John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten


XI. Festigung der Macht [1*]

„Deklaration der Rechte der Völker Rußlands [2*]

... der Erste Sowjetkongreß (hat) im Juni dieses Jahres das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung verkündet.

Der Zweite Sowjetkongreß im Oktober dieses Jahres hat dieses unveräußerliche Recht der Völker Rußlands mit größerer Entschiedenheit und Bestimmtheit bestätigt.

In Ausführung des Willens dieser Kongresse hat der Rat der Volkskommissare beschlossen, seiner Tätigkeit in der Frage der Nationalitäten Rußlands folgende Prinzipien zugrunde zu legen.

  1. Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands.
     
  2. Das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Lostrennung und Bildung eines selbstständigen Staates.
     
  3. Abschaffung aller und jeglicher nationalen und national-religiösen Privilegien und Beschränkungen.
     
  4. Freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnographischen Gruppen, die das Territorium Rußlands bevölkern.

Die sich daraus ergebenden konkreten Dekrete werden sofort nach der Bildung der Kommission für Angelegenheiten der Nationalitäten ausgearbeitet werden.

Im Namen der Republik Rußland
Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare
W. Uljanow (Lenin)

Der Volkskommissar für Angelegenheiten der Nationalitäten
Josef Dshugaschwili-Stalin.“

Die Zentralrada in Kiew erklärte sofort die Ukraine zur unabhängigen Republik. Das gleiche tat die Regierung von Finnland durch das Parlament von Helsingfors. Unabhängige Regierungen bildeten sich in Sibirien und im Kaukasus. Das polnische zentrale Militärkomitee raffte mit großer Schnelligkeit die polnischen Truppen innerhalb der russischen Armee zusammen, beseitigte deren Komitees und schuf eine eiserne Disziplin.

Alle diese „Regierungen“ und „Bewegungen“ hatten zweierlei gemeinsam: Sie standen unter Leitung der besitzenden Klassen und fürchteten und verabscheuten den Bolschewismus.

Inmitten des Chaos aber hämmerte der Rat der Volkskommissare unentwegt an dem Gerüst der sozialistischen Ordnung, erließ Dekret um Dekret: über die Sozialversicherung, über die Arbeiterkontrolle, über die Beseitigung des alten Gerichtswesens und die Errichtung von Volkstribunalen, Anweisungen für die Wolost-(Amtsbezirks-)Bodenkomitees ... [3*]

Armee auf Armee, Flotte auf Flotte entsandten Deputationen, die jubelnd die neue Volksregierung begrüßten.

Vor dem Smolny sah ich eines Tages ein eben aus den Schützengräben zurückgekehrtes, völlig abgerissenes Regiment. Die Soldaten waren vor dem großen Tor aufmarschiert, mit mageren, grauen Gesichtern, zu dem Gebäude emporschauend, als ob der Herrgott selber darin wohne. Einige zeigten lachend auf die kaiserlichen Adler über dem Tor. Währenddem kamen Rotgardisten, um die Wache zu beziehen. Die Soldaten wandten sich um, neugierig, als hätten sie von ihnen gehört, sie aber nie gesehen. Sie lachten gutmütig und drängten sich aus der Reihe, um den Rotgardisten mit halb spaßhaften, halb bewundernden Zurufen auf die Schulter zu klopfen.

Die Provisorische Regierung hatte aufgehört zu bestehen. Schon seit dem 15. November beteten die Priester in den Kirchen der Hauptstadt nicht mehr für sie. Aber wie Lenin im Zentralexekutivkomitee selbst sagte, war das erst der Beginn zur Eroberung der Macht. Der militärischen Waffen beraubt, begann die Opposition, die noch das ökonomische Leben des Landes beherrschte, mit all dem russischen Talent zur Massenaktion in aller Ruhe die Desorganisation zu organisieren – um den Sowjets Hindernisse in den Weg zu legen, sie zu sabotieren und zu diskreditieren.

Der Streik der Regierungsbeamten war glänzend organisiert und von den Banken und Handelshäusern finanziert. Jede Handlung der Bolschewiki zur Übernahme des Regierungsapparates stieß auf Widerstand.

Trotzki ging ins Außenministerium; die Beamten weigerten sich, ihn anzuerkennen. Sie schlossen sich ein, und als die Türen gewaltsam geöffnet wurden, legten sie ihre Posten nieder. Trotzki verlangte die Schlüssel zu den Archiven, und erst als Arbeiter herbeigeholt wurden, um die Schlösser mit Gewalt zu öffnen, wurden sie ihm ausgehändigt. Dann stellte man fest, daß Neratow, der ehemalige stellvertretende Außenminister, mit den Geheimabkommen verschwunden war.

Schljapnikow versuchte, das Ministerium für Arbeit zu übernehmen. Es war bitter kalt, und niemand kam, die Öfen zu heizen. Nicht einer von hundert Abgestellten wollte ihm das Büro des Ministers zeigen.

Alexandra Kollontai, am 13. November zur Volkskommissarin für soziale Fürsorge ernannt – es war dies der Geschäftsbereich für Armenpflege und öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen –, wurde mit einem Streik aller Beamten des Ministeriums empfangen; nur vierzig Beamte erklärte sich zur Arbeit bereit. Die unmittelbare Folge war, daß die Armen der großen Städte und die Insassen der verschiedensten Institutionen der größten Not ausgesetzt waren. Zahllose Delegationen verhungernder Krüppel und Waisen, mit blauen mageren Gesichtern, umlagerten das Gebäude. Mit tränennassem Gesicht ordnete Kollontai die Verhaftung der Streikenden an, bis die Schlüssel des Büros und des Tresors ausgeliefert würden. Als sie die Schlüssel erhielt, stellte sich heraus, daß die bisherige Leiterin des Geschäftsbereichs, die Gräfin Panina, den Fonds mit sich genommen hatte und die Herausgabe verweigerte, bis ein entsprechender Befehl der Konstituierenden Versammlung vorliegen würde. [4*]

Ähnliches spielte sich in den Ministerien für Landwirtschaft, für Ernährung und im Finanzministerium ab. Die Angestellten, aufgefordert, auf ihre Posten zurückzukehren, da sie sonst ihre Stellungen und Pensionsansprüche verlieren würden, blieben entweder weg oder kamen nur, um – zu sabotieren. Infolge der antibolschewistischen Einstellung fast der gesamten Intelligenz war die Sowjetregierung außerstande, schnell einen neuen Beamtenstab zu rekrutieren.

Die Privatbanken blieben hartnäckig geschlossen; nur eine Hintertür hielte sie geöffnet für – Spekulanten. Wenn die bolschewistischen Kommissare kamen, verließen die Angestellten ihre Büros, versteckten die Bücher und trugen das Geld davon. Sämtliche Angestellte der Staatsbank streikten, mit Ausnahme der Beamten, die die Tresore verwalteten, und der Notendruckereien. Alle Geldforderungen des Smolny lehnten sie ab, aber im Geheimen zahlten sie riesige Summen an das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und an die Staatsduma aus.

Zweimal war ein Kommissar mit einer Kompanie Rotgardisten erschienen, um die Auslieferung bedeutender Summen zur Deckung der Regierungskosten zu erzwingen. Das erstemal waren Mitglieder der Stadtduma und menschewistische und sozialrevolutionäre Führer in imponierender Zahl zugegen. Diese sprachen so eindringlich über die Folgen solcher Eingriffe in das Bankeigentum, daß der Kommissar sich einschüchtern ließ. Das zweitemal kam er mit einer Vollmacht, die er in feierlicher Form verlas. Aber darauf aufmerksam gemacht, daß die Vollmacht weder Datum noch Siegel trug, ließ der traditionelle russische Respekt gegenüber Dokumenten ihn noch einmal unverrichtetersache abziehen.

Die Beamten des Kreditamtes vernichteten ihre Bücher, so daß alle Urkunden über die finanziellen Beziehungen Rußlands zum Auslande verloren waren.

Die Ernährungsämter und die Verwaltungen der städtischen Einrichtungen arbeiteten entweder gar nicht oder trieben Sabotage. Und wenn die Bolschewiki, gezwungen durch die verzweifelte Notlage der städtischen Bevölkerung, helfend einzugreifen oder die städtischen Einrichtungen zu kontrollieren versuchten, traten die Angestellten in den Streik und die Duma überflutete Rußland mit Telegrammen, wonach die Bolschewiki die Autonomie der städtischen Selbstverwaltung verletzen würden.

In den Militär-Hauptquartieren und in den Büros der Kriegs- und Marineministerien, wo die alten Beamten sich bereit erklärt hatten, auf ihren Posten zu verbleiben, blockierten die Armeekomitees und das Oberkommando die Sowjets, wo sie nur konnten, und gingen so weit, die Truppen an der Front zu vernachlässigen. Der Wikshel verhielt sich feindlich und verweigerte den Transport von Sowjettruppen. Jeder Truppentransport aus Petrograd hinaus mußte erzwungen werden. Häufig mußte man einige Eisenbahnbeamte verhaften – und schon drohte der Wikshel mit dem Generalstreik, wenn sie nicht freigelassen würden.

Der Smolny schien völlig machtlos. Die Zeitungen erzählten, daß in Petrograd sämtliche Fabriken in drei Wochen ihre Tore schließen müßten, weil sie keinen Brennstoff hätten. In Petrograd waren nur noch für drei Tage Lebensmittel, neue kamen nicht herein, und an der Front hungerte die Armee. Der Wikshel gab bekannt, daß der gesamte Zugverkehr ab 1. Dezember eingestellt werden würde. Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes, die diversen Zentralkomitees überfluteten das Land mit Telegrammen, die die Bevölkerung aufforderten, die Dekrete der Regierung nicht zu beachten. Die Gesandtschaften der Alliierten verhielten sich entweder gleichgültig oder offen feindselig.

Die oppositionellen Zeitungen, heute verboten und morgen unter neuem Namen wieder auftauchend, überschütteten das neue Regime mit ihrem Sarkasmus. [5*] Sogar Nowaja Shisn charakterisierte es als „ein Gemisch von Demagogie und Machtlosigkeit“.

„Von Tag zu Tag“, schrieb sie, „sinkt die Regierung der Volkskommissare tiefer in den Sumpf der oberflächlichen Übereiltheit. Nachdem sie die Macht mit Leichtigkeit errungen haben ..., wissen die Bolschewiki jetzt nicht, was sie damit anfangen sollen.

Sie haben nicht die Macht, den bestehenden Regierungsapparat zu lenken, können aber ebensowenig einen neuen schaffen, der nach den Theorien der experimentellen Sozialisten leicht und reibungslos arbeiten müßte.

Noch vor kurzem hatten die Bolschewiki nicht genug Leute, um ihre wachsende Partei zu leiten – eine Arbeit, die noch mehr oder weniger nur Menschen erfordert, die reden und schreiben können. Wie sollen sie also geschulte Menschen finden, die die verschiedenen und komplizierten Regierungsfunktionen ausüben können?

Die neue Regierung handelt und droht, sie überschwemmt das Land mit Dekreten, eines radikaler und ,sozialistischer‘ als das andere. Aber in diesem zur Schau gestellten Papiersozialismus – der eher dazu taugen mag, unsere Nachkommen in Erstaunen zu versetzen – sieht man weder den Wunsch noch die Fähigkeit, die unmittelbaren Tagesfragen zu lösen!“

Mittlerweile tagte Tag und Nacht die „Konferenz des Eisenbahnerkomitees für die Bildung einer neuen Regierung“. Man war bereits zu einer grundsätzlichen Verständigung über die Basis der neuen Regierung gelangt und diskutierte die Zusammensetzung des „Volksrates“. Man einigte sich auf ein Kabinett mit Tschernow als Ministerpräsident. Die Bolschewiki sollten mit einer starken Mehrheit vertreten, Lenin und Trotzki aber ausgeschlossen sein. Die Zentralkomitees der Menschewiki und Sozialrevolutionäre und das Exekutivkomitee der Bauernsowjets erklärten, daß sie sich „im Interesse der Beendigung des Brudermordes“ dem Eintritt der Bolschewiki in den Volksrat nicht widersetzen würden, wenn sie auch die „verbrecherische Politik“ der Bolschewiki nach wie vor ablehnten.

Die Flucht Kerenskis und die erfolge der Sowjets im ganzen Land änderten jedoch die Situation. Am 16. November forderten in einer Sitzung des Zentralexekutivkomitees die linken Sozialrevolutionäre von den Bolschewiki die Bildung einer Koalitionsregierung mit den anderen sozialistischen Parteien und drohten für den Fall der Weigerung mit ihrem Ausscheiden aus dem Revolutionären Militärkomitee und dem Zentralexekutivkomitee. Malkin erklärte:

„Die Nachrichten aus Moskau, wo unsere Genossen auf beiden Seiten der Barrikaden ihr Leben opfern, veranlassen uns, erneut die Frage der Organisierung der Macht aufzuwerfen. Das ist nicht nur unser Recht, es ist unsere Pflicht ... Wir haben uns das Recht erworben, hier im Smolny mit den Bolschewiki zu sitzen und von dieser Tribüne zu reden. Nach dem heftigen inneren Parteikampf werden wir gezwungen sein, wenn sie die Verständigung ablehnen, zum offenen Kampfe außerhalb des Smolny überzugehen ... Wir müssen der Demokratie ein annehmbares Kompromiß vorschlagen ...“

Die Bolschewiki zogen sich zurück, um zu dem Ultimatum Stellung zu nehmen. Sie kehrten mit der folgenden, von Kamenew zur Verlesung gebrachten Resolution zurück:

„Das Zentralexekutivkomitee ist der Meinung, daß in die Regierung Vertreter aller sozialistischen Parteien eintreten müssen, die in den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten vertreten sind und die Errungenschaften der Revolution vom 7. November anerkennen, das heißt die Sowjetmacht, die Land- und Friedensdekrete, die Dekrete über die Industriekontrolle durch die Arbeiter und die Bewaffnung der Arbeiter. Das Zentralexekutivkomitee beschließt daher, allen an den Sowjets beteiligten Parteien Verhandlungen über die Konstituierung der Regierung vorzuschlagen, und besteht auf folgenden Bedingungen als Grundlage:

Die Regierung ist dem Zentralexekutivkomitee verantwortlich. Das Zentralexekutivkomitee wird auf 150 Mitglieder erweitert. Zu diesen sollen kommen: 75 Delegierte der Gouvernementssowjets der Bauerndeputierten, 80 Delegierte der Frontorganisationen der Armee und Flotte, 40 Delegierte der Gewerkschaften (25 von den verschiedenen Gesamtrussischen Verbänden, 10 vom Hauptvorstand des Gesamtrussischen Eisenbahnerverbandes, 5 von den Post- und Telegrafenarbeitern) und endlich 50 Delegierte der sozialistischen Gruppen in der Petrograder Stadtduma. Im Kabinett selbst sind mindestens die Hälfte der Portefeuilles den Bolschewiki zu reservieren, darunter die Ministerien der Arbeit, des Inneren und des Auswärtigen. Das Kommando der Petrograder und Moskauer Garnisonen muß in den Händen von Delegierten der Petrograder und Moskauer Sowjets bleiben.

Die Regierung führt die systematische Bewaffnung aller Arbeiter Rußlands durch. Die Kandidatur der Genossen Lenin und Trotzki ist aufrechtzuerhalten.“

Kamenew begründete die Resolution:

„Der von der Konferenz vorgeschlagene sogenannte Volksrat würde aus etwa 420 Mitgliedern bestehen, von denen 150 Bolschewiki wären. Außerdem sollen ihm Delegierte aus dem konterrevolutionären Zentralexekutivkomitee angehören, 100 von den Stadtdumas auserwählte Mitglieder, durchweg Kornilowleute, weitere 100 Delegierte aus den Bauernsowjets, von Awxentjew ernannt, und endlich 80 Delegierte der alten Armeekomitees, die längst aufgehört haben, die Soldatenmassen zu vertreten.

Wir lehnen es ab, das alte Zentralexekutivkomitee zuzulassen, wir lehnen auch die Vertreter der Stadtdumas ab. Die Delegierten der Bauernsowjets müssen von dem durch uns einberufenen Bauernkongreß, der sich gleichzeitig ein neues Exekutivkomitee geben wird, gewählt werden. Der Vorschlag, Lenin und Trotzki auszuschließen, bezweckt nur, unsere Partei ihres Kopfes zu berauben; wir lehnen ihn ab. Endlich müssen wir sagen, daß wir die Notwendigkeit dieses Volksrates nicht einsehen; die Sowjets stehen allen sozialistischen Parteien offen, und in dem Zentralexekutivkomitee sind sie entsprechend ihrer wirklichen zahlenmäßigen Stärke unter den Massen vertreten ...“

Für die linken Sozialrevolutionäre erklärte Karelin, daß seine Partei für die Resolution der Bolschewiki stimmen würde, sich jedoch das Recht der Modifizierung gewisser Einzelheiten vorbehalte, wie beispielsweise den Passus über die Vertretung der Bauern; endlich, daß das Landwirtschaftsministerium den linken Sozialrevolutionären reserviert bleiben müsse. Dem wurde zugestimmt.

Später wurde auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets eine hinsichtlich der Bildung einer neuen Regierung gestellte Anfrage von Trotzki wie folgt beantwortet:

„Ich weiß hierüber gar nichts. Ich bin an den Verhandlungen nicht beteiligt. Ich glaube aber nicht, daß ihnen große Bedeutung beizumessen ist.“

In der Konferenz herrschte in dieser Nacht große Aufregung. Die Delegierten der Stadtduma erklärten ihren Austritt ...

Aber im Smolny selber, in den Reihern der bolschewistischen Partei, begann eine äußerst heftige Opposition gegen die Politik Lenins heranzuwachsen. In der Nacht des 17. November war der große Saal gedrängt voll. Das Zentralexekutivkomitee sollte zusammentreten. Die Stimmung war gespannt.

Der Bolschewik Larin erklärte, daß es angesichts der heranrückenden Wahlen zur Konstituierenden Versammlung an der Zeit sei, auf „politischen Terror“ zu verzichten.

„Die gegen die Freiheit der Presse ergriffenen Maßnahmen müssen abgeändert werden. Sie haben ihre Existenzberechtigung gehabt, solange der Kampf währte; jetzt sind sie aber nicht mehr zu verteidigen. Die Presse muß frei sein. Zu rechtfertigen wären nur Repressalien gegen die Blätter, die zum Aufruhr und Sturz der Regierung auffordern.“

Er schlug folgende Resolution vor:

„Das Dekret des Rates der Volkskommissare, die Presse betreffend, ist hiermit aufgehoben. Politische Repressionsmaßnahmen können nur auf Beschluß eines Spezialtribunals zur Anwendung kommen, das vom Zentralexekutivkomitee unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses aller im Zentralexekutivkomitee vertretenen Parteien gewählt wird. Dieses Tribunal soll das Recht haben, bereits durchgeführte Repressionsmaßnahmen erneuter Prüfung zu unterziehen.“

Die Verlesung der Resolution rief stürmischen Beifall nicht nur bei den linken Sozialrevolutionären, sondern auch bei einem teil der Bolschewiki hervor.

Im Namen der Anhänger Lenins schlug Awanessow vor, die Frage der Presse so lange zu vertagen, bis eine gewisse Verständigung zwischen den sozialistischen Parteien erreicht sein würde. Die Versammlung wandte sich mit überwältigender Mehrheit dagegen.

„Die Revolution“, fuhr Awanessow fort, „die wir zu vollenden im Begriff sind, ist nicht vor dem Angriff auf das Privateigentum zurückgeschreckt, und wir können die Frage der Presse nur unter dem Gesichtspunkt unserer Stellung zum Privateigentum untersuchen.“

Er verlas dann die offizielle bolschewistische Resolution:

„Die Unterdrückung der bürgerlichen Presse war nicht nur diktiert von den militärischen Erfordernissen im Verlaufe des Aufstandes und im Interesse der Niederschlagung der konterrevolutionären Aktion; sie ist auch eine notwendige Maßnahme für die Übergangszeit der Errichtung einer neuen Ordnung, in der es den Eigentümern der Druckereimaschinen und des Papiers nicht erlaubt sein kann, ihre bisherige Rolle als die allmächtigen und ausschließlichen Fabrikanten der öffentlichen Meinung weiter zu spielen.

Wir müssen zur Beschlagnahme der privaten Druckereien und Papierfabriken übergehen, die sowohl in der Hauptstadt als auch in den Provinzen den Sowjets zu gehören haben, damit sie den politischen Parteien und Gruppen, entsprechend der tatsächlichen Kraft der von ihnen vertretenen Ideen, das heißt der Anzahl ihrer Anhänger, zugänglich gemacht werden können.

Die Wiederherstellung der sogenannten Freiheit der Presse, die Rückgabe der Druckereien und des Papiers an die Kapitalisten – diese Vergifter der Volkshirne –, wäre eine für uns undenkbare Kapitulation vor dem Willen des Kapitals und die Preisgabe einer der wichtigsten Eroberungen der Revolution, mit anderen Worten: es wäre eine Maßnahme von unzweideutig konterrevolutionärem Charakter.

Das Zentralexekutivkomitee verwirft daher kategorisch alle Vorschläge, die auf die Wiederherstellung der alten Ordnung auf dem Gebiet der Presse hinzielen, und unterstützt uneingeschränkt den Standpunkt des Rates der Volkskommissare in dieser Frage gegenüber Ansprüchen und Ultimaten, die diktiert sind von kleinbürgerlichen Vorurteilen oder der offenbaren Kapitulation vor den Interessen der konterrevolutionären Bourgeoisie.“

Die Verlesung der Resolution war von ironischen Zurufen der linken Sozialrevolutionäre und den Zornesausbrüchen oppositioneller Bolschewiki begleitet. Karelin sprang auf, protestierend:

„Vor drei Wochen noch gaben sich die Bolschewiki als die leidenschaftlichsten Verteidiger der Freiheit der Presse. Die Argumente dieser Revolution erinnern eigenartig an den Standpunkt der alten Schwarzhunderter und der zaristischen Zensoren. Auch die pflegten von den ,Vergiftern der Volkshirne‘ zu reden.“

Schließlich sprach Trotzki für die Resolution. Er unterschied zwischen der Presse während des Bürgerkrieges und der Presse nach dem Siege.

„In der Periode des Bürgerkrieges“, sagte er, „haben die Unterdrückten ein Recht, zur Gewalt zu greifen.“ (Rufe: „Wer ist denn jetzt der Unterdrückte?“)

„Der Sieg über unsere Gegner ist noch nicht vollständig, und die Zeitungen sind die Waffen, deren sie sich bedienen. Die Schließung der Zeitungen ist unter diesen Umständen eine gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahme.“

Dann zur Frage der Presse in der Zeit nach dem Sieg übergehend:

„Die Stellung der Sozialisten zur Frage der Pressefreiheit kann keine andere sein als ihre Stellung zur Freiheit des Handels. Die Herrschaft der Demokratie, die wir in Rußland aufzurichten im Begriff sind, erheischt ebenso dringend die Zerstörung der Herrschaft des privaten Eigentums über die Presse wie die über die Industrie. Die Sowjetmacht sollte sämtliche Druckereien konfiszieren.“ (Rufe: „Konfisziert die Druckerei der Prawda!“)

„Das Pressemonopol der Bourgeoisie muß vernichtet werden. Sonst hätte die Machtübernahme durch uns keinen Sinn! Das Eigentumsrecht an den Druckereien und am Papier ist in erster Linie ein Recht der Arbeiter und Bauern, und erst danach kommen die bürgerlichen Parteien, die eine Minderheit sind. Der Übergang der Macht in die Hände der Sowjets wird eine radikale Umwälzung aller wesentlichen Existenzbedingungen zur Folge haben. Es ist nur natürlich, daß diese Umwälzung auch in den Presseverhältnissen ihren Ausdruck findet. Wenn wir die Banken nationalisieren, sollen wir da die Finanzzeitungen dulden? Die alte Ordnung muß sterben! Das muß ein für allemal begriffen werden!“ (Beifall und wütende Zurufe.)

Karelin sprach dem Zentralexekutivkomitee das Recht ab, in dieser wichtigen Frage einen Beschluß zu fassen, und forderte noch einmal leidenschaftlich die Wiederherstellung der Pressefreiheit.

Und dann Lenin, ruhig, kalt, mit zusammengezogener Stirn, seine Worte wägend, während er langsam sprach. Jeder Satz fiel wie ein Hammerschlag:

„Der Bürgerkrieg ist noch nicht beendet. Der Feind ist noch immer unter uns. Es ist darum unmöglich, die Zwangsmaßnahmen gegen die Presse aufzuheben.

Wir Bolschewiki haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß wir im Falle unseres Sieges und der Eroberung der Macht die bürgerliche Presse verbieten würden. Die bürgerlichen Zeitungen dulden hieße aufhören, ein Sozialist zu sein. In der Revolution kann man nicht stehenbleiben; man muß immer vorwärtsgehen – oder man geht rückwärts. Wer heute von Freiheit der Presse redet, der geht in Wirklichkeit rückwärts und hemmt unseren Vormarsch zum Sozialismus.

Wir haben das Joch des Kapitalismus abgeworfen, wie die erste Revolution das Joch des Zarismus abwarf. Wenn die erste Revolution ein Recht zur Unterdrückung der monarchistischen Zeitungen hatte, dann haben wir dasselbe Recht gegenüber der bürgerlichen Presse. Es ist unmöglich, die Frage der Pressefreiheit von den anderen Fragen des Klassenkampfes zu trennen. Wir haben versprochen, das Erscheinen dieser Zeitungen zu verhindern, und wir werden unser Versprechen halten. Die übergroße Mehrheit des Volkes ist mit uns!

Jetzt, nachdem der Aufstand vorüber ist, würden wir gern darauf verzichten, die Zeitungen der anderen sozialistischen Parteien zu unterdrücken, vorausgesetzt, daß sie nicht zu bewaffnetem Aufstand und Ungehorsam gegen die Regierung auffordern. Wir werden allerdings nicht zulassen, daß sie sich unter dem Vorwand der Freiheit der sozialistischen Presse mittels der heimlichen Unterstützung der Bourgeoisie das Monopol auf die Druckereien, das Papier und sonstige Materialien verschaffen. Alle diese Dinge müssen das Eigentum der Sowjetregierung werden. Wir werden sie in erster Linie den sozialistischen Parteien zugänglich machen, und zwar in exakter Proportion zu ihrer Stimmenstärke.“

In der Abstimmung unterlag die Resolution Larins und der linken Sozialrevolutionäre mit zweiundzwanzig gegen einunddreißig Stimmen [1], die Lenins wurde mit vierunddreißig gegen vierundzwanzig Stimmen angenommen. Unter der Minderheit befanden sich die Bolschewiki Rjasanow und Losowski, die erklärten, daß es ihnen unmöglich sei, für irgendeine Beschränkung der Pressefreiheit zu stimmen. Nach der Abstimmung erklärten die linken Sozialrevolutionäre, nicht länger die Verantwortung für die hier getriebene Politik tragen zu können und aus dem revolutionären Militärkomitee sowie aus allen anderen Positionen exekutiver Verantwortlichkeit auszuscheiden.

Fünf Mitglieder: Nogin, Rykow, Miljutin, Teodorowitsch und Schljapnikow, schieden aus dem Rat der Volkskommissare aus, indem sie erklärten:

„Wir stehen auf dem Standpunkt, daß eine sozialistische Regierung aus allen Parteien der Sowjets geschaffen werden muß. Wir sind der Auffassung, daß nur die Bildung einer solchen Regierung die Möglichkeit geben würde, die Früchte des heroischen Kampfes der Arbeiterklasse und der revolutionären Armee in den Oktobertagen zu sichern.

Wir sind der Auffassung, daß es außerdem nur einen Weg gibt: die Aufrechterhaltung einer rein bolschewistischen Regierung mit den Mitteln des politischen Terrors. Diesen Weg hat der Rat der Volkskommissare beschritten. Wir wollen und können diesen Weg nicht beschreiten. Wir sehen, daß das zur Ausschaltung der proletarischen Massenorganisationen von der Leitung des politischen Lebens, zur Errichtung eines unverantwortlichen Regimes und zur Zerschlagung der Revolution führt. Die Verantwortung für diese Politik können wir nicht übernehmen und erklären deshalb dem Gesamtrussischen Exekutivkomitee, daß wir von unseren Posten als Volkskommissare zurücktreten.“

Weitere Kommissare, die die Erklärung unterzeichneten, jedoch ohne ihre Funktionen abzugeben, waren: Rjasanow und Derbyschew – Presseabteilung; Arbusow – Staatsdruckerei; Jurenew – Rote Garde; Fjodorow – Arbeitskommissariat; Larin – Abteilung für die Ausarbeitung von Dekreten.

Gleichzeitig traten Kamenew, Rykow, Miljutin, Sinowjew und Nogin aus dem Zentralkomitee der bolschewistischen Partei aus und veröffentlichten die Gründe dieses Schrittes:

„Wir sind der Auffassung, daß die Bildung einer solchen Regierung“ (zusammengesetzt aus sämtlichen in den Sowjets vertretenen Parteien) „notwendig ist, um weiteres Blutvergießen, um das Herannahen des Hungers, um die Niederschlagung der Revolution durch die Kaledinleute zu verhindern, um die Einberufung der Konstituierenden Versammlung zur festgesetzten Frist zu sichern und tatsächlich das Friedensprogramm zu verwirklichen, das auf dem zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongreß angenommen worden ist ...

Wir können nicht die Verantwortung für diese verhängnisvolle Politik des Zentralkomitees übernehmen, die gegen den Willen eines gewaltigen Teiles des Proletariats und der Soldaten durchgeführt wird, die die schleunigste Einstellung des Blutvergießens zwischen den einzelnen Teilen der Demokratie herbeisehnen.

Wir legen deshalb unsere Funktionen als Mitglieder des Zentralkomitees nieder, um das Recht zu haben, der massen der Arbeiter und Soldaten offen unsere Meinung zu sagen ...

Wir treten aus dem Zentralkomitee aus im Moment des Sieges ..., weil wir nicht ruhig mit ansehen können, wie die Politik der führenden Gruppe des Zentralkomitees dazu führt, daß die Arbeiterpartei die Früchte dieses Sieges verliert und das Proletariat niedergeschlagen wird.“

Die Massen der Arbeiter, die Soldaten der Garnison waren aufs höchste erregt und entsandten eine Delegation nach der anderen in den Smolny, in die „Konferenz für die Bildung der neuen Regierung“, wo der Bruch in den Reihen der Bolschewiki die lebhafteste Freude verursachte.

Aber die Antwort der Leninisten kam schnell und erbarmungslos. Schljapkinow und Teodorowitsch unterwarfen sich der Parteidisziplin und kehrten auf ihre Posten zurück. Kamenew wurde seines Postens als Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees enthoben und an seine Stelle Swerdlow gewählt. Sinowjew verlor seinen Posten als Vorsitzender des Petrograder Sowjets. Am Morgen des 18. erschien in der Prawda ein von Lenin verfaßter grimmiger Aufruf [2] an das russische Volk, der in Hunderttausenden von Exemplaren angeschlagen und in ganz Rußland verbreitet wurde:

„Der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongreß hat der Partei der Bolschewiki die Mehrheit gebracht. Nur eine aus Vertretern dieser Partei zusammengesetzte Regierung ist deshalb eine Sowjetregierung. Und es ist allen bekannt, daß das Zentralkomitee der Partei der Bolschewiki einige Stunden vor der Bildung einer neuen Regierung, bevor die Liste der Regierungsmitglieder dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongreß vorgelegt wurde, drei angesehene Mitglieder der Gruppe der linken Sozialrevolutionäre, nämlich die Genossen Kamkow, Spiro und Karelin, zur Sitzung des Zentralkomitees eingeladen und ihnen vorgeschlagen hat, sich an der neuen Regierung zu beteiligen. Wir bedauern außerordentlich, daß die Genossen linken Sozialrevolutionäre abgelehnt haben. Wir betrachten ihre Ablehnung als unzulässig für Revolutionäre und Vorkämpfer der Werktätigen. Wir sind jederzeit bereit, die linken Sozialrevolutionäre in die Regierung aufzunehmen, aber wir erklären, daß wir als Partei, die auf dem Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongreß die Mehrheit erhalten hat, berechtigt und dem Volke gegenüber verpflichtet sind, die Regierung zu bilden ...

Genossen! Mehrere Mitglieder des Zentralkomitees unserer Partei und des Rates der Volkskommissare, Kamenew, Sinowjew, Nogin, Rykow; Miljutin und einige wenige andere, sind gestern, am 17. (4.) November, aus dem Zentralkomitee unserer Partei ausgetreten und die drei letzten auch aus dem Rate der Volkskommissare ...

Die zurückgetretenen Genossen haben wie Deserteure gehandelt, nicht nur, weil sie die ihnen anvertrauten Posten verlassen haben, sondern auch, weil sie den ausdrücklichen Beschluß des Zentralkomitees unserer Partei durchbrochen haben, daß sie mit ihrem Rücktritt wenigstens bis zur Stellungnahme der Petrograder und Moskauer Parteiorganisationen warten sollen. Wir verurteilen diese Desertation aufs entschiedenste. Wir sind zutiefst überzeugt, daß alle klassenbewußten Arbeiter, Soldaten und Bauern, die unserer Partei angehören oder mit ihr sympathisieren, die Handlungsweise der Deserteure ebenso entschieden verurteilen werden.

... denkt daran, daß zwei dieser Deserteure, Kamenew und Sinowjew, schon vor dem Aufstand in Petrograd als Deserteure und Streikbrecher aufgetreten sind, denn sie haben nicht nur in der entscheidenden Sitzung des Zentralkomitees am 23. (10.) Oktober 1917 gegen den Aufstand gestimmt, sondern haben auch nach der Beschlußfassung durch das Zentralkomitee vor den Parteifunktionären gegen den Aufstand agitiert ... Der gewaltige Aufschwung der Massen, der gewaltige Heroismus von Millionen von Arbeitern, Soldaten und Bauern in Petrograd und Moskau, an der Front, in den Schützengräben und in den Dörfern hat die Deserteure mit derselben Leichtigkeit beiseite geschoben, mit der ein Eisenbahnzug Holzspäne beiseite schleudert.

Mögen sich alle Kleinmütigen, alle Schwankenden, alle Zweifelnden, alle, die sich von der Bourgeoisie einschüchtern oder vom Geschrei ihrer und indirekten Helfershelfer beeinflussen ließen, schämen. In den Massen der Petrograder, Moskauer und der übrigen Arbeiter und Soldaten gibt es keine Spur von Schwankungen.

... wir werden uns keinerlei Ultimatum von Intellektuellengrüppchen unterwerfen, hinter denen keine Massen stehen, hinter denen in Wirklichkeit nur die Kornilowleute, Sawinkowleute, Offiziersschüler u.dgl.m. stehen.“

Die Antwort aus dem ganzen Lande kam wie ein Gewittersturm. Die Oppositionellen kamen gar nicht dazu, den Massen der Arbeiter und Soldaten die Gründe ihres Tuns auseinanderzusetzen. Das Zentralexekutivkomitee wurde mit Erklärungen überschwemmt, die die Deserteure in schärfster Weise verdammten. Tagelang wimmelte es im Smolny von Delegationen und Komitees von der Front, von der Wolga, aus den Petrograder Fabriken.

„Warum sind sie aus der Regierung ausgetreten? Sind sie von der Bourgeoisie bestochen, um die Revolution zugrunde zu richten? Sie müssen sofort zurückkehren und sich den Beschlüssen des Zentralkomitees unterwerfen!“

Nur in der Petrograder Garnison herrschte anfangs Ungewißheit. Am 24. November fand eine große Soldatenversammlung statt, wo Vertreter aller politischen Parteien sprachen. Die Politik Lenins fand die Zustimmung einer großen Mehrheit, und den linken Sozialrevolutionären wurde erklärt, daß sie in die Regierung eintreten müßten.

Ergebnisse der Versammlung der Vertreter der Petrograder Garnison

In den Straßen Petrograds angeschlagene Bekanntgabe des
Ergebnisses einer Versammlung von Vertretern der Petrograder
Garnison, die einberufen worden war, um zur Frage der Bildung
einer neuen Regierung Stellung zu nehmen. [6*]

Die Menschewiki unterbreiteten ein endgültiges Ultimatum. Sie forderten die Freilassung aller Minister und Offiziersschüler, unbeschränkte Pressefreiheit, Entwaffnung der Rotgardisten und Unterstellung der Garnisonen unter das Kommando der Duma. Der Smolny antwortete hierauf, daß alle sozialistischen Minister und mit wenigen Ausnahmen auch alle Offiziersschüler bereits frei seien, daß alle Zeitungen mit Ausnahme der bürgerlichen erscheinen dürften und daß das Kommando über die Truppen in den Händen der Sowjets bleiben würde. Am 19.löste sich die Konferenz für die Bildung einer neuen Regierung auf, und die Opposition verzog sich allmählich nach Mogiljow, wo sie unter dem Schutze des Generalstabs bis zu Ende fortfuhr, eine Regierung nach der anderen zu bilden.

Mittlerweile war es den Bolschewiki gelungen, die Macht des Wikshel zu untergraben. Der Petrograder Sowjet forderte die Eisenbahner in einem Aufruf auf, den Rücktritt des Wikshel zu erzwingen. Am 15. Berief das Zentralexekutivkomitee über den Kopf des Wikshel hinweg einen Gesamtrussischen Eisenbahnerkongreß zum 1. Dezember ein, wie es seinerzeit den Gesamtrussischen Bauernkongreß einberufen hatte. Das veranlaßte den Wikshel, seinerseits einen Kongreß, und zwar für zwei Wochen später anzusetzen. Am 16.November übernahmen die Mitglieder des Wikshel ihre Sitze im Zentralexekutivkomitee. In der Eröffnungssitzung des Gesamtrussischen Eisenbahnerkongresses, in der Nacht des 2. Dezember, bot das Zentralexekutivkomitee dem Wikshel in aller Form den Posten des Kommissars für das Verkehrswesen an. Der Wikshel nahm an.

Nachdem sie die Frage der Macht geregelt hatten, wandten die Bolschewiki ihre Aufmerksamkeit den Problemen der praktischen Verwaltung zu. Brennend war vor allem die Frage der Verpflegung der Städte, des Landes und der Front. Die Lagerhäuser und Güterbahnhöfe, ja sogar die Barken in den Kanälen wurden von Matrosen und Rotgardistentrupps durchsucht. Tausende Pud Lebensmittel, die von privaten Spekulanten beiseite geschafft worden waren, wurden zutage gefördert und beschlagnahmt. In die Provinzen wurden Bevollmächtigte geschickt, die mit Unterstützung der Bodenkomitees die Vorratshäuser der großen Getreidehändler beschlagnahmten. Expeditionen von je fünftausend schwer bewaffneten Matrosen gingen, von fliegenden Kommissionen begleitet, nach dem Süden und nach Sibirien, um die noch von den Weißgardisten beherrschten Städte in die Hand der Sowjets zu bringen, die Ordnung herzustellen und Lebensmittel zu beschaffen. Der Personenverkehr auf der Transsibirischen Bahn wurde zwei Wochen lang eingestellt, während dreizehn von den Fabrikkomitees zusammengestellte Eisenbahnzüge mit Textil- und Eisenwaren beladen nach dem Osten fuhren, jeder Zug unter der Leitung eines Kommissars, der beauftragt war, von den sibirischen Bauern für diese Waren Getreide und Kartoffeln einzutauschen.

Da die Kohlengruben des Donezbeckens von Kaledin beherrscht waren, begann die Heizungsfrage zu einer Kalamität zu werden. Der Smolny ordnete die Einstellung der elektrischen Beleuchtung der Theater, Läden und Restaurants an, schränkte den Straßenbahnbetrieb ein und beschlagnahmte die bei den Heizmaterialienhändlern lagernden privaten Vorräte an Brennholz. Als den Petrograder Fabriken die Kohlevorräte ausgingen und die Schließung der Betriebe drohte, wurden ihnen von den Matrosen der Baltischen Flotte zweihunderttausend Pud Kohle aus den Bunkern der Kriegsschiffe geliefert.

Gegen ende November spielten sich die sogenannten Weinpogrome [7*] ab – die Ausplünderung der Weinkellereien –, die mit der Ausraubung der Kellereien des Winterpalastes ihren Anfang nahmen. Tagelang trieben sich in den Straßen betrunkene Soldaten umher. Bei alledem hatten nachgewiesenermaßen die Konterrevolutionäre ihre Hand im Spiel. Sie spielten den Regimentern Pläne in die Hände, mit deren Hilfe die Soldaten die Alkoholvorräte ausfindig machten. Anfangs beschränkten sich die Kommissare des Smolny darauf, die Soldaten durch gutes Zureden von der Schädlichkeit ihres treibens zu überzeugen; das genügte jedoch nicht, um der wachsenden Anarchie, in deren Verlauf es zu erbitterten Kämpfen zwischen Soldaten und Rotgardisten kam, Einhalt zu gebieten. Schließlich war das Revolutionäre Militärkomitee gezwungen, Kompanien von Matrosen mit Maschinengewehren hinauszuschicken, die erbarmungslos in die betrunkenen Massen hineinschossen und viele töteten. Auf Befehl der Exekutive drangen spezielle Zerstörungsabteilungen in die Kellereien ein, die die Flaschen mit Hacken zerschlugen oder die Keller mit Dynamit sprengten.

In den Zentralen der Bezirkssowjets standen Tag und Nacht disziplinierte und gut besoldete Rotgardisten in Bereitschaft, die die alte Milz ersetzten. In allen Stadtvierteln traten von den Arbeitern und Soldaten gewählte kleine Revolutionstribunale in Funktion, die die weniger ernsten vergehen aburteilten.

Die großen Hotels, noch immer der Markt für die florierenden Geschäfte der Spekulanten, wurden von Rotgardisten umstellt und die Spekulanten in die Gefängnisse geworfen. [8*]

Wachsam und voller Mißtrauen, organisierte das Petrograder Proletariat ein ausgedehntes Erkundungssystem. Die Dienstboten in den bürgerlichen Häusern waren seine Späher. Sie unterrichteten das Revolutionäre Militärkomitee, sobald sie Verdächtiges entdeckten oder vermuteten, sodaß unverzüglich zugepackt werden konnte, was mit eiserner Faust und unermüdlich geschah. Auf diese Weise kam die Monarchistenverschwörung an den Tag, die, geführt von dem ehemaligen Dumamitglied Purischkewitsch und einer Gruppe von Adligen und Offizieren, einen Offiziersaufstand vorbereitet und in einem Brief an Kaledin diesen aufgefordert hatte, nach Petrograd zu kommen. [9*] Auf dieselbe Art wurde die Verschwörung der Petrograder Kadetten entdeckt, die an Kaledin Geld und Rekruten gesandt hatten.

Neratow, in Angst versetzt durch den Volkszorn, den seine Flucht hervorgerufen hatte, kehrte zurück und lieferte die Geheimverträge an Trotzki ab, der sie in der Prawda zu veröffentlichen begann und damit die ganze Welt in Erregung versetzte.

Die Beschränkungen der Presse erfuhren eine Zunahme durch ein Dekret [10*], das das Anzeigenwesen zu einem Monopol der offiziellen Regierungsblätter erklärte. Die anderen Zeitungen stellten als Protest ihr Erscheinen ein oder kehrten sich nicht an das Gesetz und wurden verboten. Es dauerte drei Wochen, bis sie sich schließlich unterwarfen.

Proklamation des Pogromabwehrkomitees

Eine Proklamation des Pogromabwehrkomitees
beim Petrograder Sowjet. [11*]

Der Streik in den Ministerien war noch immer nicht beendet. Noch immer betrieben die alten Beamten ihre Sabotage und bemühten sich, den normalen Fortgang des ökonomischen Lebens des Landes zu hindern. Hinter dem Smolny standen nur die breiten, unorganisierten Volksmassen. Auf sie gestützt und sie zu revolutionären Massenaktionen führend, überwand der rat der Volkskommissare seine Gegner. In beredten Proklamationen [12*], von wunderbarer Einfachheit der Sprache, die in ganz Rußland verbreitet wurden, setzte Lenin das Wesen der Revolution auseinander und drängte die Massen, die Macht in ihre Hände zu nehmen, den Widerstand der besitzenden Klassen mit Gewalt zu brechen und sich der Regierungsinstitutionen zu bemächtigen.

„Revolutionäre Ordnung! Revolutionäre Disziplin! Strikte Rechnungslegung und Kontrolle! Keine Streiks! Kein Faulenzen!“

Am 20. November erließ das revolutionäre Militärkomitee folgende Warnung:

„Die besitzenden Klassen sind gegen die Macht der Sowjets – die Regierung der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Ihre Anhänger hindern die Arbeit der Angestellten in der Regierung und der Duma, hetzen zu Streiks in den Banken, sind bemüht, das Funktionieren der Eisenbahnen, der Post und des Telegrafs zu sabotieren ...

Wir warnen sie, mit dem Feuer zu spielen. Dem Lande und der Armee droht der Hunger. Um ich zu bekämpfen, ist es unerläßlich, daß alle Dienste ungehindert funktionieren. Die Arbeiter-und-Bauern-Regierung trifft alle Maßnahmen, um sicherzustellen, was das Land und die Armee braucht. Der Widerstand gegen diese Maßnahmen ist ein Verbrechen gegen das Volk. Wir warnen die besitzenden Klassen und ihren Anhang! Wenn sie ihre Sabotage und Provokationen zur Verhinderung des Lebensmitteltransportes nicht einstellen, so werden sie die ersten sein, die die Folgen zu tragen haben. Wir werden ihnen jeden Anspruch auf Lebensmittelrationen nehmen. Alle Vorräte, die sie haben, werden requiriert, das Eigentum der Hauptverbrecher wird konfisziert werden.

Das ist unsere letzte Warnung an die Elemente, die mit dem Feuer spielen.

Wir sind überzeugt, daß notwendigenfalls unsere Maßnahmen die Unterstützung aller Arbeiter, Soldaten und Bauern finden werden.“

Am 22. November waren an allen Mauern der Stadt Plakate angeschlagen, betitelt:

“Außerordentliche Mitteilung!

Der Rat der Volkskommissare hat von dem Stab der Nordfront das nachfolgende dringende Telegramm erhalten:

‚Wir können nicht länger warten! Laßt die Armee nicht Hungers sterben! Die Armeen der Nordfront haben seit mehreren Tagen keine Kruste Brot erhalten, und in zwei oder drei Tagen wird der Zwieback aufgebraucht sein, der ihnen aus den bisher nie angebrochenen Reservebeständen zugeteilt werden mußte. Schon jetzt sprechen Delegierte von allen Teilen der Front von der notwendigen Rückverlegung der Armeen, weil anderenfalls in wenigen Tagen ein panikartiges Zurückfluten der ausgehungerten, in dem dreijährigen Schützengrabenkrieg geschwächten, kranken, ungenügend gekleideten, barfüßigen und infolge des übermenschlichen Elends fast wahnsinnig gewordenen Soldaten unvermeidlich wäre.‘

Das Revolutionäre Militärkomitee bringt dies zur Kenntnis der Petrograder Garnison und der Arbeiter von Petrograd. Während die Lage an der Front die dringendsten und entschiedensten Maßnahmen erheischt, streiken die höheren Beamten der Regierungsinstitutionen, der Banken, Eisenbahnen, der Post und des Telegrafs und hindern alle Bemühungen der Regierung, die Front mit Lebensmitteln zu versorgen. Jede Stunde des Wartens kann das Leben von Tausenden Soldaten kosten. Die konterrevolutionären Beamten machen sich des schwersten Verbrechens gegen ihre an der Front hungernden und sterbenden Brüder schuldig.

Das Revolutionäre Militärkomitee richtet an diese Verbrecher eine letzte Warnung. Wenn sie nicht unverzüglich und vollständig ihren Widerstand und ihre Opposition einstellen, werden gegen sie die unerbittlichsten Maßnahmen ergriffen werden, deren Strenge der Größe ihres Verbrechens entsprechen wird.“

Die Arbeiter und Soldaten des ganzen Landes waren aufs höchste erregt. In der Hauptstadt versuchten die Regierungs- und Bankbeamten, sich in Hunderten von Protestproklamationen und Aufrufen [13*] in der Art des folgenden zu rechtfertigen:

„An alle Bürger! Die Staatsbank ist geschlossen! – Warum?

Die Gewaltmaßnahmen der Bolschewiki gegen die Staatsbank haben es uns unmöglich gemacht, unsere Arbeit fortzusetzen. Die erste Handlung des Volkskommissars war die Forderung auf Auszahlung von zehn Millionen Rubel, am 27. November wurden weitere fünfundzwanzig Millionen gefordert, ohne das angegeben wurde, wohin dieses Geld gehen solle.

... Wir Beamten können an der Ausplünderung des Volkseigentums nicht teilnehmen. Wir stellten darum die Arbeit ein.

Bürger! Das Geld in der Staatsbank gehört euch, es ist des Volkes Geld, erworben durch eure Arbeit, euern Schweiß, euer Blut. Bürger! Rettet das Eigentum des Volkes vor dem Diebstahl, befreit uns von der Gewaltherrschaft, wir werden dann die Arbeit sofort wieder aufnehmen.

Die Angestellten der Staatsbank.“

Vom Ernährungsministerium, vom Finanzministerium usw. kamen Erklärungen, die besagten, daß das Revolutionäre Militärkomitee den Beamten das Arbeiten unmöglich mache, und Aufrufe an das Volk, sie gegen den Smolny zu unterstützen. Aber die Arbeiter und Soldaten schenkten ihnen keinen Glauben. Sie waren überzeugt, daß die Beamten die Sabotage nur trieben, um die Armee und das Volk mit Hilfe des Hungers niederzuzwingen ...Wieder tauchten in den Straßen lange Reihen auf, in denen die Arbeiter in der eisigen Winterluft nach Brot anstanden, aber der Zorn der Leute richtete sich nicht, wie ehedem unter Kerenski, gegen die Regierung, sondern gegen die „Tschinowniki“ (die Beamten), die Saboteure; die Regierung war ihre Regierung, waren ihre Sowjets – und die Beamten der Ministerien waren gegen sie.

Im Mittelpunkt dieser ganzen Opposition standen die Duma und ihr Kampforgan, das Komitee zur Rettung des Vaterlandes, die gegen alle Dekrete des Rates der Volkskommissare protestierten und in immer neuen Beschlüssen erklärten, daß sie die Sowjetregierung nicht anerkennen, und die offen den immer neuen konterrevolutionären „Regierungen“ in Mogiljow in die Hände arbeiteten. So wandte sich am 17. November das Komitee zur Rettung des Vaterlandes an „alle städtischen Selbstverwaltungen, Semstwos und alle demokratischen und revolutionären Organisationen der Bauern, Arbeiter, Soldaten und anderen Bürger“ mit folgender Aufforderung:

„Erkennt die Regierung der Bolschewiki nicht an! Kämpft gegen sie!

Bildet lokale Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution, die, mit allen Kräften der Demokratie vereinigt, dem Gesamtrussischen Komitee helfen werden, die Aufgaben zu vollbringen, die es sich gestellt hat.“

Mittlerweile hatten die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung den Bolschewiki in Petrograd [14*] eine enorme Mehrheit gebracht, so daß sogar die Menschewiki – Internationalisten die Neuwahl der Stadtduma für notwendig erachteten, da sie nicht mehr die politische Zusammensetzung der Petrograder Bevölkerung repräsentiere. Gleichzeitig wurde die Duma von den Arbeitern, von den Truppen und sogar von den Bauern aus der Umgebung der Stadt mit Resolutionen bestürmt, in denen sie als „konterrevolutionär“, als „kornilowistisch“ gebrandmarkt und ihr Rücktritt verlangt wurde. Die letzten Tage der Duma waren von stürmischen Debatten erfüllt, die durch die Forderungen der städtischen Arbeiter nach menschenwürdigen Löhnen und ihre Drohung mit eventuellem Streik veranlaßt waren. Am 23. November löste ein Dekret des Revolutionären Militärkomitees das Komitee zur Rettung des Vaterlandes in aller Form auf. Am 29. ordnete der Rat der Volkskommissare die Auflösung und Neuwahl der Petrograder Stadtduma an.

„In Anbetracht der Tatsache, daß die am 2. September gewählte Petrograder Zentralduma in absolutem Gegensatz zu den Auffassungen und Wünschen der Petrograder Bevölkerung steht und darum kein Recht hat, in ihrem Namen zu sprechen, in Anbetracht der weiteren Tatsache, daß die Mehrheit in der Duma, obgleich sie ihre ganze politische Anhängerschaft verloren hat, fortfährt, ihre Vorrechte auszunützen, um in konterrevolutionärer Weise sich dem Willen der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu widersetzen, die normale Arbeit der Regierung zu sabotieren und zu hindern – erachtet es der Rat der Volkskommissare für seine Pflicht, der Bevölkerung der Hauptstadt die Möglichkeit zu geben, über die Politik des Organs der städtischen Selbstverwaltung ihr Urteil zu fällen. Zu diesem Zweck beschließt der Rat der Volkskommissare:

  1. Die Stadtduma wird aufgelöst; die Auflösung tritt mit dem 30. November 1917 in Kraft.
     
  2. Alle von der jetzigen Duma gewählten oder ernannten Funktionäre bleiben auf ihren Posten und erfüllen die ihnen anvertrauten Aufgaben, bis an ihre Stelle die Beauftragten der neuen Duma treten.
     
  3. Alle städtischen Angestellten bleiben auf ihren Posten; wer seinen Dienst auf eigene Verantwortung verläßt, gilt als entlassen.
     
  4. Die Neuwahlen für die Stadtduma von Petrograd werden auf den 9. Dezember 1917 angesetzt.
     
  5. Die Stadtduma von Petrograd tritt am 11. Dezember 1917, um 2 Uhr, zusammen.
     
  6. Wer immer sich diesem Dekret widersetzt und wer absichtlich das Eigentum der Stadtverwaltung schädigt oder zerstört, wird sofort verhaftet und vor ein Revolutionstribunal gestellt ...“

Die Duma erklärte in einer Anzahl Resolutionen trotzig, daß sie „ihre Stellung bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“ werde, und richtete einen verzweifelten Aufruf an die Bevölkerung, ihre „selbstgewählte Stadtverwaltung“ zu schützen. Aber die Bevölkerung blieb gleichgültig oder offen feindselig. Am 30. November wurden der Bürgermeister Schrejder und mehrere Mitglieder der Duma verhaftet, einem Verhör unterzogen und wieder freigelassen. Trotzdem fuhr an diesem und dem folgenden Tage die Duma fort zu tagen, wiederholt unterbrochen von Rotgardisten und Matrosen, die die Versammlung in höflicher Weise zum Auseinandergehen aufforderten.

Am 2. Dezember erschien im Nikolaisaal während der Rede eines Dumamitglieds ein Offizier mit einigen Matrosen und forderte die Räumung des Saales, widrigenfalls Gewalt angewandt werden müßte. Die Dumaleute protestierten heftig, fügten sich aber schließlich, indem sie erklärten, daß „sie nur der Gewalt wichen“.

Die neue Duma, deren Wahl zehn Tage später unter dem Boykott der „gemäßigten“ Sozialisten erfolgte, war fast ganz bolschewistisch.

Es bestanden jedoch noch andere gefährliche Oppositionszentren, so die „Republiken“ der Ukraine und Finnland, die eine eindeutige antisowjetische Haltung einnahmen. Die Regierungen in Helsingfors wie in Kiew zogen zuverlässige Truppen zusammen und begannen einen brutalen Feldzug zur Niederschlagung des Bolschewismus, zur Entwaffnung und Abschiebung der russischen Truppen. Die Ukrainische Rada unterwarf sich ganz Südrußland und schickte Verstärkungen und Kriegsmaterial an Kaledin. Finnland und die Ukraine verhandelten im geheimen mit den Deutschen und wurden von den Regierungen der Alliierten prompt anerkannt ... Die Alliierten leihen ihnen riesige Summen und verbündeten sich mit ihnen zum Zwecke der Bildung konterrevolutionärer Angriffszentren gegen Sowjetrußland. Als in diesen Kämpfen der Bolschewismus Sieger blieb, rief die unterlegene Bourgeoisie die Deutschen, damit diese ihnen wieder zur Macht verhülfen.

Die allergefährlichste Bedrohung der Sowjetregierung kam jedoch aus dem Innern und hatte zwei Ausgangspunkte: die Kaledinbewegung und den Stab in Mogiljow, den General Duchonin befehligte.

Der überall zu findende Murawjow wurde mit der Führung des Krieges gegen die Kosaken betraut und eine Rote Armee aus Fabrikarbeitern gebildet. Hunderte von Propagandisten gingen an den Don. Der Rat der Volkskommissare erließ eine Proklamation an die Kosaken [15*], in der das Wesen der Sowjetregierung auseinandergesetzt und gezeigt wurde, wie die besitzenden Klassen, die Tschinowniki, Gutsbesitzer, Bankiers und ihre Verbündeten, die Kosakenfürsten, Kosakengutsbesitzer und Kosakengenerale, die Revolution zu erdrosseln versuchten, um die Beschlagnahme ihrer Reichtümer zu verhindern.

Proklamation gegenen Streik der Schullehrer

Proklamation der Petrograder Stadtdumakommission für
Volksbildung gegen den streik der Schullehrer unmittelbar
vor den Weihnachstsferien. Die Duma war neu gewählt
worden und bestand fast ganz aus Bolschewiki. [16*]

Am 27. erschien im Smolny eine Kosakendelegation, die Lenin und Trotzki zu sehen wünschte. Die Kosaken fragten, ob die Sowjetregierung wirklich nicht die Absicht habe, ihr Land unter die Bauern Großrußlands aufzuteilen. „Wir denken nicht daran“, erwiderte Trotzki. Die Kosaken berieten eine Weile. „Gut“, fuhren sie fort, „beabsichtigt die Sowjetregierung, die Güter unserer Kosakengutsbesitzer zu beschlagnahmen und unter die werktätigen Kosaken aufzuteilen?“ Darauf Lenin: „Das ist schon eure Sache. Wir werden die werktätigen Kosaken in allen ihren Aktionen unterstützen. Ihr beginnt am besten, indem ihr Kosakensowjets wählt. Wir geben euch eine Vertretung im Zentralexekutivkomitee, und dann ist die Regierung auch eure Regierung.“

Die Kosaken gingen, angestrengt nachdenkend. Zwei Wochen darauf erschien beim General Kaledin eine Delegation seiner Truppen mit der Anfrage, ob er gewillt sei, die Aufteilung der großen Ländereien der Kosakengutsbesitzer unter die werktätigen Kosaken zu versprechen. „Nein“, erwiderte Kaledin. „Eher wollte ich sterben.“ Einen Monat später jagte er sich, durch das unaufhaltsame Dahinschmelzen seiner Armee zur Verzweiflung gebracht, tatsächlich eine Kugel durch den Kopf. Die Kosakengefahr war erledigt.
 

Mittlerweile hatten sich in Mogiljow das alte Zentralexekutivkomitee, die Führer der „gemäßigten“ Sozialisten – von Awxentjew bis Tschernow –, die aktiven Häupter der alten Armeekomitees und die reaktionären Offiziere zusammengefunden. Der Stab weigerte sich hartnäckig, den Rat der Volkskommissare anzuerkennen. Um sich herum hatte er die Todesbataillone, die St.-Georgs-Ritter und die Frontkosaken zusammengezogen und stand in enger und geheimer Verbindung mit den alliierten Militärattaches, mit der Kaledinbewegung und der Ukrainischen Rada.

Das Friedensdekret vom 8. November, in dem der Sowjetkongreß einen allgemeinen Waffenstillstand vorgeschlagen hatte, war von den Regierungen der Alliierten nicht beantwortet worden.

Am 20. November überreichte Trotzki den Gesandtschaften der Alliierten eine Note [17*]:

„Ich habe die Ehre, Herr Gesandter, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß am 8. November der Gesamtrussische Sowjetkongreß eine neue Regierung konstituiert hat: den Rat der Volkskommissare. Der Präsident dieser Regierung ist Wladimir Iljitsch Lenin. Die Leitung der Auswärtigen Angelegenheiten ist mir anvertraut worden, als dem Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten.

Indem ich ihre Aufmerksamkeit auf den vom Gesamtrussischen Kongreß bestätigten Text des Vorschlages eines Waffenstillstandes und demokratischen Friedens ohne Kriegsentschädigungen, ohne Annexionen und auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker lenke, bitte ich Sie, das Dokument als formellen Vorschlag eines sofortigen Waffenstillstandes an allen Fronten und der unverzüglichen Einleitung von Friedensverhandlungen zu betrachten. Die autorisierte Regierung der Russischen Republik richtet diesen Vorschlag gleichzeitig an alle kriegführenden Völker und deren Regierungen.

Nehmen Sie, Herr Gesandter, die aufrichtige Versicherung der Hochschätzung der Sowjetregierung für ihr Volk entgegen, das sicher auch nur, gleich allen in dieser beispiellosen Schlächterei erschöpften und weißgebluteten Völkern, den Frieden wünscht ...“

In der gleichen Nacht telegrafierte der Rat der Volkskommissare an den General Duchonin:

„... Der Rat der Volkskommissare hat im Auftrage des Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Macht in seine Hände genommen, mit der Verpflichtung, allen kriegführenden Völkern und deren Regierungen einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten und sofortige Eröffnung von Verhandlungen zwecks Abschlusses eines Friedens auf demokratischer Grundlage vorzuschlagen ...

... Sie, Bürger Kommandeur, beauftragt der Rat der Volkskommissare, in Ausführung des Beschlusses des Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten sich sofort nach Erhalt der gegenwärtigen Mitteilung an die Militärbehörden der feindlichen Armeen mit dem Vorschlag der sofortigen Einstellung der Kampfhandlungen zwecks Eröffnung von Friedensverhandlungen zu wenden. Indem der Rat der Volkskommissare Sie mit der Führung dieser Verhandlungen betraut, befiehlt er Ihnen:

  1. Dem Rate fortlaufend über den Gang Ihrer Verhandlungen mit den Vertretern der feindlichen Armeen auf telefonischem Weg Bericht zu erstatten;
     
  2. den Akt über den Vorfrieden erst nach vorheriger Zustimmung des Rates der Volkskommissare zu unterzeichnen ...“

Die Gesandten der Alliierten quittierten die Note Trotzkis mit verächtlichem Schweigen und anonymen Interviews in den Zeitungen, voller Boshaftigkeit und Spott. Der Duchonin erteilte Befehl wurde von ihnen offen als Verrat bezeichnet.

Duchonin selber ließ nichts von sich hören. In der Nacht des 22. November wurde er telefonisch befragt, ob er bereit sei, dem ihm erteilten Befehl zu gehorchen. Duchonin antwortete, daß er nur einer Regierung gehorchen könne, die das Vertrauen der Armee und des Landes habe.

Ein telegrafischer Befehl enthob ihn sofort seines Postens als Oberbefehlshaber, und Krylenko wurde an seine Stelle gesetzt. Außerdem entsandte Lenin, auch hier wieder seiner Taktik des „An-die-Massen-Appellierens“ treu bleibend, an alle Regiments-, Divisions- und Korpskomitees, an alle Soldaten und Matrosen der Armee und Flotte einen Funkspruch, in dem er die Weigerung Duchonins bekanntgab und den Regimentern an der Front die Wahl von Delegationen befahl, die mit den ihnen gegenüberstehenden feindlichen Abteilungen verhandeln sollten.

Am 23. überreichten die Militärattachés der Alliierten, den Instruktionen ihrer Regierungen folgend, Duchonin eine Note, in der dieser feierlich aufgefordert wurde, „die zwischen den Ententemächten geschlossenen Bedingungen unter keinen Umständen zu verletzen“. Die Note erklärte weiter, daß ein mit Deutschland abgeschlossener Separat-Waffenstillstand für Rußland die ernstesten Konsequenzen im Gefolge haben würde. Duchonin sandte diese Mitteilung sofort allen Soldatenkomitees zu.

Am nächsten Morgen richtete Trotzki einen neuen Appell an die Truppen, in dem er die Note der Vertreter der Alliierten als offenkundige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands kennzeichnete und als unverschämten Versuch, die russische Armee und das russische Volk durch Drohungen zur Fortsetzung des Krieges und Durchführung der vom Zaren abgeschlossenen Verträge zu zwingen.

Aus dem Smolny kamen Aufrufe [18*] mit Anklagen gegen Duchonin, gegen die ihn umgebenden Offiziere und die in Mogiljow versammelten reaktionären Politikaster, die auf der ganzen Tausende Kilometer langen Front Millionen zorniger und argwöhnischer Soldaten in wilde Aufregung versetzten. Gleichzeitig machte sich, von drei Abteilungen zu allem entschlossener Matrosen begleitet, Krylenko auf den Weg zum Stab [19*], racheschnaubend und von den Soldaten mit Begeisterung empfangen. Als das zentrale Armeekomitee eine Erklärung zugunsten Duchonins erließ, marschierten sofort zehntausend Mann nach Mogiljow.

Am 2. Dezember erhob sich die Garnison von Mogiljow und bemächtigte sich der Stadt. Die Truppen verhafteten Duchonin und das Armeekomitee und zogen mit siegreichen roten Fahnen aus, den neuen Oberbefehlshaber zu begrüßen. Am nächsten Morgen zog Krylenko in Mogiljow ein. Er fand Duchonin eingesperrt in einem Eisenbahnwagen, den eine wütende Menge umlagerte. Krylenko hielt eine Ansprache, in der er die Soldaten dringend bat, den General ungeschoren zu lassen, da er nach Petrograd übergeführt und vom Revolutionstribunal abgeurteilt werden sollte. Während er eben endete, erschien plötzlich Duchonin selbst am Fenster, als wollte er eine Rede halten. Aber mit wildem Geheul drangen die Leute in den Wagen, rissen den alten General heraus und schlugen ihn auf der Plattform des Wagens tot. Auf diese Weise endete die Auflehnung des Stabes.

Mächtig gestärkt durch den Zusammenbruch der letzten Feste der feindlichen Militärstreitkräfte in Rußland ging jetzt die Sowjetregierung voller Zuversicht an die Organisierung des Staates. Viele der alten Beamten strömten ihr jetzt zu, und zahlreiche Mitglieder der anderen Parteien traten in den Regierungsdienst. Die aufs Geldverdienen Erpichten wurden allerdings durch das Dekrete über die Gehälter der Regierungsangestellten zurückgeschreckt, das die Bezüge der Volkskommissare – die die Höchstbezahlten waren –, auf fünfhundert Rubel (etwa fünfzig Dollar) im Monat festsetzte. Der Streik der Regierungsangestellten brach zusammen, als die Finanz- und Handelskreise die Unterstützung der Streikenden einstellten. Die Bankangestellten kehrte an ihre Arbeit zurück.

Mit dem Dekret über die Nationalisierung der Banken, der Einrichtung des Obersten Volkswirtschaftsrates und der Verwirklichung des Landdekrets in den Dörfern, mit der demokratischen Reorganisation der Armee sowie den durchgreifenden Änderungen in allen Zweigen der Regierungstätigkeit und auf allen Gebieten des Lebens, mit all dem – wirksam nur durch den Willen der Arbeiter, Soldaten und Bauern – begann langsam und unter vielen Irrtümern und Hemmungen der Aufbau des proletarischen Rußlands.

Nicht durch Kompromisse mit den besitzenden Klassen oder mit den anderen politischen Führern, nicht durch einfache Übernahme des alten Regierungsapparates eroberten die Bolschewiki die Macht, noch geschah dies mittels der organisierten Gewalt einer kleinen Clique. Wenn die Massen in ganz Rußland nicht zum Aufstand bereit gewesen wären, hätten sie nicht siegen können. Die einzige Erklärung des bolschewistischen Erfolges liegt darin, daß sie die tiefen und einfachen Bestrebungen der unterdrückten Volksmassen in die Tat umsetzten, indem sie sie dazu aufforderten, das Alte niederzureißen und zu zerstören, und daß sie dann gemeinsam mit ihnen inmitten der noch rauchenden Ruinen an der Errichtung einer neuen Ordnung arbeiteten.

Redaktionelle Fußnoten

1. Die Resolution Larins und der linken Sozialrevolutionäre urde mit fünfundzwanzig gegen zwanzig Stimmen abgelehnt.

2. Gemeint ist der Aufruf: Vom Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arebiterpartei Rußlands (Bolschewiki). An alle Parteimitglieder und an alle werktätigen Klassen Rußlands. Der Aufruf wurde von Lenin am 18. und 19. November verfaßt und in der Prawda vom 20. November 1917 veröffentlicht.





Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008