwierigkeiten, im Gegenteil gerade diese Besitzergreifung wird seine strategische Position ungern ein verstärken, und so wird es vor allem Konstantinopel okkupieren, um diesen Besitz dann desto Achter verteidigen zu können. Denn durch die Okkupation Konstantinopels sichert Russland, wie wir schon früher ausgeführt, seine südrussischen Grenzen und macht sich für England vollkommen unerreichbar. Die russische Küste des Baltischen Meeres war schon 1856 unzugänglich. In Asien ist Russland unangreifbar. So bleibt, wenn Konstantinopel in russischen Händen, von der ganzen ungeheuren Grenzen Ausdehnung dieses Reiches, nur die kurze Linie der Westgrenze mit Deutschland und Österreich den feindlichen Angriffen offen. Vorausgesetzt selbst, dass Deutschland mit Russland im offenen Krieg liegt, so wird doch die deutsche Armee durch den in diesem Falle äußerst wahrscheinlichen Krieg mit Frankreich zu sehr in Anspruch genommen werden, als dass Deutschland nach der russischen Grenze hin einen Angriffskrieg wagen könnte. Bleibt also für Russland als einziger Gegner – Österreich! Man hat 1879 Russland wohl zurückgehalten, aber man hat seither nichts getan, um die von ihm damals eroberte strategische Position zu verändern, man, ist bei dem Zustand verharrt, wie er sich nach der Einnahme von Adrianopel durch die Russen herausgebildet hat, und das war der Zustand – des Vertrages von St. Stefano! Die Situation ist jetzt so, dass, wer zuerst Konstantinopel ergreift – Europa oder Russland –, der behält es auch. So ist es denn die nächste Aufgabe der europäischen Mächte, Konstantinopel zu okkupieren. Dann würden sie vor allem für dessen Befestigung sorgen, um diesen Schlüsselpunkt des Schwarzen Meeres wenigstens so lange widerstandsfähig zu machen, bis die vereinigten Armeen auf der Halbinsel landen.

Aber auch die Okkupation Konstantinopels genügt allein nicht mehr. Noch eine zweite Maßregel des Schutzes gegen Russland muss unaufschiebbar ergriffen werden, und das ist eine zollpolitische und militärische Union zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien. Es handelt sich nicht darum, dass Rumänien seine politische Selbständigkeit aufgibt – es braucht es ebenso wenig, wie Ungarn; die Rumänen könnten sogar, wenn sie ihren Spaß daran haben, ihre nationalen Hohenzollern auch für die Zukunft behalten – aber die Union würde an Stelle des schwachen Rumäniens an die russische Grenze und den wichtigsten Lauf der Donau einen Großstaat setzen. Der Wegfall der Zollschranken würde diese Länder wirtschaftlich zusammenhalten, die militärische Union würde eine ausgedehntere Befestigung Rumäniens durchführen, eine einheitliche Heeresorganisation schaffen und im Kriegsfalle von vornherein Russland eine große Armee entgegensetzen. Wie es ist, war Rumänien schon 1878 Russland gegenüber machtlos, jetzt aber wäre es im Falle eines Bündnisses zwischen Russland und Bulgarien, wenn Rumänien von zwei Seiten angegriffen werden kann, geradezu Wahnwitz, wollte es sich Russland widersetzen. Bernstein meinte neulich in der Neuen Zeit, Rumänien, das selbst schwach ist, könnte ja im Kriegsfalle Verbündete finden. [6] Allein, schon abgesehen davon, dass die Erfahrung von 1878 das Gegenteil beweist, so kommt doch praktisch, um einen russischen Einfall in Rumänien abzuwehren, nur ein Staat in Betracht, und das ist Österreich. Wir sind wahrlich keine Freunde des habsburgischen Österreichs, aber es handelt sich auch gar nicht darum, irgendwelche politische Tugenden Österreichs zu belohnen, sondern darum, wie man Russland entgegentritt, und da ist die Union, die Österreichs Heer an die Donaumündungen und Österreichs Kriegsflotte in das Schwarze Meer bringt, die aus langer Hand militärische respektive strategische Vorbereitungen trifft, doch ein ganz anderes Ding, als die Eventualität eines gelegentlichen Bündnisses, die vielleicht doch fehlschlägt. Für Rumänien selbst ist die Frage einer Union mit Österreich geradezu eine Existenzfrage. Denn aller Voraussicht nach wird das nächste Bestreben Russlands nach der Annexion von Konstantinopel dies sein, seine Westgrenze bis an die Karpaten auszudehnen, d. h. Rumänien und Galizien sich einzuverleiben. Die geschichtlichen Erfahrungen Rumäniens lassen darüber keinen Zweifel, welche Absichten Russland in dieser Beziehung hegt.

Die Ausdehnung der Machtsphäre Österreichs bis an die Donaumündungen würde ihm auch einen viel größeren Einfluss auf Bulgarien und Serbien sichern, und so würde man auch hier den russischen Intrigen mit mehr Erfolg entgegentreten können.

Wenn nun Konstantinopel von den Großmächten, unter Ausschluss der direkten Interessenten, also Russlands und der Türkei, okkupiert, Österreich-Ungarn mit Rumänien vereinigt, Griechenland bis an die Küste Kleinasiens ausgedehnt wird, dann erst hätte die Errichtung eines unabhängigen Armeniens Aussichten auf einen dauernden Fortbestand.

Dies ist für diesen Augenblick die einzig denkbare diplomatische Lösung der Orientfrage, wenn man nicht Konstantinopel an Russland ausliefern will – also eine Lösung, wie sie durch politische Verträge unter den gegenwärtigen Staaten herbeigeführt werden könnte. In der Konsolidierung der Balkanstaaten sehen wir daneben bloß eine aus der geschichtlich gewordenen Entwicklung sich ergebende Notwendigkeit. Wollte man sich dem widersetzen, so würde man dadurch nur desto mehr die Geschäfte Russlands besorgen. Allein auf jeden Fall werden aus diesem Wachstum der Balkanstaaten noch die größten Schwierigkeiten entstehen. Denn es ist klar, dass es auch bei dem von uns skizzierten Schema der politischen Gliederung der Balkanhalbinsel nicht auf die Dauer verbleiben kann. Eine Vereinigung der slavischen Staaten des Balkans wird zweifellos mit der Zeit stattfinden, dann wird Österreich sein Bosnien, Dalmatien etc. verlieren, und das bedeutet den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, wenn nicht zuvor eine derartige politische Umgestaltung Österreichs stattfindet, die ein einheitliches Zusammenwirken der verschiedenen nationalen Elemente dieses Reichs ermöglicht. Die erste Voraussetzung dafür ist das allgemeine gleiche Wahlrecht. Von der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts hängt jetzt die politische Existenz Österreichs ab – wie vor noch nicht vielen Jahren davon die Einigung Deutschlands abhing!

Ist aber die von uns vorgeschlagene Lösung unter den gegebenen Verhältnissen möglich? Kein Zweifel, dass sie nur im schroffsten Gegensatz zu Russland durchgeführt werden kann. Das kennzeichnet die Situation. Was vor einem Jahrhundert die Regierungen verbrochen, was sie 1848 mit Blut und Feuer niedergedrückt, was sie 1856 versäumt haben, was Preußen 1866 und 1870 gesündigt, was Russland 1878 geschaffen und Europa 1879 unterlassen hat, – das alles lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Die geschichtliche Nemesis tut ihre Arbeit – die Folgen stellen sich mit unerbittlicher Notwendigkeit ein. Und so ist das Ergebnis der politischen Entwicklung dieses Jahrhunderts, dass die Orientfrage nicht anders mehr gelöst werden kann, als durch eine direkte Auseinandersetzung zwischen Europa und Russland. Soweit sind wir – kein Vertuschen, kein Palliativmittelchen hilft mehr!

Doch nur ein vereinigtes Europa kann Russland mit Erfolg entgegentreten. Die Einigung Europas ist aber nur möglich auf Grundlage einer weitgehenden Demokratie. Und die Demokratie führt zur Sozialdemokratie, d. h. zur sozialen Revolution. Darum schrickt die kapitalistische Bourgeoisie vor der Demokratie zurück und hindert folglich die Einigung. Dazu kommen noch die Konkurrenzkonflikte des Weltmarktes.

Wenn sich aber Europa nicht einigt, dann ist zweifellos Russland Herr der Situation. Dann wird es Konstantinopel annektieren, – und ist Russland einmal im Besitz dieses strategischen Punktes, wie soll es dann an der weiteren Ausdehnung seiner Grenzen gehindert werden? Es wird in Europa zunächst Rumänien verschlingen und Österreich Galizien entreißen, zu gleicher Zeit wird es die Lostrennung der süd-slavischen Gebietsteile Österreichs betreiben. Erscheint Russland in Konstantinopel, so tritt Österreich an Stelle der Türkei. Das hat Karl Marx schon 1878 vorhergesagt. Diese Aussicht mag manchem Groß-Deutschen sehr sympathisch erscheinen, – wie verhängnisvoll aber die geschilderte Machtausdehnung Russlands für ganz Europa wäre, braucht nicht mit vielen Worten auseinandergesetzt zu werden. Russland würde nicht nur den politischen Kommandostab über Europa führen, es würde auch den gesamten Handel Asiens für sich monopolisieren. Man weiß jetzt allgemein, welche große Gefahr für den europäischen Handelsverkehr mit Asien allein die transsibirische Eisenbahn darstellt. Wie aber, wenn Russland noch im Besitz Konstantinopels ist, des besten Hafens der Welt und zugleich des nächsten europäischen Zugangspunktes zum Indischen Ozean? Wenn es von Konstantinopel und den Südhäfen des Schwarzen Meeres aus sich Kleinasien erschließt?! Indessen wendet sich jetzt, nachdem in den Vereinigten Staaten sich eine eigene Industrie entwickelt hat, die Aufmerksamkeit ganz Europas Ostasien zu, und nun soll ihm auch dieses Gebiet mit der politischen Machtentfaltung Russlands desto schneller genommen werden. Also politische Knechtung und wirtschaftlicher Zusammenbruch des kapitalistischen Europas. Dann bleibt als einzige Rettung – die soziale Revolution, welche Europa einigen und wirtschaftlich wiederherstellen wird.

Dies ist das Dilemma, zu welchem die Lösung der Orientfrage führt: entweder durch Einigung Europas zur sozialen Revolution, oder durch die soziale Revolution zur Einigung Europas. Der erste Weg ist der langsame und friedliche, der zweite – der rasche und stürmische. Wie die Dinge liegen, müsste man eher annehmen, dass die Regierungen den zweiten Weg beschreiten werden. Je rascher sie aber dadurch sich der sozialen Revolution nähern werden, desto geängstigter werden sie sich in die Arme Russlands weisen, um vom Zarentum um den Preis der politischen Selbständigkeit, des wirtschaftlichen Gedeihens Europas Schutz gegen das arbeitende Volk zu erflehen. Dann wird – und das dauert in diesem Fall nicht mehr lange – eine Zeit des erhitzten, verzweifelten Kampfes und des politischen Gedränges eintreten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat – auch nicht während der großen französischen bürgerlichen Revolution.

Der aufmerksame Leser unserer Artikelreihe wird wohl die Überzeugung hoben, dass wir diese Lösung nicht gesucht haben. Wir suchten eifrig nach einer praktischen Lösung der Orientfrage auf Grundlage der bestehenden Gesellschaftsordnung, nur hoben wir den Versuch gemacht, soweit es in einer Zeitung möglich, die Orientfrage in ihren allgemeinen geschichtlichen und politischen Zusammenhängen zusammenzufassen, und das Ergebnis stellte sich von selbst ein. Denn das liegt im Wesen der Zeitgeschichte, dass alles in seinem letzten Grunde aus den proletarisch-kapitalistischen Klassenkampf zurückführt!

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Anmerkung

6. Eduard Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, Die neue Zeit, 15. Jg, 1. Bd. (Oktober 1896), H. 4, S. 108–116.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025