L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Kirows Ermordung


Alle letzten stalinistischen Amalgame sind auf Kirows Leichnam aufgebaut. Um sich im Moskauer Prozess auszukennen, gilt es zunächst die Geschichte dieses Mordes und der damit verbundenen Umstände in Erinnerung zu bringen.

Am 1. Dezember 1934 wurde in Leningrad Kirow von dem Terroristen Nikolajew getötet.

Über zwei Wochen lang wurde weder über den Mörder persönlich, noch über den Charakter des Mordes irgendetwas verlautbar.

Am 6., 12. und 18. Dezember meldeten die Sowjetblätter die Erschießung von weißgardistischen Terroristen (im ganzen 104 Personen), die zum größten Teil illegal aus Polen, Litauen, Finnland und Rumänien in die USSR gereist seien. Es wurde der Eindruck erweckt, als seien diese Leute im Zusammenhang mit der Nikolajewaffäre erschossen worden, d.h. als habe Nikolajew mit Weißgardisten in Verbindung gestanden.

Am 17. Dezember, 16 Tage nach dem Attentat, wurde in Resolutionen der Parteiorganisationen über die Ermordung Kirows zum erstenmal darauf angespielt, dass Nikolajew ehemals der „gegen die Partei gerichteten Sinowjewgruppe“ angehört habe (dieser Gruppe gehörte 1926 übrigens die gesamte Leningrader Parteiorganisation an).

Die Erwähnung Nikolajews als „Sinowjewist“ beleuchtete mit einem Schlage Stalins Vorhaben: zu versuchen, die linke Opposition und Trotzki mit der Ermordung Kirows zu, belasten, und zwar vermittels der ehemaligen Sinowjewgruppe, die allerdings im Januar 1928 mit der Opposition gebrochen hatte, die aber vom Polizeistandpunkt leichter in die Sache zu verwickeln war.

Am 22. Januar eilte die TASS mit, im Zusammenhang mit Kirows Ermordung seien 14 ehemalige Sinowjewisten verhaftet worden (Kotolynow, Schatzki, Mandelstam u.a.), von denen die meisten angeblich einem sogenannten „Leningrader Zentrum“ angehört haben sollen Dies Zentrum, dessen Vorhandensein in keiner Weise bewiesen wurde, bezeichnete die Meldung als ein „geschlossenes“. Weder Sinowjew, noch Kamenew, noch irgendein anderer bekannter Sinowjewist wurde von der Meldung auch nur mit einem Wort erwähnt.

Am 23. Dezember wurde verlautbart, am 16. Dezember, – also bereits vor einer Woche, – seien im Zusammenhang Mit der Nikolajewaffäre Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow, Balzajew usw. verhaftet worden; gegen sieben von ihnen, darunter Sinowjew, Kamenew und Jewdokimow würde übrigens „wegen Mangel an genügenden Unterlagen“ kein Gerichtsverfahren eingeleitet werden, und man werde sie der GPU zur administrativen Aburteilung überweisen,

Am 27. Dezember erschien in den Zeitungen die Anklageschrift in der Strafsache Nikolajew-Kotolynow usw., die nicht ein Wort von der Sinowjewgruppe und ihrer Beteiligung am Kirowmord enthält. [1]

Am 28.–29. Dezember fand der Prozess der vierzehn (Nikolajew, Kotolynow u.a.) statt, die wie bekannt zum Tode verurteilt und erschossen wurden.

Im Prozess der vierzehn hat die überwiegende Mehrzahl der Angeklagten trotz vierwöchiger Untersuchung ihre Teilnahme am Kirowmord nicht gestanden. Außer Nikolajew waren vollkommen geständig nur Swesdow und Antonow, teilweise auch Juskin, d.h. vier von vierzehn.

Wenn, wie es die neue Version des Moskauer Prozesses besagt, Sinowjew, Kamenew, Bakajew usw. nicht nur mit dem Leningrader Zentrum, welches das Kirowattentat verübt haben sollte, in Verbindung standen, sondern auch unmittelbar, praktisch diesen Mord leiteten, wie soll man dann erklären, dass eine einen Monat dauernde Untersuchung in dieser Hinsicht absolut keine Anzeichen zu Tage förderte? Warum hätten die Angeklagten, die volle Geständnisse ablegten, unbedingt die Rolle gerade Sinowjews, Kamenews usw. verschweigen sollen? Warum hätte deren Beteiligung auch von dem GPU-Agenten [2], der sich in Nikolajews Umgebung befand, verschwiegen werden sollen?

Die einzige Erklärung da für ist die, dass Sinowjew, Kamenew usw. mit der Ermordung Kirows gar nichts zu tun haben. Eben darum wagte man es nicht, sie damals, als sie noch nicht endgültig gebrochen waren, der Ermordung Kirows zu bezichtigen.

Am 16. Januar 1935 erschien in. den Sowjetblättern die Anklageschrift in Sachen des sogenannten Moskauer Zentrums, mit Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow u.a. an der Spitze.

Sinowjew, Kamenew, Jewdokimow u.a., von denen es noch einige Wochen vorher hieß, sie seien am Kirowmord unbeteiligt, wurden im Zusammenhang mit diesem Mord doch vor Gericht gestellt. Der Sache wurde eine neue Wendung gegeben. Am 15.–16. Januar tagte das Gericht über Sinowjew, Kamenew u.a., im ganzen neunzehn Angeklagte. Sie wurden beschuldigt, die „Restauration des Kapitalismus“ angestrebt und ja überhaupt sich konterrevolutionär betätigt zu haben. Keine einzige konkrete Tatsache, kein einziger Beweis wurde für diese Anklage erbracht. Vor Gericht hieß es nur, Sinowjew, Kamenew und die anderen hätten durch „böswillige Kritik“, „Verbreitung von Gerüchten“ terroristische Stimmungen genährt, und trügen deswegen die politische und moralische Verantwortung am Kirowmord. Zugleich hielt es das Gericht für erwiesen, dass keiner der Angeklagten mit dem Mord selbst etwas zu tun hatte, woran es ja auch für jeden irgendwie unterrichteten und politisch aufgeklärten Menschen nicht den geringsten Zweifel gab. Wenn Sinowjew–Kamenew auch nur irgendwie an der Ermordung Kirows mitgewirkt hätten, wie soll man sich dann wiederum erklären, dass die neue Untersuchung, vom 16. Dezember 1934 bis 15. Januar 1935, gleichfalls nicht einen einzigen Faden entdeckte der zur Kirows Ermordung führte? In die Affäre Sinowjew und Kamenew waren doch Dutzende von in ihrer Mehrzahl sehr demoralisierten Menschen verwickelt worden, die sich selbst und die anderen nichtbegangener Verbrechen beschuldigten. Und kein einziger hat auch nur mit einem Wort, mit einer Anspielung – sei es auch nur „zufällig“ – der GPU den Faden der Teilnahme Sinowjews, Kamenews u.a. am Kirowmord in die Hand gegeben!

1935 war Stalin gezwungen, sich damit zufriedenzugeben, dass Sinowjew und die anderen gestanden, die „moralische und politische Verantwortung“ am Kirowmord zu tragen, ein Geständnis, das schon damals unter Androhung der Erschiessung erpresst worden war. Doch durch die freche und absichtlich zweideutige Formulierung des Urteils – für die Teilnahme Sinowjews u.a. am Kirowmord habe „die Untersuchung keine Tatsachen erbracht“ – ließ Stalin sich die Möglichkeit offen diese Affäre später „auszubauen“ je nachdem, wie die Lage und die übrigen Umstände sich gestalten würden.

Alle Angeklagten entgingen seinerzeit der Erschießung. Sie wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Schon damals war es ganz klar, dass Sinowjews und Kamenews Verhaftung und Verurteilung nicht auf ihre Aktivität (die es gar nicht gab) zurückzuführen waren, sondern auf Stalins Plan, durch den Schlag auf diese Gruppe allen oppositionellen Stimmungen im Lande einen Schlag zu versetzen; insbesondere auch dem Teil der Bürokratie selbst, für den Sinowjew und Kamenew noch eine gewisse Autorität darstellten, und vor allem; um den „Trotzkismus“ zu schlagen.

Kaum war der Sinowjew–Kamenew-Prozess zu Ende, da begann um den Kirowmord eine neue, der Reihenfolge nach dritte Affäre. Am 23. Januar 1935 wurden zwölf leitende Leningrader GPU-Beamten unter folgender Anklage vors Militärgericht gestellt:

„In Kenntnis gesetzt von dem in Vorbereitung befindlichen Anschlag gegen S.M. Kirow, … legten sie nicht nur unaufmerksames Verhalten, sondern auch verbrecherische Nachlässigkeit an den Tag ..., ohne die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.“

Wir erfahren somit völlig unerwarteterweise, dass die GPU von dem in Vorbereitung befindlichen Anschlag auf Kirow „in Kenntnis gesetzt“ war, und dass die Leiter der Leningrader GPU „keine Massnahmen ergriffen zur rechtzeitigen Aufdeckung und Unterbindung der Wirksamkeit ... des Kirowmörders in Leningrad, L. Nikolajews, obgleich sie dazu alle nötige Gelegenheit hatten“.

Auf welche Weise konnte die GPU Kenntnis und „alle nötige Gelegenheit“ haben? Nur auf eine: unter den Leningrader Terroristen hatte die ihren Provokateur (vielleicht nicht bloß einen), der unmittelbar mit Nikolajew in Verbindung stand.

Das Verfahren gegen die Leningrader GPU-Beamten und die Formulierung des Urteils selbst beweisen unwiderleglich, dass die GPU an Kirows Ermordung nicht unbeteiligt war. Im Urteil heißt es wörtlich, dass „sie von dem in Vorbereitung befindlichen Anschlag auf Kirow unterrichtet (!) waren ..., und verbrecherische Fahrlässigkeit an dem Tag legten“. Trotzki hat in seiner dem Kirowmord gewidmeten Broschüre bereits auseinandergesetzt, dass die „Fahrlässigkeit“ hier nichts zu suchen hat, und geschrieben:

„Als die Vorbereitung des terroristischen Anschlags mit Wissen der GPU schon begonnen war, bestand Medwjeds (Leiter der Leningrader GPU) Aufgabe und die seiner Mitarbeiter durchaus nicht darin, die Verschwörer zu verhaften – das wäre zu einfach gewesen, nein, es musste noch ein passender Konsul gefunden, mit Nikolajew in Verbindung gebracht werden, ... es galt noch eine Verbindung zwischen der Sinowjew–Kamenewgruppe und den Leningrader Terroristen herzustellen. – Das ist keine so leichte Arbeit, sie erfordert Zeit, Nikolajew aber wollte nicht warten.“ [3]

Medwjed war ein Instrument in den Händen Stalin–Jagodas, weiter nichts. Stalin trägt folglich nicht aus die politische, sondern auch die direkte Verantwortung für Kirows Tod. Wahrscheinlich haben Stalin und die GPU diesen Tod nicht gewollt, sie gedachten wohl die Terroristen im letzten Augenblick zu verhaften, doch bei der Vorbereitung des Amalgams (der Konsul = Trotzki) spielten sie mit Kirows Kopf. [4] Dies Spiel wurde durch Nikolajews vorzeitigen Schuss zerstört. Unvollendet geblieben, brach die Kombination des Konsul mit Trotzki kläglich zusammen, und der Prozess gegen Sinowjew und Kamenew musste auf „allgemeine“ Beschuldigungen aufgebaut werden, ohne die Möglichkeit, sie in den Kirowmord zu verstricken. Jetzt, anderthalb Jahre später, ohne dass irgendwelche neue Tatsachen aufgetaucht wären, wurde in den Laboratorien der GPU eine neue, – die vierte! – Affäre um den Leichnam Kirows gebraut: Sinowjew, Kamenew usw., haben nunmehr selbst die Ermordung Kirows organisiert und durchgeführt.

* * *

Die Tatsache, dass es nicht eher gelang, Sinowjews und der anderen terroristisches Tun aufzudecken, erklären GPU und Gericht mit der außerordentlich großen Konspiration der Verschwörer.

Ist dem so? Der Moskauer Prozess ergibt ein ganz entgegengesetztes Bild. In der Theorie außergewöhnliche Konspiration, die sogar vorsah, nach der Machtergreifung die ausführenden Terroristen zwecks Verwischung der Spuren umzubringen, in der Praxis aber endloses Geschwätz über den Terror, endlose Begegnungen, Reisen, Mitteilungen.

Zeigen wir dies an Hand der Tatsachen. Bakajew reist mit der Absicht, Kirows Ermordung vorzubereiten, nach Leningrad und tritt dort in Verbindung mit Kotolynow, Lewin, Runijanzew, Mandelstam, Mjasnikow. [5] (All diese wurden bei der Nikolajewaffäre erschossen.) Fünf Personen trifft Bakajew. Doch das genügt ihm nicht.

Es stellt sich heraus, dass er nach Leningrad nicht allein gereist war, sondern mit einem „Trotzkisten-Terroristen“ (dessen Name nicht genannt wird und dessen Person das Gericht in keiner Weise festzustellen versucht). Da aber Bakajew offenbar unbedingt entdeckt werden wollte, bittet er, „die Leute zusammenzurufen“. „Nach einiger Zeit versammelten sich in Lewins Wohnung außer ihm selbst und Mandelstam, noch Sossizki, Wladimir Rumjanzew, Kololynow und Mjasnikow.“ [6] (Es fehlt nur noch der GPU-Chef Medwjed!) Aber Bakajew war gewiss der Meinung, dass noch nicht alles getan sei, um die Affäre auffliegen zu lassen und bittet daher, man möge ihn mit Nikolajew persönlich bekannt machen. Er trifft Nikolajew und unterhält sich mit ihm über Kirows Ermordung, und zwar nicht unter vier Augen, sondern im Beisein desselben anonymen „Trotzkisten“, als hätte er absichtlich Zeugen haben wollen.

Und noch ein interessantes Detail. Bakajew trifft bei seiner Reise nach Leningrad auf dem Bahnhof Lewin. Dieser klagt ihm: „Ach, Grigory Jewsejewitsch (Sinowjew) glaubt wohl weder Gertik noch Kuklin noch sogar Jewdokimow.“ [7] Wir erfahren auf diese Weise, – das ist übrigens auch in der Anklageschrift vermerkt – dass mit den Leningrader Terroristen auch Gertik, Kuklin und Jewdokimow in Verbindung standen. Und das nennt sich „Konspiration“!

Sinowjew sendet nicht nur persönlich Bakajew, Gertik, Kuklin und Jewdokimow (und später, wie wir sehen werden, auch Kamenew selbst) nach Leningrad zwecks Verbindung mit den Terroristen, sondern hält es auch für erforderlich, es jedem, der es hören will, zu erzählen. So z.B. erklärt Reingold, der – den Gerichtsakten zufolge – am Terrorattentat gegen Kirow nicht unmittelbar teilnahm: „Von Sinowjew persönlich weiß ich, dass die Ermordung Kirows in Leningrad auf seine direkte Anweisung ... vorbereitet wurde“ ... [8] Es sieht ganz so aus, als sei Sinowjew sehr besorgt gewesen, seine persönliche Rolle bei der Ermordung Kirows könne unbemerkt bleiben und nicht genügend gewürdigt werden. Derselbe Reingold sagt aus, die Verbindung mit den Leningrader Terroristen sei von Faiwilowitsch aufrechterhalten worden.

Bakajew sagt aus, mit Kirows Ermordung sei auch Karew beauftragt worden: Jewdokimow schlug auch vor, Karew mit Lewin und Anischew in Verbindung zu setzen. Sinowjew genügte das natürlich nicht und er schlug vor, Karew in Leningrad auch mit Rumjanzew in Verbindung zu bringen. Somit befand sich Karew mit Lewin, Anischew und Rumjanzew in Verbindung. Außerdem teilt Bakajew Karew „gesprächsweise“ die Existenz einer terroristischen Gruppe um Kotolynow mit. Damit ist die Sache noch nicht zu Ende. Es stellt sich heraus, dass Kamenew im Juni 1934 selbst nach Leningrad gefahren war, wo er „den aktiven Sinowjewisten Jakowlew beauftragte, parallel zur Gruppe Nikolajew-Kotolynow einen Anschlag auf Kirow vorzubereiten“ [9]; Kamenew teilt Jakowlew ferner mit, Terrorakte würden auch von anderen Gruppen vorbereitet: in Moskau gegen Stalin, in Leningrad von der Gruppe Rumjanzew-Kotolynow gegen Kirow.

Auf der Suche nach neuen Zuhörern unterhält sich Sinowjew über seine terroristischen Pläne auch mit Matorin und Pikel, und Pikel bringt Bakajew mit noch einem „Terroristen“, Radin, zusammen.

Mratschkowski kehrt nach fast zweijähriger Abwesenheit im Sommer 1934 nach Moskau zurück. Kamenew erzählt ihm sofort, dass „Bakajew in Leningrad einen Terrorakt gegen Kirow ... organisiere“. [10]

Jewdokimow schließlich „erzählt, dass im Sommer 1934 in der Wohnung Kamenews in Moskau eine Beratung stattfand, der Kamenew, Sinowjew, Jewdokimow, Sokolnikow, Ter-Waganjan, Reingold und Bakajew beiwohnten. In dieser Beratung wurde beschlossen, die Ermordung Kirows zu forcieren“. [11]

Demnach haben Dutzende von Terroristen – allein die obengenannten sind schon 24 Mann [12] – viele Monate lang von Terror gesprochen, terroristische Begegnungen gehabt, terroristische Versammlungen abgehalten, usw. usw. Sie redeten davon mit jedem, der es hören wollte, alle ihre Freunde und Bekannte wussten, dass sie die Ermordung Kirows vorbereiteten, nur einer wusste nichts – davon: ... die GPU Und als die GPU schließlich nach Kirows Tod die Leute verhaftet, vermag sie aus ihnen nichts herauszubekommen. Fast zwei Monate Untersuchung in der Kirowaffäre, die Anwesenheit – wiederholen wir es – eines (oder mehrerer) GPU-Agenten unter den Terroristen, drei Prozesse – und die GPU weiß immer noch nichts von der „Terroraktivität“ Sinowjews, Kamenews und der anderen. Die Sache scheint sich auf dem Monde abzuspielen, und nicht in dir USSR, die doch gänzlich von den Netzen der allmächtigen GPU durchzogen ist.

* * *

Und all dieser unwahrscheinliche „terroristische“ Hokuspokus und Lärm um die Person eines Kirow. Warum gerade Kirow? Nehmen wir eine Minute lang an, Sinowjew und Kamenew seien wirklich Terroristen gewesen. Wozu mussten sie dann Kirow töten? Sinowjew und Kamenew waren zu klug, um nicht zu verstehen, dass mittels der Ermordung eines Kirow – dieser ganz drittrangigen Gestalt, die sofort durch einen anderen Kirow, Shdanow, ersetzt wurde – sie nicht „an die Macht kommen“ konnten. Nach den Worten der Anklagerede aber strebten sie durch den Terror doch gerade nach der Macht und nur danach!

Bemerken wir noch folgendes. Sinowjew, sagt Wyschinski, beschleunigte Kirows Ermordung, und „nicht zuletzt war das Motiv auch der Wunsch, die trotzkistischen Terroristen zu übertrumpfen“, [13] und an anderer Stelle: „Und Sinowjew erklärte es als eine ‚Sache der Ehre‘: ... sein verbrecherisches Vorhaben (die Ermordung Kirows) schneller zu verwirklichen, als die Trotzkisten es verwirklichen können“. [14] Bakajew seinerseits erklärte vor Gericht:

„Sinowjew sagte, dass die Trotzkisten auf Vorschlag Trotzkis zur Organisierung der Ermordung Stalins geschritten sind und dass wir (d.h. die Sinowjewisten) die Initiative bei der Ermordung Stalins in unsere Hand nehmen müssten“. [15]

Wenn Sinowjew so sehr bestrebt war, seine und seiner Freunde Beteiligung an den Terrorakten zu verbergen [16], so hätte er doch sehr zufrieden sein müssen, dass die „Trotzkisten“ das ganze Risiko auf sich nahmen und die Sinowjewisten, obgleich außerhalb der Gefahrenzone, später die Früchte des Sieges würden genießen können.

Hier ist eine offenkundige Ungereimtheit: entweder will Sinowjew seine Teilnahme an Terrorakten verbergen, oder er gibt diesen Akten politisch-demonstrativen Charakter (gerade wir, die Sinowjewisten, und nicht die Trotzkisten), aber doch nicht beides zugleich!

* * *

Es unterliegt keinem Zweifel: wäre auch nur ein Zehntel dessen, wessen sich die Angeklagten beschuldigen, wahr, so wären sie mindestens zwei Jahre früher verurteilt und erschossen worden. Kirows Ermordung war die Tat einiger verzweifelter Leningrader Jungkommunisten, ohne Verbindung mit irgendeiner zentralen Terrororganisation (die es gar nicht gab). Weder Sinowjew, noch Kamenew, noch irgendein anderer alter Bolschewik hat das Geringste mit dem Kirowmord zu tun.


Anmerkungen

1. Es wurde der Versuch gemacht, L.D. Trotzki unmittelbar in die Affäre zu mengen mit Hilfe eines anonymen Konsuls. Darüber siehe Seite 30.

2. Siehe weiter unten.

3. Siehe L. Trotzki: Die Stalinbürokratie und die Ermordung Kirows.

4. Vor kurzem kamen Neuigkeiten aus der Sowjetunion, die diese Angelegenheit in ganz neuem Lichte erscheinen lassen. Demnach hat Kirow sich in der letzten Zeit seines Lebens Stalin in der Frage der blutigen Unterdrückung gegen Parteimitglieder, wenigstens rechte, widersetzt. So stimmte Kirow gegen die Erschießung des Rechten Rjutin und hatte in dieser Frage im Politbüro die Mehrheit hinter sich, gegen Stalin.

Es wird behauptet, die Beziehungen zwischen Stalin und Kirow seien gespannt gewesen. Unter diesen Umständen ist es sehr gut möglich, dass Stalin nicht nur mit Kirows Kopf spielte, sondern das Spiel auch absichtlich sehr weit trieb und nichts dagegen hatte, dass Kirow getötet würde. In naher Zukunft wird uns diesbezüglich gewiss Aufklärung zuteil werden.

5. Prozessbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums, herausgegeben vom Volkskommissariat für Justizwesen der USSR, Seiten 33 und 34.

6. Ebendort, S.61.

7. Ebendort, S.61.

8. Ebendort, S.32.

9. Ebendort, S.67.

10. Ebendort, S.43.

11. Ebendort, S.48.

12. Diese Zahl erhöht sich noch wesentlich, wenn man alle angeblich am Kirowmord Beteiligten hinzurechnet. Eine solche Zahl von Beteiligten ist beispiellos in der Geschichte des Terrorismus. Nimmt man die Tätigkeit der terroristischen Organisation der Sozialrevolutionäre, an waren z.B. bei der Ermordung des Zarenministers Plehwe durch Sassonow (1904) acht Personen beteiligt, nämlich vier Bombenwerfer und Beobachter, zwei Organisatoren und zwei Inhaber der illegalen Wohnung. Ein Neunter war der Vermittler zwischen der Gruppe und der Partei. Nicht einmal das Zentralkomitee der Sozialrevolutionäre war über die Tätigkeit dieser Gruppe informiert. Bei der Ermordung des Großfürsten Sergej durch Kaliajew (1905) waren sechs, sieben Personen beteiligt. Und hierbei handelte es sich um Bombenattentate, deren technische Vorbereitung und Durchführung eine größere Anzahl von Beteiligten erforderte. Bei dem Attentat auf den Minister Sipiagin, der von Balmaschow mit einem Revolver erschossen ... wurde, waren im ganzen nur vier Personen beteiligt. Wir sehen also, dass bei der Tätigkeit echter Terroristen nur eine sehr beschränkte Zahl von Personen beteiligt war, wobei jede von ihnen eine ganz bestimmte, scharf umrissene Funktion hat. Diese Terroristen waren von der Außenwelt isoliert, und außer ihnen wusste niemand von ihrer Tätigkeit. Bei der Ermordung Kirows hingegen gibt es angeblich 30–90 Beteiligte und Informierte, die über ihre Pläne ununterbrochen redeten und berieten. Wäre es möglich, ein Gutachten über die Vorbereitung des Attentats auf Kirow zu bekommen, so würde dieses zweifellos die völlige Unmöglichkeit feststellen, auf diese Weise Kirow zu ermorden. Dieses Attentat wäre nie zustandegekommen und die „Terroristen“ hätten lange vor ihrer Tat in die Hände der Polizei fallen müssen.

13. Ebendort, S.149.

14. Ebendort, S.150.

15. Ebendort, S.48.

16. Reingold z.B. sagte aus, und das Gericht unterstellte es als erwiesen, Sinowjew habe ihm gesagt: „die praktische Hauptaufgabe sei, die terroristische Arbeit so konspirativ aufzubauen, dass man sich unter keinen Umständen kompromittiert ...“ (Prozessbericht, S.19).




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009