August Thalheimer

Über die Handhabung der materialistischem Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution

 

II. Die Entwicklung des Gedankens der proletarischen Diktatur von Marx bis Lenin

Lenin selber gibt eine Entwicklung des Gedankens der proletarischen Diktatur bei Marx und Engels, die das Wesen der Methode hervorhebt, durch die dieser Gedanke gewonnen und im Laufe einer jahrzehntelangen Geschichte von Marx und Engels näher bestimmt, im einzelnen ausgeführt, konkretisiert wird. Er zeigt, wie bei Marx-Engels jeweils dieser Gedanke an der Hand der geschichtlichen Massenerfahrungen des Prole­tariats, an der Hand und auf Grund der revolutionären Massenkämpfe ausgestaltet wird. Nicht konstruktive Phantasie, sondern die jeweilige exakte theoretische Ausschöpfung, Ausdeutung oder Analyse macht das Wesen der materialistischen dialektischen Methode aus. Das Material, aus dem der richtige Begriff der proletarischen Diktatur gewonnen wird, an dem er sich entfaltet, näher bestimmt, sich konkretisiert, ist die geschichtliche Praxis des Proletariats, seine geschichtliche Aktion. Diese Praxis ist die Mutter des Gedankens, die Theorie der Vater. Die neuen Formen werden geschaffen durch die Praxis der Massenbewegung, nicht von der Theorie erfunden; die Theorie aber bringt sie zum Bewusstsein, definiert sie, grenzt sie ab, analysiert ihre Voraussetzungen, verallgemeinert sie und erleuchtet so der Klasse die nächsten Schritte.

Demgemäß ermittelt Lenin in der Marx-Engelschen Entwicklung des Gedankens der proletarischen Diktatur ihren Zusammenhang mit den revolutionären Erfahrungen von 1848 bis 1851, sodann mit denen der Pariser Kommune. Indem Lenin diesen Zusammenbang aufdeckt, gewinnt er selber volle Klarheit über die Methode, um an der Hand weiterer revolutionärer Erfahrungen (denen der russischen Revolution von 1905/06 und denen von 1912) den Gedanken der proletarischen Diktatur selbständig weiter zu entwickeln.

Die Grundlagen des Gedankens der proletarischen Diktatur bei Marx-Engels vor der Revolutionsperiode 1848/51 sind: erstens die Erfahrung der jakobinischen Phase der französischen Revolution von 1789, zweitens die ökonomische Analyse des Kapitalismus und die politische Analyse der bürgerlichen Gesellschaft. (Die Klassen und die Rolle des Klassenkampfes.) Vielleicht auch Erfahrungen der englischen bürgerlichen Revolution des 17. Jahrhunderts und des Chartismus. Doch wäre dies noch an der Hand besonders der Entwicklung von Engels zu untersuchen.

Auf Grund der politischen Analyse der bürgerlich en Staatsgewalt, die auf dem Klassengegensatz beruht, kommt Marx bereits im „Elend der Philosophie“ zu dem allgemeinen Schluss, dass mit dem Verschwinden des Proletariats als Proletariat, mit dem Verschwinden also des Klassengegensatzes, der das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht, auch die politische Gewalt, der Staat verschwindet.

„Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.“ (Das Elend der Philosophie, S.182 der Ausgabe von 1885.)

Damit war ein kühner Schritt hinausgemacht über die letzte Auffassung des letzten bürgerlich-revolutionären Theoretikers in Deutschland, des Philosophen Hegel, aber auch über die Utopisten, die Fourier, St. Simon, Richard Owen, die die historische Rolle des Staates und der politischen Gewalt nicht verstanden, die wohl den Gedanken des Schwindens der politischen Gewalt des Staates bereits fassten, aber und ialektisch, phantastisch, nicht im Zusammenbang mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und der proletarischen Revolution, und infolgedessen später praktisch in das Schlepptau des bürgerlichen Staates gerieten.

Einen Schritt weiter geht das Kommunistische Manifest (November 1848) am Vorabend der Revolution des Jahres 1848. Die Grundlage für dieses Weitergehen ist offenbar die Jakobinische Diktatur, die Marx in Paris auf das eingehendste studiert hatte.

Es heißt hier:

„Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg, innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren ...“

Hier taucht zum ersten Mal der Gedanke, wenn auch nicht das Wort, der proletarischen Diktatur auf. Allerdings noch in ganz allgemeiner, abstrakter Form. Das als herrschende Klasse organisierte Proletariat, das seine Herrschaft benutzt, um der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, die Produktions kräfte rasch zu vermehren, d.h. die revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaft in der Richtung zum Sozialismus in Angriff zu nehmen. Über die ökonomischen Übergangsmaßregeln, wie Marx sie ins Auge fasste, enthält das Kommunistische Manifest und dann der bekannte Aufruf des Kommunistenbundes zu Beginn der Revolution in Deutschland nähere Angaben. Über die konkrete Form der Herrschaft des Proletariats enthalten diese Ausführungen noch nichts weiter, als dass sie „die Erkämpfung der Demokratie“ (d.h. proletarischer Demokratie) ist. Gerade in dieser gewissenhaften Beschränkung auf das auf Grund der vorliegenden geschichtlichen Erfahrung Feststellbare, zeigt sich die Exaktheit, die strenge Wissenschaftlichkeit der marxistischen Theorie. Marx geht bis an die Grenze des auf Grund der vorliegenden historischen Erfahrungen Feststellbaren, schöpft diese Erfahrung vollständig aus, aber geht kein Haar breit darüber hinaus, tut keinen Schritt in das Gebiet der Konstruktion.

Einen weiteren Schritt machen Marx und Engels im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Revolution 1848/51. Diese Geschichte, die in Frankreich in den Staatsstreich Louis Bonapartes vom 2. Dezember 1851, in die Errichtung der bonapartistischen Militärdiktatur ausmündet, gibt Marx die Mittel in die Hand, um wenigstens in negativer Weise zu sagen, was die proletarische Diktatur nicht ist, wie sie sich politisch zu dem bürgerlichen Staatsapparat verhält.

Er entdeckt (im 18. Brumaire des Louis Bonaparte), dass die Exekutivgewalt des bürgerlichen Staates, wie sie in Frankreich in der Zeit der absoluten Monarchie entstanden, von der großen Revolution übernommen und umgeformt und von Louis Napoleon auf die Spitze getrieben wird, dass die Exekutivgewalt, die Staatsmaschine mit ihrem Beamtenheer, mit ihrer stehenden Armee, nicht einfach vom Proletariat in Besitz genommen werden kann, sondern zerschlagen werden muss.

„Die Revolution vollendet erst die parlamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies erreicht, vollend et sie die Exekutivgewalt, reduziert sie auf ihren reinsten Ausdruck, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren ...“

„... Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampf wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine, statt sie zu brechen ...“ (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Lenin macht dazu die Bemerkung: „Getreu seiner Philosophie des dialektischen Materialismus legt Marx die historische Erfahrung der großen Revolutionsjahre 1848/51 zugrunde. Die Lehre von Marx ist wie stets so auch hier ein von tiefgründiger philosophischer Weltbetrachtung und reichem Wissen der Geschichte beleuchtetes Resümee der Erfahrung“. Und weiter:

„Nicht logische Deduktionen, sondern der tatsächliche Gang der Ereignisse, die lebendigen Erfahrungen der Jahre 184 8-1851 haben zu einer solche n Aufgabe geführt. In wie hohem Maße sich Marx streng an die tatsächliche Basis der geschichtlichen Erfahrung hä lt, ist daraus ersichtlich, dass er 1852 noch nicht konkret die Frage stellt, was an Stelle der zu vernichtenden Staatsmaschinerie gesetzt werden soll. Die Erfahrung gab damals noch keine Unterlagen für eine solche Frage, die von der Geschichte später, 1871, auf die Tagesordnung gesetzt wurde. 1852 konnte man mit der Genauigkeit einer natürlichhistorischen Betrachtungsweise nur feststellen, dass die proletarische Revolution sich der Aufgabe näherte, „alle ihre Kräfte der Zerstörung zu konzentrieren“ gegen die Staatsgewalt, der Aufgabe, die Staatsmaschinerie zu „brechen“.

Den Keim eines weiteren Fortschrittes kann man, worauf bisher noch nicht genügend geachtet worden ist, in der Ansprache der Zentralbehörde an den (Kommunisten)-Bund vom März 1850 erblicken. (Wieder abgedruckt in den Enthüllungen über den Kommunistenprozess. Von Karl Marx. Mit Einleitung von Friedrich Engels und Dokumenten. Vierter Abdruck mit Einleitung und Anmerkung von Franz Mehring. Berlin 1914. Buchhandlung Vorwärts, S.126 und ff.) Die demokratische, sei es (monarchistisch)-konstitutionelle oder republikanische Staatsverfassung, wird hier als Klassenbedürfnis der revolutionären Kleinbürger bezeichnet, „die ihnen und ihren Bundesgenossen, den Bauern, die Majorität gibt“.

Die Arbeiter haben gegenüber den Kleinbürgern, die die Revolution möglichst rasch und unter Beschränkung auf keinbürgerliche Ziele beenden wollen, die Aufgabe, „die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation des Proletariats nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der Welt soweit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat, und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen des Proletariats konzentriert sind“. Weiter wir d gefordert, die selbständige, • politische Organisation der Arbeiter: statt sich abermals dazu herabzulassen, den bürgerlichen Demokraten als beifallsklatschender Chor zu dienen, müssen die Arbeiter, vor allem der Bund, dahin wirken, eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Arbeiterpartei herzustellen und jede Gemeinde (d.h. Bundesgemeinde – A.Th.) zum Mittelpunkt und Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden“. (Beachtenswert ist hier die Verbindung legaler und illegaler Organisationen.)

Was ist die Aufgabe der Arbeiter, wenn in einem neuen revolutionären Aufschwung zunächst das Kleinbürgertum in der Form der bürgerlichen Demokratie die Regierung in die Hand nimmt? Darauf antwortet die „Ansprache“:

„(Die Arbeiter) müssen neben den offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten, so dass die bürgerlichen demokratischen Regierungen nicht nur sogleich den Rückhalt an den Arbeitern verlieren, sondern sich von vornherein von Behörden überwacht und bedroht sehen, hinter denen die ganze Macht, der Arbeiter steht.“

Die Ansprache erklärt ferner für notwendig, dass die Arbeiter selbständige bewaffnete Organisationen bilden.

„Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen; Geschützen, Munition muss sofort durchges etzt werden, der Wiederbelebung der alten, gegen die Arbeiter gerichteten Bürgerwehr muss entgegengetreten werden. Wo dies letztere aber nicht durchzusetzen ist, müssen die Arbeiter versuchen, sich selbständig als proletarische Garde, mit selbstgewähltem Chef und eigenem selbstgewählten Generalstabe zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten. Wo Arbeiter für Staatsrechnung beschäftigt werden, müssen sie ihre Bewaffnung und Organisation in ein besonderes Corps mit selbstgewählten Chefs oder als Teil der proletarischen Garde durchsetzen. Die Waffen und die Munition dürfen unter keinem Vorwand aus den Händen gegeben werden, jeder Entwaffnungsversuch muss nötigenfalls mit Gewalt vereitelt werden. Vernichtung des Einflusses der bürgerlichen Demokraten auf die Arbeiter, sofortige selbständige und bewaffnete Organisation der Arbeiter und Durchsetzung möglichst erschwerender und kompromittierender Bedingungen für die augenblickliche unvermeidliche Herrschaft der bürgerlichen Demokratie, das sind die Hauptpunkte, die das Proletariat und somit der Bund während und nach dem bevorstehenden Aufstand im Auge zu behalten hat.“

Weiter wird gefordert die Zentralisation der selbständig organisierten „Arbeiterkubs“.

Bei der Wahl einer Nationalversammlung müssen überall neben den bürgerlichen demokratischen Kandidaten Arbeiterkandidaten aufgestellt werden, die möglichst aus (kommunisti­schen) Bundesmitg liedern bestehen sollen.

In diesen Anweisungen der Zentralbehörde sind zweifellos bereits die gedanklichen Keime der Kommune wie der Arbeiterräte enthalten. Die auf die selbständigen bewaffneten Organisationen der Arbeiter gestützten revolutionären Gemeindebehörden wie der Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees (deren Kern die Kommunisten bilden sollen), die den offiziellen bürgerlich-demokratischen Behörden als „eigene revolutionäre Arbeiterregierungen“ entgegentreten — das ist ein höchst bedeutsamer Fortschritt über die Formulierung des Kommunistischen Manifests hinaus, auf Grund der Erfahrungen vor allem der deutschen Revolution von 1848/49. Ich bin hier etwas ausführlicher darauf eingegangen, weil diese Etappe der Entwicklung des Gedankens der proletarischen Diktatur bisher, wie es scheint, übersehen worden ist.

Zu dem letzten Schritt gelangt die Marx’sche Analyse auf Grund der Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871. Jetzt erst ließ sich in den Umrissen die Frage nach der konkreten Form der proletarischen Diktatur nach der Staatsform, die an Stelle des bürgerlichen Staates treten soll, positiv und konkret beantworten.

Die Kommune zeigte die ersten Umrisse der „endlich entdeckten politischen Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“.

Die Wesenszüge des Neuen erblickt Marx in der Zerstörung der bürokratisch-militärischen Maschinerie, in der Unterdrückung des stehenden Heeres und seiner Ersetzung durch das bewaffnete Volk, in der Verantwortlichkeit und jederzeitigen Absetzbarkeit der durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträte, in der Verwandlung der Polizei und der übrigen Beamten „in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Organ der Kommune, in der Bezahlung aller öffentlichen Dienste mit Arbeitslohn, in der Wahl, Verantwortlichkeit und jederzeitigen Absetzbarkeit der richterlichen Beamten, in der Brechung der ‚Pfaffenmacht‘, und in der Beseitigung des Parlamentarismus, der Verwandlung der Kommune aus einer parlamentarischen, nur gesetzgebenden, in eine ‚arbeitende Körperschaft‘ ..., vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“.

Die weiteren Entwicklungen von Marx und Engels über die weiteren Stadien, hinter der proletarischen Diktatur, über die vollendete kommunistische Gesellschaft und das mit ihr verbundene Absterben des Staates überhaupt, gehören nicht hierher.

Dies sind die von Marx und Engels gelegten Grundlagen in dieser Frage, auf der Lenin folgerichtig, mit derselben kühnen und zugleich vorsichtigen, exakten Methode weiterbaut nachdem er Marx’ Resultate der Vergessenheit entrissen, in die der Opportunismus sie versenkt hatte. (Kautsky wie Bernstein.)

Die proletarische Diktatur, ohne nähere Umschreibung, ist bereits in das Parteiprogramm der Bolschewiki aufgenommen. (Dem einzigen, wenn ich nicht irre, der Parteien der 2. Internationale, das sie enthält.)

Die russische Revolution von 1905 schafft die erste Form der Räte, den Petersburger Arbeiterdelegiertenrat. Lenin erklärt den Menschewiki, die behaupten, die Arbeiter seien 1905 „zu weit gegangen“, sie hätten n icht auf die Barrikaden steigen dürfen (zu weit, um das Bündnis mit der Bourgeoisie aufrechtzuerhalten):

„Sie haben diese Bewegung nicht verstanden. Es war dies eine große Revolution — und keineswegs ein Chaos. Es war eine große Revolution, nicht wegen des Manifestes vom 17. Oktober, nicht wegen der in der Bourgeoisie erregten Verwirrung, sondern weil dies, wenn sie auch besiegt wurde, eine bewaffnete Erhebung der Moskauer Arbeiter war, weil im Angesicht des Weltproletariats der Sowjet der Arbeiterdeputierten von Petrograd während eines ganzen Monats glänzend gewirkt bat. Und die Revolution wird wieder auferstehen. Die Sowjets werden wieder auferstehen. Die Sowjets werden siegen.“

Lenin wertete damals die Sowjets (den Petersburger Arbeiterdelegiertenrat) als neues Kampforgan der Arbeiter. Noch als Träger der proletarischen Diktatur. Das ist keinesfalls als Mangel an Voraussicht Lenins zu betrachten, sondern als streng wissenschaftliches Sichhalten an den Stand der Massenerfahrung. Die Sowjets waren 1905 in Russland noch keine allrussische Massenerscheinung. Sie beschränkten sich auf die Hauptstadt und ihr industrielles Proletariat. Sie zogen noch nicht die Sol­daten, d.h. die Bauern, in ihren Kreis. Es gab noch keine Soldatenräte. Es waren also noch keine Daten vorhanden, die einen gewissenhaften marxistischen Politiker berechtigten, in den Sowjets die allgemein-russischen Organe der proletarischen Diktatur zu sehen, die Staatsform, die Arbeiter und Bayern gegenüber Bourgeoisie und Großgrundbesitz verbinden würde. Aber in der Verbindung der proletarischen und der bäuerliche» Revolution sah Lenin, mit Recht, das Wesen der revolutionären Strategie in Russland. Die Revolution von 1905 war, soweit die Klassenverhältnisse in Russland in Betracht kamen, an dem Bauern im Soldatenrock gescheitert, an seiner mangelnden, noch unfertigen revolutionären Entwicklung. (Von außen kam dem Zarismus und dem russischen Gutsbesitzertum das internationale Finanzkapital, vor allem das französische, zu Hilfe.) Es kommt hinzu, dass dieser Petersburger Arbeiterdelegiertenrat nur einen Monat lebt, also selbst als proletarisches Organ noch nicht alle seine Seiten entfalten kann. Es ist nur sichtbar, dass dieser Arbeiterdelegiertenrat ein äußerst fruchtbares, an weiteren Entwicklungsmöglichkeiten reiches proletarisches Organ ist. Die revolutionäre Herrschaft der Arbeiterklasse und des Bauerntums, die proletarische Diktatur, gestützt auf das Bauerntum war also auf Grund der Erfahrungen von 1905 die einzig mögliche Formel. Diese Diktatur konnte, sollte sie Arbeiter und Bauern umfassen, noch nicht als Rätediktatur formuliert werden, sondern erst als „demokratische“ Diktatur. Das war die Formel Lenins nach 1905, wie er sie in dem bekannten Artikel in der polnischen Zeitung Przeglad entwickelte.

(Das erste blitzartige Auftauchen der „Soldatenräte“, die aber keine weitere Entwicklung zeitigten, kann man in dem conseil general der Pariser Nationalgarde von 1871 erblicken.)

Die Räte als allrussische, Arbeiter und Soldaten (Bauern) umfassende Erscheinung, bringt erst die Revolution von 1917. Und erst jetzt ist der Schritt begründet, die proletarische Diktatur als Rätediktatur zu bestimmen. Ehe diese Tatsache noch vollständig sichtbar und übersehbar war, empfahl Lenin seinen nach Russland reisenden Genossen ihre Aufmerksamkeit ganz besonders den städtischen Körperschaften, den Stadtdumas, zu widmen, da sie näher dem Leben der Masse sind, als die konstituierende Versammlung, die zudem noch nicht da ist. Es ist klar, dass hier die Tradition der Kommune mitwirkt, bis schließlich die neue, weiter entwickelte Form der proletarischen Diktatur erkannt, propagiert und vorbereitet wird.

Aber bereits in dem Manifest an die Schweizer Arbeiter, unmittelbar vor seiner Ausreise nach Russland (Anfang April 1917) erklärt er:

„... Russland ist ein von Bauern bevölkertes Land, eines der zurückgebliebensten Länder Europas. Der Sozialismus kann nicht direkt und sofort in Russland siegen. Aber der landwirtschaftliche Charakter des Landes mit dem von den Junkern festgehaltenen riesig en Grundbesitz kann, wie die Erfahrung von 1905 lehrt, der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland eine große Tragweite verleihen und aus unserer Revolution ein Vorspiel der sozialistischen „Weltrevolution, ein Stadium dieser Revolution machen ... In Russland kann der Sozialismus also nicht allein und sofort siegen. Aber die Masse der Bauern kann die agrarische Revolution, die reif und unvermeidlich ist, bis zur Beschlagnahme aller der riesigen Besitzungen der Junker treiben ... Man darf nicht vergessen, dass hundertvier Bauernabgeordnete in der ersten Duma (1906) sowohl wie in der zweiten (1907) das revolutionäre Agrarprojekt ausgearbeitet haben, das die Beschlagnahme jeglichen Grundeigentums forderte und es den auf der Grundlage eines vollkommenen Demokratismus gewählten örtlichen Komitees zur Verfügung stellen wollte.

Eine solche Revolution würde an sich noch keineswegs die sozialistische Revolution sein. Aber sie würde der Arbeiterklasse der Welt einen großen Antrieb geben. Sie würde die Stellungen des sozialistischen Proletariats in Russland und seinen Einfluss auf die Landarbeiter und die ärmsten Bauern äußere ordentlich stärken. Sie würde dem Proletariat der Städte, dank diesem Einfluss, die Möglichkeit geben, revolutionäre Organisationen, wie die ‚Räte der Abgeordneten’, zu entwickeln, durch die ehemaligen Unterdrückungswerkzeuge der bürgerlichen Staaten, nämlich Heer, Polizei, Bürokratie, zu ersetzen, und endlich unter dem unerträglich schweren Drucke des imperialistischen Krieges und seiner Folgen eine Reihe revolutionärer Maßnahmen zur Kontrolle der Produktion und der Verteilung der Produkte wirklich durchzuführen.“

Diese Stellen sind deshalb besonders bemerkenswert, weil sie den Gedanken der Rätediktatur knapp vor seiner vollen Reife und Klarheit zeigen. Lenin faßt hier bereits die Arbeiterdelegiertenräte als allrussische Form der proletarischen Diktatur, als künftige Staatsorgane auf, auf dem Lande stellt er neben sie noch nicht die Bauernräte, er faßt auch noch nicht die Soldatenräte als Keimformen der Bauernräte auf, sondern die örtlichen Komitees der Bauern, gewählt auf Grund eines vollkommenen Demokratismus. Diese örtlichen Komitees sind eine Vorstufe der Bauernräte. Es bedurfte erst eines weiteren Stadiums des Klassenkampfes auf dem Lande (zwischen „Dorfarmut“, d.h. Klein-Mittelbauern und ländlichen Halbproletariats einerseits und der Dorfbourgeoisie, den Großbauern, Kulaki, andererseits), um die Bauernräte als revolutionäre Organe voll zu entwickeln.

Vollkommener, reif und klar ist der Gedanke der Rätediktatur dann bereits in den Thesen vom 7. April 1917 über „die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, die am 4. April in Petersburg von Lenin öffentlich vorgetragen wurden.

In diesen Thesen heißt es:

„4. ... Aufklärung der Massen darüber, dass die Räte der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form einer revolutionären Regierung darstellen... Solange wir in der Minderheit sind, leisten wir die Arbeit der Kritik und Aufklärung der Fehler dadurch, dass wir gleichzeitig die Notwendigkeit de s Übergangs der gesamten Staatsgewalt in die Hände der Räte der Arbeiterdeputierten propagieren, auf dass die Massen auf dem Wege eigener Erfahrung sich ihrer Fehler entledigen.

5. Keine parlamentarische Republik — eine Rückkehr von den Arbeiterdeputiertenräten zu ihr wäre ein Schritt rückwärts — sondern eine das ganze Land umfassende Republik der Räte der Arbeiters, Landarbeiter und Bauerndeputierten, aufgebaut von unten nach oben.

Beseitigung der Polizei und des Beamtentums.

Entlohnung aller Beamten, die gewählt sein müssen und jederzeit abgesetzt werden dürfen, nicht über den Durchschnittslohn guter Arbeiter.“

Lenin erläutert diese Thesen in seinem Vortrag, den er am 10. April in Druck gab und der im Juni 1917 als Broschüre unter dem Titel Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution erschien, wie folgt:

„Die Räte der Arbeiter, Soldaten und Bauern und anderer Delegierten sind nicht nur in dem Sinne einverstanden geblieben, dass die Mehrheit ihre Klassenbedeutung, ihre Rolle in der russischen Revolution verkennt. Sie sind auch noch in jenem Sinne einverstanden, dass sie eine neue Form oder, besser gesagt, einen neuen Typus des Staates darstellen ... Die Republik der Räte der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und sonstigen Delegierten, vereinigt durch die Allrussische Nationalversammlung der Volksvertreter, oder durch den Rat der Räte usw. — das ist das Neue, was bei uns schon ins Leben dringt, jetzt schon, in diesem Augenblick, dank der Initiative eines Millionenvolkes, das die Demokratie auf seine eigene Art verwirklicht, ohne abzuwarten, wie die Gesetzvorschläge der Herren Professoren unter den Kadetten für eine parlamentarische bürgerliche Republik lauten werden, oder bis die Pedanten und Routiniers der kleinbürgerlichen ‚Sozialdemokratie’ in der Art von Plechanow oder Kautsky sich von ihrer entstellten Auffassung der Marx’schen Lehre in der Frage über die Staatsform lossagen werden.“

Lenin legt besonderen Wert darauf, dass die Räte nichts neu zu Erfindendes, sondern bereits vom Volke selbst geschaffen sind: „Die Kommune, d.h. die Räte der Arbeiter- und Bauerndelegierten, ‚führen’ keinerlei Umgestaltungen ein, die nicht sowohl in der ökonomischen Wirklichkeit wie im Bewusstsein der überwiegenden Mehrheit des Volkes vollkommen gereift sind, sie haben nicht vor, etwas ‚einzuführen‘, und dürfen nichts ‚einführen‘ ... Je weniger das russische Volk Erfahrung in Organisationssachen hat, desto entscheidender muss man mit dem organisatorischen Aufbau des Volkes selbst beginnen ...“

Um die Kühnheit, Weitsicht, den Scharfsinn und zugleich die Vorsicht dieser Losung zu begreifen, muss man daran denken, dass die Sowjets damals noch eine menschewistische Mehrheit hatten, unter der sie zu verkrüppeln drohten, und dass Lenin noch in der Schwebe ließ, wie das allrussische zentrale Räteorgan gestaltet sein sollte.

Es fragt sieh nun, ist die russische Form der Rätediktatur ein allgemeiner Typus. Hier geht Lenin wieder mit gewohnter Sorgfalt zu Werke.

In seinem Brief vom 20. August 1918 an die amerikanisch en Arbeiter sagt Lenin:

„Die Arbeiters und Bauernsowjets bilden einen neuen Typus des Staates, eine neue höchste Art der Demokratie, eine besondere Form der Diktatur des Proletariats, einen Modus, den Staat ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie zu verwalten.

Also Lenin erklärt noch nicht die Arbeiters und Bauernsowjets für die allgemeine Form der proletarischen Diktatur. Er erklärt sie für die höchste vorhandene, aber noch eine beson­dere Form der proletarischen Diktatur. Er betont: „In Gestalt des Sozialismus.“ Aber ebenso betont er, dass diese Welt nicht fix und fertig zutage tritt, nicht auf einmal entsteht wie Minerva dem Kopfe Jupiters entstiegen ist. Er betont also das noch Unfertige, weiterer Entwicklung und Ausgestaltung Fähige in der Sowjetform.

Ebenso bemerkenswert sind Lenins Ausführungen über die Sowjetdiktatur in seiner Schrift Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht (März-April 1918), wo er die russische Rätediktatur als „den Anfang der sozialistischen Form des Demokratismus“ bezeichnet.

Bereits in der Bezeichnung der Diktatur der Arbeiter- und Bauernräte als neuer Staatstypus liegt übrigens die Möglichkeit verschiedener Abarten Spielarten, Formen dieses Typus enthalten.

Am 9. November 1918 beendet Lenin seine Streitschrift gegen K. Kautsky, Die Diktatur des Proletariats und der Renegat Kautsky (Vulkan-Verlag, Leipzig 1919), also vor dem Bekanntwerden von Nachrichten über die deutsche Novemberrevolution und die Bildung von Arbeiters und Soldatenräten in Deutschland. (Die Nachricht traf in der Nacht vom 9. auf den 10. November in Moskau ein.)

Besonders bemerkenswert in dieser Schrift sind die Stellen, wo Lenin auf Grund der Tatsache, dass noch in keinem anderen Land, außer Russland, Arbeiterräte existieren, auf die besonderen nationale Züge der Rätediktatur in Russland hinweist.

„Zu bemerken ist, dass die Frage der Entziehung des Wahlrechts gegenüber den Ausbeutern eine rein russische Frage und nicht eine Frage der Diktatur des Proletariats im allgemeinen ist ...“

„Es wäre jedoch ein Fehler, vorweg dafür garantieren zu wollen, dass die kommenden proletarischen Revolutionen in Europa alle oder die Mehrzahl derselben, unbedingt eine Beschränkung des Wahlrechts für die Bourgeoisie bringen werden. Es kann so kommen. Nach dem Kriege und nach den Erfahrungen der russischen Revolution wird dies wahrscheinlich auch so kommen, aber es ist nicht unbedingt notwendig zur Verwirklichung der Diktatur, es bildet kein durchaus notwendiges Kennzeichen des logischen Begriffs der Diktatur, es bildet keine unerlässliche Vorbedingung zu dem historischen und Klassenbegriff von der Diktatur. Das daraus notwendige Kennzeichen, die unerläßliche Vorbedingung der Diktatur, ist die gewaltsame Unterdrückung der Ausbeuter der Klasse, und somit eine Verletzung der „reinen Demokratie“, d.h. der Gleichheit und Freiheit gegenüber dieser Klasse.“ (N. Lenin, Die Diktatur des Proletariats und der Renegat Kautsky, Vulkan-Verlag, Leipzig 1919. S.23, 24.)

Die Novemberrevolution 1918 für Deutschland bewies, dass die Arbeiter- und Soldatenräte eine allgemeine, internationale, nicht nur eine besondere, nationale Bedeutung haben. In den Thesen des 1. Kongresses der Kommunistischen Internationale über bürgerliche Demokratie und proletarische Diktatur zieht Lenin die Folgerungen aus dieser Erfahrung (2. bis 19. März 1919).

Lenin erklärt dazu:

„Nicht nur in den osteuropäischen, sondern auch in den westeuropäischen Ländern, nicht nur in den Ländern, die besiegt sind, sondern auch in denen der Sieger, z.B. in England, breitet sich die Rätebewegung weiter und weiter aus, und diese Rätebewegung ist nichts anderes als die Bewegung zur Schaffung der neuen proletarischen Demokratie, als der wichtigste Schritt in der Richtung zur Diktatur des Proletariats, zum vollen Sieg des Kommunismus.“ (Protokoll, S.201.)

Lenin macht aber auch bereits darauf aufmerksam, dass es notwendig ist, „... eine derartige Anwendung der grundlegenden Prinzipien des Kommunismus (Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats), die diese Prinzipien in den Einzelheiten richtig abändert, sie richtig anwendet und nationalen und nationalstaatlichen Verschiedenheiten anpasst.“

Er macht also bereits auf die national abweichenden Abarten des Typus der Rätediktatur aufmerksam.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008