L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Die Angeklagten und ihr Verhalten vor Gericht


Die Angeklagten scheiden sich scharf in zwei Gruppen. Der Grundkern der ersten Gruppe sind die alten, weltbekannten Bolschewiki, Sinowjew, Kamenew, Smirnow usw. Die zweite Gruppe besteht aus unbekannten jungen Leuten, unter denen sich auch direkte GPU-Agenten befanden; man bedurfte ihrer im Prozess, um Trotzkis Mittäterschaft am Terror nachzuweisen, eine Verbindung zwischen Trotzki und Sinowjew und eine Verbindung mit der Gestapo herzustellen. Wenn sie nach Ausführung des GPU-Auftrags dennoch erschossen wurden, so weil Stalin so gut unterrichtete Zeugen nicht am Leben lassen konnte.

Die künstliche Vermengung der beiden Gruppen in einem Prozess stellt ein typisches Amalgam dar.

Das Verhalten der beiden Gruppen vor Gericht war ebenso verschieden wie ihre Zusammensetzung. Die alten Bolschewiki, saßen ganz gebrochen, niedergedrückt da, antworteten mit erloschener Stimme, weinten gar. Sinowjew ist abgezehrt, gebückt, weißhaarig, hohlwangig. Mratschkowski spuckt Blut, verliert das Bewusstsein und muss hinausgetragen werden. Sie alle sehen aus wie gehetzte und unendlich ermattete Menschen. Die jungen Abenteurer hingegen benehmen sich frei und ungezwungen, sie haben frische, fast heitere Gesichter, fühlen sich beinahe wie auf einem Fest. Mit unverhüllter Genugtuung berichten sie von ihren Beziehungen zur Gestapo und all die anderen Märchen. [1]
 

Die Angeklagten der ersten Gruppe

1. Sinowjew, G.E. (geb. 1883), in der Partei seit der Gründung der bolschewistischen Fraktion im Jahre 1903, langjähriger, engster Mitarbeiter Lenins in der Emigration. Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros, Vorsitzender des Petersburger Sowjets nach der Oktoberrevolution. Einer der Gründer der Kommunistischen Internationale und viele Jahre lang ihr permanenter Vorsitzender. Verließ die Opposition im Januar 1928.

2. Kamenew, L.B. (geb. 1885), wie Sinowjew Parteimitglied seit 1901. Bolschewik seit der Gründung der Fraktion auf dem 2. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter Partei, langjähriger Mitarbeiter Lenins in der Emigration, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees und des Politbüros, Vorsitzender des Moskauer Sowjets und Vorsitzender des Rats der Arbeit und der Verteidigung, Stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Verließ die Opposition im Januar 1928.

3. Jewdokimow, G.E. (geb. 1884), einer der ältesten Arbeiterbolschewiken, Leiter des Leningrader Sowjets und der Leningrader Parteiorganisation. Ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees und des Orgbüros des ZK. Sinowjewist, verließ die Opposition im Januar 1928.

4. Bakajew, I.P. (geb. 1887), einer der ältesten Arbeiterbolschewiki, ehemals Mitglied der Zentralen Kontroll-Kommission, hervorragender Teilnehmer des Bürgerkriegs; leitete eine Zeit lang die Leningrader Tscheka. Sinowjewist, verließ die Opposition im Januar 1928.

5. Smirnow, I.N. (geb. 1880), Parteimitglied seit 1899, einer der ältesten Bolschewiki, befand sich in der Zeit des Zarismus wiederholt in Verbannung und Gefängnis. Aktiver Teilnehmer der Oktoberrevolution, Führer der 5. Armee, die Koltschak schlug. Leitete die gesamte Sowjet- und Parteiarbeit in Sibirien nach dem Siege. Mitglied des Zentralkomitees und Volkskommissar für Post- und Telegraphenwesen. Linksoppositioneller seit 1923, verließ die Opposition 1929.

6. Mratschkowski, S.W. (geb. 1883), Arbeiter vom Ural, aus revolutionärer Familie (er ist im Gefängnis geboren), alter Bolschewik, einer der Helden des Bürgerkriegs. Nach dem Sieg leitete er verantwortliche Militärarbeit, hatte das Oberkommando im Wolga-Militärbezirk, usw. Linksoppositioneller seit 1923, verließ die Opposition 1929.

7. Ter-Waganjan, W.A. (geb. 1893), alter Bolschewik und marxistischer Schriftsteller, Begründer der Zeitschrift „Unter dem Banner des Marxismus“, Verfasser mehrerer Arbeiten, insbesondere über Plechanow, Lenin u.a. Linksoppositioneller seit 1923, verließ die Opposition 1929.

8. Golzman, E.S. (geb. 1882), alter Bolschewik, Wirtschaftsfunktionär. Aktiver Oppositioneller ist er nie gewesen, sympathisierte mit der Opposition 1926-1927.

9. Piket, R.W. (geb. 1896), Parteimitglied seit Beginn der Revolution, Bürochef Sinowjews, Schriftsteller. Sinowjewist, verließ die Opposition im Januar 1928.

10. Dreitzer, J.A. (geb. 1894), Parteimitglied seit 1917, aktiver Teilnehmer am Bürgerkrieg. Linksoppositioneller seit 1923, verließ die Opposition 1929.

11. Reingold, I.I. (geb. 1897), Parteimitglied seit 1917, bekannter Finanzfunktionär, eine Zeit lang stellvertretender Volkskommissar für Finanzen und Mitglied des Kollegiums des Finanzkommissariats. Aktiver Oppositioneller ist er nie gewesen, verließ die Opposition im Januar 1928.
 

Die zweite Gruppe

1. Berman-Jurin, K.B. [2] (geb. 1901), hat nie der Linken Opposition angehört oder irgendwelche Beziehungen zu ihr gehabt; er arbeitete im Stalinapparat, sowohl während seines Aufenthalts in Deutschland wie nach seiner Rückreise nach Russland. Berman-Jurins Name war im Westen überhaupt niemandem bekannt. Erst eine in der Zeitung der deutschen Stalinisten Die Deutsche Volkszeitung (vom 6. September 1936) erschienene Mitteilung, dass Berman-Jurin auch Stauer hieß, ermöglichte die Feststellung, dass ein Berman-Jurin tatsächlich existiert hat.

2. Fritz David (I.I. Krugljanski) [3] (geb. 1897), hat nie der Linken Opposition angehört oder irgendwas mit ihr gemein gehabt; Funktionär des Stalinapparats, insbesondere des Gewerkschaftsapparats, ehemaliger KPD-Theoretiker für Gewerkschaftsfragen und Redakteur des Zentralorgans der Roten Gewerkschaften (RGO), wo er des öfteren gegen den Trotzkismus ausfällig wurde. Mitarbeiter der Roten Fahne und, bis in die letzte Zeit hinein, der Moskauer Zeitungen Iswestija und Prawda.

3. Lurie, M.I. (Emel) [4] (geb. 1897), KPD-Mitglied und -Funktionär. Gehörte zur Sinowjewopposition, kapitulierte aber in der Periode des 15. Kongresses der russischen KP (Januar 1928), wurde aus der Partei nicht ausgeschlossen. Seither hat er nicht nur mit der Opposition gebrochen, und sich zur „Generallinie“ bekehrt, sondern sich sogar „spezialisiert“ auf Artikel im reinen Schwarzhundertstil gegen den Trotzkismus.

Überwinden wir unseren Ekel und zitieren wir eins der Machwerke dieses Emel (Lethe) in Nr.96 des deutschen Imprekorr vom Dezember 1932: „Diesen sozialen Auftrag der Bourgeoisie (ihr Verleumdungen gegen die Sowjetunion zu liefern) erfüllt gegenwärtig Leo Trotzki ... In Pilsudski-Polen erfreut sieh Trotzki einer ganz besonderen Sympathie seitens der politischen Polizei“ Kommentar überflüssig! Das Zentralorgan der deutschen Linksopposition, Permanente Revolution (Nr.32, Nr.34), widmete bereits damals den antitrotzkistischen Erzeugnissen dieses Subjekts zwei Notizen.

Auch in Fritz Davids schriftstellerischen Produkten sind selbstverständlich Anliche Perlen zur Genüge zu finden. Und diese Leute figurieren im Prozess als „Trotzkisten“!

Das Zentralkomitee der KPD hat diese drei „Trotzkisten“ – Fritz David, M. Lurie und Berman-Jurin – anderthalb Monate nach ihrer Erschießung ausgeschlossen. (Deutsche Volkszeitung vom 11. Oktober 1936.)

4. Lurie, N.L. (geb. 1901), völlig unbekannt; bis jetzt sind keine Einzelheiten oder Spuren von ihm zu finden gewesen.

Die obengenannten Vier waren nicht nur Trotzki, Sedow und ihren nächsten Freunden persönlich unbekannt, sondern auch ihre Namen lernten Trotzki und Sedow erst aus den Pressmeldungen über den Moskauer Prozess kennen.

5. Olberg, V.P. (geb. 1907), machte 1930 den Versuch, in Berlin der deutschen Linksopposition (die sich damals „Minderheit des Leninbundes“ nannte) beizutreten. Er stieß jedoch auf Ablehnung, da er kein Vertrauen einflößte. (Er verblieb in der KPD, arbeitete an den stalinistischen Publikationen mit, usw.) Olberg wandte sich dann an die „Weddinger Opposition“ (Landaugruppe), wo er aufgenommen wurde. Infolge der Vereinigung der beiden Gruppen gelang es Olberg, in die deutsche Organisation der Linksopposition hineinzukommen. In dieser Periode bot er seine Dienste als Sekretär L.D. Trotzkis an. Trotzkis Berliner Freunde – das Ehepaar Pfempfert, der bekannte revolutionäre deutsche Verleger und Redakteur der Zeitschrift Die Aktion – machten aus diesem Anlass Olbergs Bekanntschaft. Pfempfert schrieb darüber in einem Brief vom 1. April 1930 an Trotzki folgendes: „Olberg macht einen höchst unvorteilhaften und wenig vertrauenerweckenden Eindruck.“ In demselben Brief teilt Pfempfert mit, welchen unangenehmen und verdächtigen Eindruck Olbergs übertriebenes Interesse für die russische Opposition, für Trotzki, seine Lebensweise usw. gemacht habe. Selbstverständlich war die Frage einer Reise Olbergs zu Trotzki damit erledigt.

Im April–Mai 1931 wurde Olberg mit der Landaugruppe aus der deutschen Linksopposition ausgeschlossen. Im Februar 1932 gab er eine Erklärung ab mit der Bitte um Wiederaufnahme in die Organisation. Das wurde wiederum abgelehnt. Wir zitieren hier eine der Olberg betreffenden Aussagen E Bauers, der heute nach Verlassen der trotzkistischen Organisation Mitglied der SAP ist, damals aber Sekretär der deutschen Opposition war. Bauer schreibt: „Ein Wiederaufnahmeantrag (Olbergs) im Februar 1932 ... wurde von mir damals eigenhändig abgelehnt ... Seitdem haben wir alle niemals mehr von O(lberg) gehört.“

Sedow hat Olberg persönlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 und zu Anfang 1932 dann und wann getroffen. Gegenstand dieser Begegnungen waren vorzugsweise einige technische Hilfsdienste, die Olberg leistete: er verschaffte notwendige Bücher, Zeitungsausschnitte usw. Diese Begegnungen mit einem Nichtorganisationsmitglied waren nicht politischer Natur im eigentlichen Sinne des Wortes, und umsoweniger organisatorischer Natur, als Sedow sich von der Arbeit der deutschen Opposition ferngehalten hat.

Seit 1932 – wiederholen wir das – hat niemand, weder Sedow, noch sonst irgendein Trotzkist zu Olberg in irgendwelchen Beziehungen gestanden. Seit 1932, d.h. seit mehr als vier Jahren, haben sie Olberg vollständig aus den Augen verloren, bis zum Prozess. Das ist keine leere Behauptung. In der Emigration gibt es viele Dutzend Leute, die der deutschen Linksopposition angehörten oder mit ihr in enger Berührung standen, darunter auch solche, die ihr politisch feindlich gesonnen waren. Sie alle werden unsere Erklärung ohne Zweifel bestätigen; einige haben es schon getan, im Besonderen gilt dies für die deutsche Emigration in Prag, wo sich Olberg in den letzten Jahren aufhielt, ohne mit einem einzigen deutschen Trotzkisten in Verbindung zu treten, von denen es in Prag nicht wenig gibt.

Und dieser Mensch gibt vor, Trotzkis „Emissär“ in Deutschland gewesen zu sein, Trotzkis „absolutes Vertrauen“ besessen und von der Opposition Geld [5] zur Anschaffung eines Passes erhalten zu haben usw.!

* * *

Man muss noch einige Worte über die ganz verschiedene Rolle sagen, die diese beiden Angeklagtengruppen in der Voruntersuchung gespielt haben: die alten Bolschewiki und die jungen Unbekannten.

Zunächst beschränken sich die Aussagen der meisten Alten auf wenige Seiten. Im Prozess werden die Aussagen zitiert: Jewdokimow Seite 6 bis 10, Sinowjew Seite 16 bis 38, Kamenew Seite 10 bis 34, Ter-Waganjan Seite 11 bis 32; dabei liegen die Daten ihrer Aussagen um Ende Juli, Anfang August, ja sogar bis zum 14. August.

Anders steht die Sache bei den „Jungen“. Olberg z.B. begann seine ersten Aussagen bereits im Januar ausmachen (am 21. Februar war er schon bei den Seiten 77–88). Am 9. Mai war Olbergs Untersuchung schon abgeschlossen. Seine Aussagen bilden einen Band von 262 Seiten; und erst auf der allerletzten Seite erinnert sich Olberg an die Verbindung der Trotzkisten mit der Gestapo, d.h. am letzten Tag seines Verhörs, auf der allerletzten Seite! [6] Somit war die Untersuchung des Falles Olberg fast drei Monate abgeschlossen, bevor die Alten, Kamenew, Ter-Waganjan, Jewdokimow, Smirnow usw. ihre ersten „Geständnisse“ ablegten. M. Lurie war am 21. Juli bereits an den Seiten 243–244 angelangt, wobei seine Aussage über seine Verbindung mit der Gestapo wieder erst auf diesen letzten Seiten steht; und erst auf der 251. Seite, d.h. offenbar ganz am Ende der Untersuchung sagt er aus. Sinowjew habe von diesen Verbindungen Bescheid gewusst. N. Lurie sagte bezgl. der Gestapo am gleichen Tage aus wie M. Lurie, am 21. Juli, auf der 142. Seite.

Bemerkenswert ist, dass auch Dreitzers, und besonders Reingolds Aussagen – dieser benahm sich vor Gericht wie ein GPU-Agent. belastete alle und jeden – ebenfalls einen dicken Band darstellen. Auf den Seiten 102–103 „erinnert“ sich Dreitzer daran, dass Trotzki ihm einen eigenhändigen Brief sandte, und auf Seite 195, dass er zusammen mit Schmidt und anderen terroristische Akte vorbereitete.

Reingolds Aussagen werden am meisten zitiert. Sie waren das Hauptmaterial der Anklage, im Besonderen zur Belastung der anderen Angeklagten.

* * *

Unter den Angeklagten des Prozesses befindet sich kein einziger wirklicher Bolschewik-Leninist. Mit den Sinowjewisten hat die Linke Opposition im Januar 1928 gebrochen, als jene vor der Stalinbürokratie kapitulierten. Smirnow, Mratschkowski, Ter-Waganjan und Dreitzer verließen die Opposition zwei Jahre später, Ende 1929.

Seit Januar 1928 hat Trotzki keinerlei Beziehungen zu den Sinowjewisten mehr gehabt, weder persönlich, noch durch irgendeinen anderen, schrieb ihnen kein einziges Mal, noch erhielt er von ihnen einen einzigen Brief. Und das ist verständlich. Der Weg der Linken Opposition, die den unversöhnlichen Kampf gegen den Stalinismus vertritt, und der Weg der vorm Stalinismus kapitulierenden Gruppen gingen schroff auseinander.

* * *

Sinowjew und Kamenew bildeten mit Stalin 1922–23 die sogenannte „Troika“, in deren Händen während Lenins Krankheit und insbesondere nach seinem Tod faktisch die ganze Macht lag. Mit Hilfe des Parteiapparats hat die Troika den Kampf gegen Trotzki und den „Trotzkismus“ vorbereitet und geführt. Doch bald zerfiel sie selbst. Sinowjew und Kamenew mit ihrer internationalen Erziehung, ihrer Emigrationserfahrung und zum Teil unter dem Einfluss der Leningrader Arbeiter gerieten in Opposition zu Stalin, zu seiner nationalen Politik des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande, des Kurses auf den Kulaken usw. Sinowjew und Kamenew stützten sich dabei auf den Apparat der Leningrader Parteiorganisation, der natürlich nicht imstande war, es mit dem gesamtrussischen Apparat aufzunehmen, den Stalin automatisch in den Kampf gegen Sinowjew und Kamenew einschaltete. Bald 1926, stellten sich Sinowjew–Kamenew trotz ihrem früheren Kampf gegen den „Trotzkismus“ auf die Plattform der Linken Opposition und erkannten deren Richtigkeit an. Der Übertritt der „Erfinder“ des Trotzkismus als einer dem Leninismus feindlichen ideologischen Richtung, ins Lager der Linken Opposition versetzte dieser Legende vom Trotzkismus einen unverwindlichen Schlag. Doch die aus dem Apparat hervorgegangene Sinowjewopposition war sehr zur Diplomatie, zu Kombinationen, taktischen Manövern, Kompromissen mit dem Apparat, Kapitulation usw. geneigt. Bereits im Januar 1928, auf dem 15. Kongress der russischen Partei, kapitulierten Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde vor der Stalinfraktion, kapitulierten nicht nur aus Mangel an politischem Mut, sondern auch in der aufrichtigen Überzeugung, dass man den Kampf nicht bis zur Spaltung führen dürfe.

Im weiteren Verlauf kapitulierten Sinowjew, Kamenew und ihre Freunde noch zweimal. Bei jeder neuen Kapitulation machten sie immer größere Zugeständnisse an Stalin, sanken sie immer tiefer und wurden so seine Gefangene. Stalin nahm sie immer fester in die Zange. Hatten sie zu Anfang „bloss“ den parteifeindlichen Charakter ihrer Tätigkeit gestanden, so waren sie bald gezwungen, ihr „konterrevolutionäres Wesen“ zuzugeben und Stalin zu beweihräuchern, später aber (unter Androhung der Erschießung) gar die „politische und moralische Verantwortung“ für den Kirowmord zu übernehmen. Indem sie alles zugaben, was Stalin von ihnen verlangte, indem sie gegen sich selbst, ihre Genossen, die Partei die tollsten Anschuldigungen erhoben, wurden sie zu einem Spielball in den Händen der bonapartistischen Stalinspitze.

Wenn auch nicht im selben Grade, gingen Smirnow, Mratschkowski u.a. doch denselben Weg. Sie alle bewiesen 1929 durch ihre Kapitulation vor Stalin, dass sie keine revolutionären Kämpfer mehr waren, sondern ermattete Menschen mit einer grossen Vergangenheit, aber ohne Zukunft. Die Kapitulation hat sie auf immer innerlich gebrochen.

Das Verhalten der Angeklagten im Prozess war nur ein tragischer Abschluss, die letzte Etappe ihres politischen Falls.

* * *

All das vergisst man in Westen (nicht in der USSR, dort versteht man es leider zu gut), wenn man sich fragt, wieso Menschen wie Sinowjew, Kamenew und insbesondere Smirnow oder Mratschkowski, alte Kämpfer und Revolutionäre, so tief fallen konnten. In Gedanken stellt man sich dabei den Sinowjew oder Smirnow nicht der letzten Periode, sondern der heroischen Jahre der russischen Revolution, vor. Aber seit jener Zeit sind fast 20 Jahre verflossen, und davon entfällt mehr als die Hälfte auf das verfaulte thermidorianische Stalinregime. Nein, auf der Anklagebank saßen nur die Schatten des Smirnow des Bürgerkriegs oder des Sinowjew der ersten Jahre der Komintern. Auf der Anklagebank saßen geknickte, gebrochene, abgekämpfte Menschen. Bevor Stalin sie physisch vernichtete, hatte er sie bereits gebrochen und moralisch vernichtet.

Kapitulationen sind eine schiefe Ebene. Noch niemandem ist es gelungen, darauf stehen zu bleiben. Wer sich einmal auf sie begeben hat, muss weiter hinabgleiten, bis ans Ende. Rakowski, der sich länger hielt als die anderen Alten – er hat erst 1934 kapituliert – ist heute schon soweit, Sinowjews, Kamenews und Trotzkis Erschießung zu fordern! Dies Verhalten gerade eines Rakowski stieß im Westen ganz besonders auf Unverständnis: ein ehrlicher, moralisch sauberer Mensch, und mit einem Mal ..., wie ist das denkbar? Als ob Rakowski dem schweren bürokratischen Mühlstein, der von den ehemaligen Kämpfern nichts als die menschliche Hülle übrig lässt, hätte entrinnen können.

Man müsste sich viel eher fragen, wieso denn Rakowski, der bis 1934 an der Spitze der Opposition stand, vom Terror, wenn dieser wirklich existierte, nichts wissen konnte? Rakowski, der bis 1934 in der Opposition geblieben war, beruft sich als Beweis für den „Terror“ auf ... Sinowjew, Kamenew usw., mit denen die Opposition im Jahre 1928 gebrochen hatte. Halbe Kapitulationen erkennt der stalinsche Absolutismus nicht an: alles oder nichts, ein Mittelding gibt es nicht.

Die Stalinsche „Kunst“, revolutionäre Charaktere zu brechen, besteht darin, vorsichtig, allmählich vorzugehen, die Betreffenden von Stufe zu Stufe zu stossen, immer tiefer und tiefer ... Ja, was hätte sie wohl zum Kampf treiben sollen? Sie haben nicht nur auf ihre Ansichten verzichtet, sondern auch Stalin gehelfen, sie in den Schmutz zu zerren. Befände sich die internationale Arbeiterbewegung nicht in solchem Tiefstand, diese Leute würden sich ohne Zweifel anders verhalten haben. Isoliert von der revolutionären Bewegung, ja überhaupt von der ganzen Welt, sahen sie nur das Wachsen und Erstarken des Faschismus, in der USSR aber die Finsternis des Stalinismus. Das klägliche Verhalten der Angeklagten ist vor allem Ausdruck der tiefen Verzweiflung von Menschen, die jede Perspektive verloren haben.

Und wie wäre es möglich, dass die Menschen der Sowjetunion, auch die besten, nicht demoralisiert werden? Stählten sich Revolutionäre etwa je im luftleeren Raum? Nein, das bedurfte kollektiver Arbeit, des Verkehrs untereinander, mit der Masse, theoretischer Selbsterziehung usw. Erst unter diesen Umständen konnte sich der Typ des Revolutionärs und des Bolschewiken herausbilden. Doch das ist ferne Vergangenheit. In den letzten zehn Jahren spielt sich in der USSR, und nicht nur dort, ein rückläufiger Prozess ab. Das Fehlen von öffentlichem Leben, von Gedankenfreiheit und kollektivem Handeln, einheitlich infolge bewusster und nicht sklavischer Disziplin, all das musste die Alten ausrangieren und die Formung der Jungen verhindern.

Man macht sich darum der Oberflächlichkeit schuldig, wenn man das Benehmen der Moskauer Angeklagten mit dem einzelner mutiger Kämpfer vor den faschistischen Henkern vergleicht. Diese Kämpfer sind nicht durch zehn Jahre lange stalinistische Herrschaft gebrochen, nicht isoliert wie Stalins Moskauer Opfer, sie fühlen die Unterstützung des Weltproletariats hinter sich. Der Gegensatz der Lager ist auch viel schärfer: Faschismus–Kommunismus. In Moskau standen Sinowjew und Kamenew, wenn auch vor dem thermidorianischen Gericht stalinscher Usurpatoren, so doch vor einem Gericht, das in seiner Phraseologie an die Oktoberrevolution und den Sozialismus appellierte (welche Unverschämtheit!). Ausser ungeheuerlichen moralischen Foltern benützten die GPU-Inquisitoren auch diese Phraseologie, insbesondere die Kriegsgefahr. Das musste diese unglücklichen Angeklagten vollends brechen.

Oberflächlich ist auch der Vergleich mit dem Verhalten der Männer der grossen französischen Revolution. Diese standen in der Blüte ihrer Kräfte, die Ereignisse rollten wie in einem Kaleidoskop ab, Gnade konnte keiner erwarten, und, was die Hauptsache ist, all dies geschah in der Epoche des mächtigen Aufschwungs einer Revolution, wie sie die Geschichte bis dahin noch nicht gesehen hatte. Eine solche Epoche kannte auch die große russische Revolution (1917–1922), doch gerade in diesen Jahren kämpften und starben die Smirnow und Mratschkowski heroisch an den Fronten des Bürgerkriegs. Will man schon historische Vergleiche mit dem Verhalten der Jakobiner suchen, so wähle man nicht die Jahre 1789-1794, sondern die Epoche des Kaiserreichs, 10 Jahre später, als viele von ihnen napoleonische Präfekten und andere Würdenträger wurden.

Doch, wird gesagt, wie soll man sich erklären, dass alle elf (die fünf Jungen nicht mitgerechnet) sich vor Gericht so verhielten? Man darf nicht vergessen, dass diese elf nicht zufällig angeklagt waren, sondern während langwieriger und furchtbarer Voruntersuchungen aus 50 oder gar noch mehr gefangenen Kandidaten, die sich von Stalin nicht brechen ließen, ausgesiebt wurden. Vor Gericht gestellt wurden gerade die, die sich hatten weichkneten lassen. Was aus den anderen geworden ist, ist ungewiss, man darf das Schlimmste befürchten. Wir zweifeln nicht, dass ein Teil von ihnen bereits im Laufe der Voruntersuchung erschossen wurde, und zwar die, die auf Stalins Erpressung nicht eingingen, erschossen den anderen „zum Exempel“. Außer der Folter des Verhörs – wochenlang wird von morgens bis in die Nacht dem aufrechtstehenden Verhörten ein und dieselbe Frage gestellt –, außer der Folter mit dem Schicksal der Familienangehörigen und anderen Foltern aus dem Arsenal der schwärzesten und fürchterlichsten Inquisition – waren die Erschießungen einiger Untersuchungshäftlinge eins der am meisten ausschlaggebenden „Argumente“ der stalinschen Untersuchung. Man sagte zu Smirnow oder Jewdokimow „heute ist der und der (z.B. Kuklin oder Gertik) erschossen worden, morgen ist der und der dran, weil sie nicht die erwünschten Aussagen machten, und dann kommen Sie an die Reihe“ (das ist selbstverständlich nur eine Hypothese).

Den Revolver an der Schläfe, sagen sich Sinowjew und Kamenew: wenn wir nicht alle von Stalin abgepressten Hundsföttereien unterschreiben, dann wird er uns im Stillen ohne Gericht erschießen. Unterschreiben wir, so bleibt uns immerhin eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Vielleicht wird Stalin ja nicht betrügen, wenn er uns für Geständnisse das Leben verspricht. Die früheren Prozesse, die in der Mehrzahl ebenfalls auf lügenhaften Aussagen aufgebaut waren, und wo die Angeklagten mit leichten oder fiktiven Strafen davongekommen waren, bestärkten diese Hoffnung. Die Angeklagten dachten dabei nicht nur daran, ihr Leben zu retten, sondern sahen in der Erhaltung des Lebens die einzige Möglichkeit, später in einer neuen Lage das stalinsche Amalgam zu enthüllen und sich so wenigsten zum Teil zu rehabilitieren. Sie haben sich tragisch geirrt, und dieser Irrtum war nicht zufällig, sondern die Folge ihres ganzen bisherigen Verhaltens, wie wir es zu zeigen versucht haben.

Doch auch bei diesen Angeklagten fand sich noch ein letzter Rest Kraft. ein letzter Tropfen Würde. Wie gebrochen sie auch waren, so hat doch niemand von den Alten die „Verbindung mit der Gestapo“ gestanden, ja rein physisch auch nur gestehen können.

Wir glauben das mag bei oberflächlicher Betrachtung paradox erscheinen – Sinowjews und Kamenews innere moralische Kraft übertraf bedeutend das durchschnittliche Niveau, war sie auch in den ganz außergewöhnlichen Umständen ungenügend. Hunderte und Tausende kommunistischer, sozialistischer und anderer Führer, die sich der Sowjetbürokratie oder dem Kapitalismus anpassen, wären unfähig gewesen, auch nur ein Hundertstel des ununterbrochenen und wahnwitzigen Drucks auszuhalten, dem Sinowjew, Kamenew und die anderen ausgesetzt waren.

Und noch eins. Die Reden der Angeklagten unterschieden sich in nichts von den Reden des Staatsanwalts, in nichts von den tausenden blutrünstigen Artikeln, die die Presse füllen. Durch ihre Reden, wo sie sich selbst bezichtigen ohne Tatsachen und Beweise, durch die wörtliche Wiederholung dessen, was ihnen der Staatsanwalt vorsprach, durch ihren großen Eifer, sich anzuschwärzen, sagten die Angeklagten gleichsam der ganzen Welt: glaubt uns nicht, seht ihr denn nicht, dass alles Lüge ist, Lüge von Anfang bis Ende?!

* * *

Ja, die Generation der alten Bolschewiki ist mit wenigen Ausnahmen restlos verbraucht. Allzuviel hat auf ihren Schultern gelastet: drei Revolutionen, Illegalität, Gefängnis, Bürgerkrieg. Die Kräfte ließen sie im Stich, die Nerven hielten es nicht aus.

Doch trotz alledem gibt es in der USSR echte, unbeugsame Revolutionäre, einige Tausend Bolschewiki-Leninisten. Sie in seine Schlingen zu ziehen, ist Stalin nicht imstande, wohl aber, sie einen nach dem anderen auszurotten, – auszurotten, aber nicht zu brechen. Diese revolutionären Kämpfer haben den Verderbensweg der Kapitulationen nicht beschritten und werden es nicht tun, – denn sie glauben an die Wahrhaftigkeit ihrer Sache. Sie ziehen es vor, in den Kellern der GPU zu verrecken, unbekannt, ohne Unterstützung und ohne Sympathie. Sie sind es, die das revolutionäre Erbe hüten und die revolutionäre Ehre der sowjetrussischen Arbeiterbewegung retten!


Anmerkungen

1. Diese Mitteilungen entnehmen wir den Berichten von englischen Korrespondenten, die dem Prozess beiwohnten.

2. Siehe nächste Anmerkung.

3. Siehe nächste Anmerkung.

4. Diese drei deutsch-russischen Stalinisten (Berman-Jurin, M. Lurie, Fritz David) gehörten. wie man uns mitteilt, innerhalb der KPD zur Neumannclique, die früher enge Beziehungen zur GPU hatte, eine der widerlichsten Cliquen, die es je in der Komintern gegeben hat.

Nach den ins Ausland gedrungenen Nachrichten hat Moskau mit der Neumanngruppe vermittels der GPU aufgeräumt. (Die GPU als Werkzeug zur Lösung der innerparteilichen Streitigkeiten war in den Kominternsektionen schon längst üblich, und hat den Kominternapparat an den Rand der Zersetzung gebracht.) Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die juristische Belangung der ehemaligen Stalinagenten F. David, Berman-Jurist und M. Lurie mit der Liquiderung der Neumanngruppe zusammenhängt.

5. Was den Ursprung dieses Geldes wie auch Olbergs ganze Geschichte mit dem Honduraspaß betrifft, so besitzen wir darüber sehr interessante Auskünfte, die wir erst nach eingehender Prüfung der Öffentlichkeit zu übergeben für möglich halten.

6. Dies geht mit absoluter Sicherheit aus der Tatsache hervor, dass Olberg zur Frage der Gestapo erst am 31. Juli, d.h. zweieinhalb Monate nach seinen Aussagen vom 9. Mai, in der Staatsanwaltschaft neu verhört wurde, und dass seine Aussagen vom 31. Juli die Seitennummern 263–264 tragen.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009