August Thalheimer

Über die Handhabung der materialistischem Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution

I.

Lenin wie Marx haben der Arbeiterklasse einen großen Schatz fertiger Resultate ihres Denkens hinterlassen. Das ein­fache Aneignen der Resultate Lenins durch die Arbeiterklasse ist erst im Anfang und wird sicher geraume Zeit brauchen. Ebenso wichtig, ja noch wichtiger, ist die Methode, sind die Denkmittel, das Verfahren, vermittels deren Lenin zu seinen Resultaten gekommen ist. Lenins wie Marx’ Resultate sind historische Resultate, einerseits theoretische Widerspiegelung, Analyse einer bestimmten Zeit, andererseits Richtlinien für den Kampf des Proletariats, ebenfalls in einer bestimmten Zeit. Die Resultate als historische Erzeugnisse, gebunden an hist orische Voraussetzungen, sind eben dadurch begrenzt in ihrer Anwendbarkeit. Nach einer gewissen Zeit entstehen neue Verhältnisse, die neue Lösungen erfordern, oder auch alte Fragen treten in neuer Form, unter neuen Begleitumständen auf. In allen diesen Fällen hilft uns die Erkenntnis der Methode, mittels deren die alten Resultate gewonnen worden sind. Die Methode ist das Mittel, neue Resultate zu finden, neue Situationen zu meistern. Darum ist sie noch wichtiger als die Resultate selbst.

Um die Methode Lenins allseitig zu schildern, dazu bedürfte es der Durchmusterung seiner ganzen Arbeit, der theo retischen wie der praktischen. Dazu fehlen mir im Augenblick sowohl die Hilfsmittel wie die Zeit. Ich will hier nur die Behauptung einiger wichtiger politischer Fragen durch Lenin in verschiedenen Zeitabschnitten und Stufenfolgen herausgreifen, um daran das Wesen seiner Methode zu erläutern.

Die von Lenin angewandte Methode ist die materialistische Dialektik. Er brauchte sie nicht neu zu entdecken, sie war ihm von Karl Marx überkommen. Marx seinerseits hatte seine Methode aus der Hegelschen idealistischen Dialektik, durch einen revolutionären Umsturz entwickelt. Jedoch die bloße Tatsache, dass einer die Methode der mater ialistischen Dialektik anwendet, sagt noch nicht allzuviel, so wenig es an sich besagt, dass jemand sich der gewöhnlich en Logik bedient. Was Lenin auszeichnet, ist zweierlei: Erstens die Anwendung besonders auf die Fragen der revolutionären Strategie und Taktik, und zwar die richtige, gelungene Anwendung. Im Gegensatz zu ihm konzentrierte sich z.B. Kautsky auf die Anwendung der materialistischen Dialektik als ein Mittel der historischen Erklärung. Er versagte, von einem gewissen Zeitpunkt ab, völlig in der strategischen und taktischen Anwendung, von dem Zeitpunkt ab nämlich, wo die proletarische Revolution praktisch wurde. In der Hand Lenins wurde die materialistische Dialektik vor allem eine revolutionäre Waffe. Dazu bedurfte es einer tieferen, allseitigeren Anwendung, als Kautsky und andere sie verstanden. Zweitens ist Lenin vor allen seinen Zeitgenossen ausgezeichnet durch die Schnelligkeit, die Genauigkeit und die instinktmäßige fast automatische Sicherheit, Kühnheit und zugleich Vorsicht, mit der er sie anzuwenden wusste. Dieses Besondere in der Anwendung der materialistisch-dialektischen Methode durch Lenin auf Fragen der proletarischen Revolution muss man an der Hand des vorliegenden Materials studieren. Natürlich wird man durch die bloße Kenntnis der Methode allein noch kein politisch-dia lektischer Hexenmeister. Die Methode ist nicht nur ein Wissen, sondern ein Könn en, eine Kunst, die Übung verlangt, so lange, bis sie in Fleisch und Blut übergeht. Wir greifen die Entwicklung folgender Fragen heraus: 1 der proletarischen Diktatur, 2. der Agrarfrage, 3. der Frage des nationalen und imperialistischen Krieges.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008