August Thalheimer

Über die Handhabung der materialistischem Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution

 

III. Die Behandlung der Agrarfrage durch Lenin.

Wir betrachten hier nur die Behandlung der Agrarfrage durch Lenin während des Jahres 1917 und auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale (1920). Das Material dazu ist November 1917 in der Broschüre Materialien zur Agrarfrage zusammengestellt. (Deutsch in Materialien zur Geschichte der proletarischen Revolution in Russland, 4. Heft. N. Lenin Zur Agrarpolitik der Bolschewiki. Wien 1921. Verlag der Arbeiterbuchhandlung.)

Der Ausgangspunkt Lenins war, beinahe von Anbeginn seines politischen Wirkens, der Gedanke der Verbindung der proletarischen mit der bäuerlichen Revolution.

Die Thesen vom 4. April 1917 sagten über das Agrarprogramm der bolschewistischen Partei:

„6. Agrarprogramm: Verlegung des Schwergewichts bei der Lösung der Agrarfrage in die Räte der Landarbeiterdeputierten.

Enteignung alles grundherrlichen Bodens.

Nationalisierung des gesamt en Bodenbesitzes des Landes, Verfügungsrecht über ihn seitens der lokalen Räte der Landarbeiters und Bauerndeputierten. Ausscheidung von Deputiertenräten der ärmsten Bauern. Bildung von Musterwirtschaften aus allen großen Gütern (im Umfange von ca. 100 bis 300 Desjatinen, unter Berücksichtigung lokaler Verhältnisse und auf Grund von Einschätzung durch lokale Institutionen) unter Aufsicht der Landarbeiterdeputierten und auf Kosten der Gesellschaft.“

Lenin hält hier noch am Gedanken der Bewirtschaftung aller großen Güter durch die „Landarbeiter“ fest. Dies entspricht dem allgemeinen sozialistischen Agrarprogramm, das speziell auf die Verhältnisse der Länder mit solchem landwirtschaftlichen Großgrundbesitz zugeschnitten war, der im Groß­betrieb, also modern-kapitalistisch, bewirtschaftet wird. In die von den Landarbeitern genossenschaftlich bewirtschafteten Großgüter soll das Schwergewicht verlegt werden. Bedeutsam vom politischen Gesichtspunkt aus ist aber bereits hier 1. das Verfügungsrecht über den nationalisierten Boden seitens der lokalen Räte der Landarbeiter- und Bauerndeputierten. Damit war schon die Türe geöffnet für eine eventuelle Korrektur durch diese Organe des revolutionären Landvolkes, 2. die Ausscheidung von Deputiertenräten der ärmsten Bauern. Damit war organisatorisch der Übergang von der agrarischen Revolution über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Republik hinaus zu einer proletarisch-revoIutionären Landpolitik angekündigt und vorbereitet.

Die in den April-Thesen vorliegende Formel entspricht, wie die weitere Entwicklung zeigt, noch nicht vollkommen der in Russland bestehenden Lage auf dem Lande, wo Großgrundbesitz und Großbetrieb in der Hauptsache nicht zusammenfallen. Sie ist noch zu starr, schematisch, enthält aber bereits Elemente, die eine Anpassung an die Erfordernisse der tatsächlichen Lage enthalten.

Der offene Brief an die Delegierten des allrussischen Rates der Bauerndeputierten (Mai 1917) legt den Hauptwert auf die Enteignung des Großgrundbesitzes ohne jede Entschädigung und die sofortige lokale Initiative der Bauern in dieser Beziehung, ohne auf die Konstituante zu warten, die übrigens die endgültigen Gesetze über den Grund und Boden ausarbeiten sollen. Die Frage der Aufteilung oder genossenschaftlichen Bewirtschaftung ist hier beiseite gelassen.

Die Rede Lenins auf dem allrussischen Rat der Bauerndelegierten vom 22. Mai 1917 wendet sich jedoch noch ausdrücklich gegen die Vorstellung, dass es schon der Übergang des Landes an alle Werktätigen bedeute, wenn jeder Pächter (Nutznießer) über das Land frei verfügen könne. Lenin erklärt hier, kein Vertrauen zu haben zu dem Standpunkt der Soldatenräte über die Aufteilung (Verpflegungsform und Arbeitsform). Er unterstreicht die Notwendigkeit, „dass man aus jeder großen Wirtschaft, aus jeder großen gutsherrlichen Farm, wie es ihrer in Russland ungefähr 30.000 gibt, Musterwirtschaften bildet, und zwar möglichst schnell zu ihrer gemeinsamen Bearbeitung mit Landarbeitern und ausgebildeten Agronomen, mit Gebrauch der gutsherrlichen Viehherden, Werkzeuge usw. übergeht. Ohne diese gemeinsame Landbearbeitung unter der Aufsicht der Räte der Landarbeiter kann das Land nicht zu den Werktätigen übergehen.

Dies wird erläutert an den Vereinigten Staaten Nordamerikas.

„... Wir wissen, dass in Amerika im Jahre 1865 die Sklavenbesitzer besiegt wurden und daraufhin viele Millionen Desjatinen Land unentgeltlich oder fast unentgeltlich an die Bauern verteilt wurden, und trotzdem herrscht dort der Kapitalismus und beutet die arbeitenden Klassen ebenso stark oder gar noch stärker als sonst wo aus. Das ist jene sozialistische Lehre, die uns zur festen Überzeugung gebracht hat, dass ohne gemeinsame Bearbeitung des Landes durch Landarbeiter mit Anwendung der besten Maschinen und unter Leitung wissenschaftlich gebildeter Agronomen es keinen Ausweg gibt, um sich vom Joch des Kapitalismus zu befreien.“ (N. Lenin, Zur Agrarbewegung der Bolschewiki, S.31.)

Die entscheidende (für das Verhältnis der russischen Arbeiterklasse zum Bauerntum entscheidende Wendung vollzieht Lenin in dem Artikel Aus dem Tagebuch eines Publizisten in Nr.6 der Zeitung Der Arbeiter, vom 11. September (29. August alten Stils). Den Umschwung brachten die Berichte (242), die von den Ortsdelegierten dem allrussischen Kongreß der Bauerndelegierten im Jahre 1917 übereicht wurden und die in Nr.33 der Nachrichten des allrussischen Rates der Bauerndeputierten vom 19. August (alten Stils) zusammengefasst wurden. Aus diesen Berichten ging klar hervor, dass das allgemeine bäuerliche Verlangen die gleichmäßige Aufteilung des Landes unter die Werktätigen war. Das war im Wesen das Programm der Soldatenräte, das sie aber nicht erfüllten und auch, als Verbündete der Bourgeoisie, nicht erfüllen konnten.

„Die Sozialistenrevolutionäre unterschreiben die allerrevolutionärsten Programme des Bauerntums, aber sie erfüllen sie nicht, sie schieben sie auf die lange Bank, sie betrügen die Bauern durch die fadenscheinigsten Versprechungen“, erklärt Lenin.

Mit einer kühnen Wendung — die eine der wichtigsten von März bis Oktober 1917 ist — übernimmt jetzt die bolschewistische Partei das revolutionäre Programm, das aus der Bauernschaft selbst hervorgegangen ist, das die Soldatenräte nur auf dem Papier annahmen, um es revolutionär zu verwirklichen und sich so die Bundesgenossenschaft der großen landbedürftigen Bauernmasse zu sichern. Entsprechend verlangt Lenin eine Änderung der Grundtendenz der Parteipropaganda und: Agitation gegen die Sozialrevolutionäre, wie die Grundtendenz der Aussprachen der Partei an die Bauern. Der direkte Übergang zum genossenschaftlichen Betrieb auf allen Großgütern' wird als unrealisierbar, als nicht entsprechend der tatsächlichen Strömung der großen Mehrheit der Bauernschaft (der ländlich en Halbproletarier, Klein- und Mittelbauern) fallen gelassen.

Lenin erinnert an den bekannten Aufsatz von F. Engels in der Neuen Zeit über die Bauernfrage.

„Engels betonte, dass die Sozialisten gar nicht daran denken, die kleinen Bauern zu expropriieren, dass sie nur durch die Kraft des Beispiels ihnen die Vorzüge der mit Maschinen betrieben en sozialistischen Landwirtschaft zeigen werden.“

„Die Bauern“, erklärt Lenin, „wollen ihre Kleinbetriebe behalten, diese Betriebe gleichartig normieren und sie periodisch wieder zerteilen ... gut. Deshalb wird kein vernünftiger Sozialist mit den Dorfarmen brechen. Wenn die Ländereien beschlagnahmt werden, wird die Herrschaft der Banken untere miniert sein — wenn das Inventar beschlagnahmt sein wird, wird folglich die Herrschaft des Kapitals unterminiert sein. Dann wird, wenn das Proletariat die Herrschaft in den ausschlage gebenden Orten errungen und die politische Macht erobert hat, alles andere sich von selbst finden, das Resultat der ‚Macht des Beispiels’, als Resultat praktischer Erwägungen.“

„Der Übergang der politischen Macht an das Proletariat — das ist der Kern der Sache. Und dann wird alles Wesentliche, Grundlegende, Wichtigste im Programm der 242 Berichte erfüllbar. Das Leben wird schon nachher zeigen, welche Abweichung gen notwendig werden. Das ist eine Nebensache. Wir sind keine Doktrinäre. Unsere Teilnahme ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zur Tat.“

Das sozialistische Wissen um die Klassenverhältnisse gibt Lenin die Sicherheit, dass auch dieser veränderte indirekte Weg, den das Leben erfordert, schließlich zum Sozialismus führen wird. Der ursprünglich programmatisch ins Auge gefasste Weg der direkten Sozialisierung des Großgrundbesitzes ist nicht gangbar. Also schlagen wir den Weg ein, den die revolutionäreBauernschaft gehen will. Ihre, der bäuerlichen Massen, Erfahrung wird sie weiter führen, vorausgesetzt, dass die Arbeiterklasse sie unter ihre Führung nimmt. Das ist jetzt das Entscheidende, die Voraussetzung für alles weitere.

Am 26. Oktober, 2 Uhr nachts, erging in diesem Sinn vom 2. allrussischen Kongreß, der die politische Macht übernahm, das Dekret über den Grund und Boden in das Land, das der revolutionären Welle auf dem Land den mächtigsten Antrieb gab.

In einem Brief an die Redaktion, vom 16. November erklärt Lenin ausdrücklich, dass die Bolschewiki in der Nationalversammlung gegen die Bourgeoisie mit den linken Sozialrevolutionären für die ausgleichende Landnutznießung stimmen müssten, wenn von ihnen die Entscheidung darüber abhinge.

So wird also von Lenin in kühner Wendung die Abänderung und Auffassung des allgemeinen sozialistischen Agrarprogramms an die besonderen agrarischen Verhältnisse Russlands vollzogen. Das grundlegende Ziel, die sozialistische Wirtschaft, auch auf dem Lande, bleibt. Der Weg dazu aber wird geändert von dem beherrschenden Gesichtspunkt aus, dass nur die Verbindung des Proletariats mit dem Bauerntum zur Eroberung der politischen Macht die Voraussetzung für die Erreichung dieses Zieles bildet, zai dem die Nationalisieru ng und Aufteilung des Landes eine in Russland unvermeidliche Übergangsstufe bildet.

Die allgemeinen Folgerungen aus der russischen revolutionären Erfahrung werden dann von Lenin in den von ihm verfaßten Leitsätzen über die Agrarfrage auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale gezogen (Juli-August 1920).

Hier wird klar geschieden, was von den agrarrevolutionären Maßregeln in Russland von allgemeiner Bedeutung ist, und was den besonderen agrarischen Verhältnissen Russlands entspricht.

Demgemäß wird zur Aufgabe gestellt: Die Gewinnung als Bundesgenossen der Arbeiterklasse des landwirtschaftlichen Proletariats und ihre selbständige Organisation, die der Halbproletarier und Parzellenbauern sowie die der Kleinbauern, d. h. der Landwirte, die Eigentümer oder Pächter kleiner Grundstücke sind, welche die Bedürfnisse ihrer Familie und ihrer Wirts Schaft gerade decken und die keine fremde Arbeitskraft mieten, die Neutralisierung der mittleren Bauernschaft (d.h. Eigentümer oder Pächter kleiner Grundstücke, die unter dem Kapitalismus in der Regel nicht nur der Familie und der Wirtschaft Unterhalt gewähren, sondern auch einen kleinen Überschuß abgeben, der wenigstens in den günstigsten Jahren in ein Kapital verwandelt werden kann, auch sind die Landwirte häufig in der Lage, fremde Arbeitskraft zu mieten; die Entwaffnung und Niederzwingung der selbstarbeitenden Großbauernschaft, aber nicht ihre unmittelbare Enteignung.

In Bezug auf die Landfrage fordern die Agrarthesen die unverzügliche, ausnahmslose und entschädigungslose Enteignung des gesamten Landes der Großgrundbesitzer, Rittergutsbesitzer und derjenigen Personen, die unmittelbar oder durch ihre Pächter systematisch die Arbeitskraft der Landarbeiter, der umliegenden kleinen (nicht selten auch der mittleren) Bauernschaft ausbeuten und nicht selbst körperlich arbeiten.

„Für die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder erkennt die Kommunistische Internationale es für richtig an, den landwirtschaftlichen Großbetrieb vorwiegend beizubehalten und ihn nach der Art der Sowjetwirtschaften in Russland zu führen ...“

„In Russland mußte man infolge der landwirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes mit zur Aufteilung der Ländereien unter die Bauern und zu ihrer Ausnutzung (besser Nutznießung. A. Th.) durch sie schreiten ...“

Dagegen wird Landaufteilung empfohlen, wo noch Überreste mittelalterlicher Verfassung, des Fronsystems zu besonderen Form en der Ausbeutung führen, und in Ländern und Gebietsteilen, wo der landwirtschaftliche Großbetrieb eine relativ geringe Rolle spielt, dagegen eine große Anzahl bäuerlicher Besitzer bestehen, die danach trachten, Land zu bekommen.

Wir haben also drei Etappen gedanklicher Entwicklung zu unterscheiden:

  1. Das allgemeine sozialistische Agrarprogramm, in dem keine Rede von Landaufteilung ist.
  2. Die Abänderung entsprechend den russischen Verhältnissen: Landaufteilung als unumgängliche Zwischenstufe zur sozialistischen, gemeinschaftlich betriebenen großen Landwirt­schaft.
  3. Auf Grund der gemachten Erfahrungen, die weitere Konkretisierung des kommunistischen Agrarprogramms, die sowohl unter bestimmten Voraussetzungen, den unmittelbaren Übergang zum sozialistischen Großbetrieb in der Landwirtschaft, wie auch die Zwischenstufe der Landaufteilung vorsieht.

Auch in dieser Frage also eine lehrreiche und exakte Anwendung der materialistisch-dialektischen Methode.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008