Die Werbekraft des Internationalismus

(1. Jänner 1910)


Aus: Der Kampf, Jg. 3 4. Heft, 1. Jänner 1910. S. 154–156.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In dem Aufsatz Die starke Regierung oder die starke Demokratie (Kampf III, 3) kommt Otto Bauer zu dem Schlüsse, dass der Kampf gegen den Nationalismus heute unsere wichtigste Aufgabe ist. In diesem Kampfe wird unser Internationalismus natürlich intransigent werden müssen. Aber das schreckt Bauer nicht. Gelassen erklärt er: „Der intransigente Internationalismus mag heute Scharen von Mitläufern aus unseren Reihen verscheuchen ...“

Die folgenden Bemerkungen zu diesem Satze scheinen mir nicht überflüssig zu sein.

Es gibt leider noch immer Genossen, denen die Stärke der Fraktion, die Zahl der bei den Wahlen abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen die Hauptsache ist. Sie teilen die Menschen (der Mensch fängt naturgemäss erst beim Wähler an) nicht in Parteigenossen und Gegner, sondern in sozialdemokratische und nichtsozialdemokratische Wähler ein. Das Wichtigste an einem Menschen ist ihnen, dass er am Wahltag den Namen unserer Kandidaten auf seinen Stimmzettel schreibt. Wenn er überdies noch Parteisteuer zahlt und das Parteiblatt hält, erscheinen ihnen selbst die strengsten Forderungen erfüllt, die man vernünftigerweise erheben kann. Ist einer dann auch noch Sozialdemokrat, so betrachten sie das als eine sehr, wirklich sehr angenehme Zugabe, aber es zu verlangen, würden sie für eine Gregor Werlesche Ueberspanntheit halten.

Die Genossen, die so denken, werden den von Bauer so bagatellisierten Umstand, dass der intransigente Internationalismus Scharen von Mitläufern aus unseren Reihen verscheuchen kann, selbstverständlich als ein entscheidendes Argument gegen die Intransigenz ansehen; verdankt doch der national temperierte Internationalismus seine Existenz hauptsächlich der, bewussten oder unbewussten, Rücksicht auf die Mitläufer. Und alles, was Bauer in seinem Artikel zugunsten des intransigenten Internationalismus anführt, wird unseren Opportunisten den Verlust von Mitläufern, besonders wenn sie gleich scharenweise verloren gehen, nicht aufwiegen. Rehabilitieren könnte in den Augen dieser Genossen die Intransigenz nur eines: der Beweis, dass der Verlust, den wir durch sie erleiden, durch einen Gewinn – natürlich durch einen positiven Gewinn, einen Gewinn, der in den Mitgliederlisten unserer Organisationen oder in der Auflage unserer Parteiblätter zum Ausdruck kommt – wenigstens kompensiert wird.

In Reichenberg ist dieser Beweis erbracht worden. Dass die Reichenberger Arbeiter eine intransigente Politik machen, wird wohl niemand leugnen wollen; und man wird auch zugeben müssen, dass der Internationalismus nirgends so schroff, ja herausfordernd auftritt wie in Reichenberg. Haben wir uns doch dadurch des öfteren den Spott, ja den Unwillen mancher staatsmännisch denkenden und handelnden Genossen zugezogen. Aber aller Spott hat uns nicht daran zu hindern vermocht, Erfolge zu erzielen, deren wir uns wirklich nicht zu schämen haben. Wir haben im letzten Jahrzehnt – nachdem die Bildungsvereine, in denen das Mitläufertum systematisch grossgezogen wurde, durch die Gewerkschaften überwunden waren – auf die Mitläufer nicht die geringste Rücksicht genommen. Wir haben ihnen nicht die kleinste Konzession gemacht, nicht einmal die, uns „gute Deutsche“ zu nennen. Wir haben nicht nur leichten Herzens mitangesehen, dass sie der Partei den Rücken kehrten, wir haben ihren Exodus nach Kräften gefördert.

„Und das soll ein Erfolg sein?“ wird hier so mancher Genosse ausrufen. „Die Leute vor den Kopf stossen, statt sie zu erziehen?“ Gemach, ich bin ja noch nicht fertig. Man weiss in Reichenberg zwischen Mitläufer und Mitläufer zu unterscheiden. Wir wissen, dass die Mitläufer in zwei Gruppen zerfallen: die eine besteht aus Leuten, die sich der Partei anschliessen, weil sie den Sozialismus schon ein bisschen verstehen. Wesentlich anders ist die zweite Gruppe beschaffen; sie setzt sich aus Leuten zusammen, die mit der Partei sympathisieren, weil sie den Sozialismus missverstehen. Es ist nun – das hat die Reichenberger Praxis, die frühere, nicht die jetzige, bewiesen – ein grober Irrtum, dass diese zweite Gruppe allmählich, so schön „pomali“, zum Sozialismus erzogen werden kann, wenn man nur mit ihren Vorurteilen recht schonend umgeht; sie kann nur Verwirrung stiften und dadurch die Entwicklung der Partei hemmen. Dagegen wird – das haben wir in Reichenberg ebenfalls erfahren und täglich erfahren wir es von neuem – die erste Gruppe von der Partei um so stärker angezogen, je rücksichtsloser wir die Parteigrundsätze propagieren. Wir haben ein Jahr des heftigsten Kampfes mit den Nationalen hinter uns, aber wir können mit diesem Jahre zufrieden sein. Es hat uns grosse Erfolge gebracht. Von der Erziehung der Masse zu sozialistischem Denken wollen wir gar nicht reden. Wir reden heute nur von der Entwicklung unserer Organisation und unserer Presse. Zu einer Zeit, in der zum Beispiel die Arbeiter-Zeitung (nach dem Bericht des Parteisekretärs an den Parteitag) zurückging, hat unser Parteiblatt, trotzdem in der Textilindustrie eine Krise herrschte, zweitausend Abnehmer gewannen. Von diesen ging zur Zeit des bosnischen Abenteuers und infolge der Verschärfung der Krise fast ein Drittel wieder verloren; im vergangenen Herbste haben wir aber, trotzdem die Krise noch immer nicht überwunden war, das Verlorene wiedergewonnen. Und unsere Organisationen entwickeln seit einigen Monaten eine so rege Tätigkeit, dass die Zentrale nur mit der Anspannung aller Kräfte den an sie gestellten Anforderungen entsprechen kann. Alle Organisationen haben in dieser Zeit Mitglieder gewonnen und geradezu erstaunlich ist der Aufschwung der Frauenorganisation und der Jugendorganisation. Unsere heutige Organisation unterscheidet sich nicht nur qualitativ gewaltig von der Organisation in der Blütezeit des Mitläufertums, sie ist auch bedeutend grösser, als jene war, und wächst jetzt in einem noch nicht dagewesenen Tempo. Wer nicht zugeben will, dass das der Intransigenz zu danken ist, der wird wenigstens zugeben müssen, dass es trotz der Intransigenz möglich ist.

Als vor nun bald anderthalb Jahren die deutsche Volksseele in Böhmen zu kochen anfing und die Nationalen darangingen, die Arbeiterschaft für ihre „Organisationen“, die völkische Arbeiterpartei und die Jungmannschaft, zu gewinnen, wurde auch bei uns manchen Genossen bang. Sie meinten, dass wir doch „ein bisschen“ national werden müssten, um den Ansturm der Nationalen besser abwehren zu können. Aber wir haben uns weder durch das Kriegsgeheul der Nationalen noch durch die Warnungen unserer Schwarzseher beirren lassen. Wir haben uns nicht dazu herbeigelassen, als „gute Deutsche“ aufzutreten. Im Gegenteil, wir haben in unserer dogmatischen Verbohrtheit den Internationalismus nur noch schroffer hervorgekehrt. Wir sind von der Auffassung ausgegangen, dass die nationalistische Phrase im Proletariat nur auf das Gesindel und höchstens noch auf ein paar unreife junge Leute Eindruck machen kann, und der Erfolg hat uns recht gegeben. Die Reichenberger deutschvölkischen Arbeiter haben sich – was gewiss nicht der Fall gewesen wäre, wenn wir uns mit ihnen tiefer eingelassen hätten, als notwendig war – in zwei Parteien gespalten und dreschen nun aufeinander los, dass es eine wahre Freude ist. Und für die jungmannschaft ist nach einem kurzen Wonnemond eine böse Herbstzeit angebrochen. Ihre besseren Elemente haben an Saufgelagen und Gassenjungenstreichen kein Gefallen gefunden und kehren ihr nun den Rücken: in den letzten Wochen ist eine ganze Menge Exjungmannen unserer Jugendorganisation beigetreten. Aber auch sonst hat die nationale Jugendorganisation schmerzliche Verluste zu verzeichnen. Die Spenden für Esswaren und Getränke – das ist die ökonomische Grundlage der Jungmannenbewegung – fliessen nicht mehr so reichlich wie im Anfang und dadurch hat die nationale Idee natürlich sehr an Reiz eingebüsst. Mit der Bekehrung der Arbeiter, der jugendlichen wie der erwachsenen, zum Nationalismus ist’s also nichts. Der intransigente Internationalismus hat eine stärkere Anziehungskraft als selbst der schmackhafteste und süffigste Nationalismus. Aber Scherz beiseite: ich habe in der Agitation die Beobachtung gemacht, dass der Masse der Arbeiter der intransigenteste Internationalismus am verständlichsten ist und dass sie instinktiv der Auffassung zudrängt, die Genosse Bauer in dem zitierten Artikel und schon auf dem Parteitag vertreten hat: dass der schroffste Kampf gegen den Nationalismus unsere nächste Aufgabe ist. Als die Regierung im Frühsommer mit ihren Steuervorlagen hervortrat, hielten wir in allen grösseren Städten Protestversammlungen ab. Sie waren sehr mässig besucht. Zur selben Zeit hielten wir eine Reihe von Versammlungen mit der Tagesordnung: National oder sozialdemokratisch? ab. Alle waren überfüllt, ja einige gestalteten sich zu leidenschaftlichen Massenkundgebungen gegen den Nationalismus. Die Arbeiter haben das richtige Gefühl, dass der Nationalismus in und äusser dem Parlament unserer Partei die grössten Hindernisse in den Weg wälzt, dass der Kampf gegen ihn die Flauptsache ist und dass nur der intransigente Internationalismus in diesem Kampfe reüssieren kann. Trägt unsere Politik diesem Gefühl der Massen Rechnung, so werden wir wohl die Mitläufer verscheuchen, aber dafür die indifferenten Arbeiter in unsere Reihen zwingen. Mir scheint, das wäre – auch vom Standpunkt unserer Opportunisten – kein übler Tausch.

 


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024