August Thalheimer

Über die Handhabung der materialistischem Dialektik durch Lenin in einigen Fragen der proletarischen Revolution

 

IV. Die Frage des imperialistischen und des nationalen Krieges.

Die Behandlung dieser Frage durch Lenin ist besonders bemerkenswert dadurch, dass Lenin hier wahrhaft dialektisch die Fälschungen des Sozialpatriotismus kritisch vernichtet, die die Massen durch die Übertragung der Haltung von Marx und Engels zu den nationalen Kriegen ihrer Zeit auf den imperialistischen Krieg zu täuschen suchte, ohne aber die Möglichkeit nationaler Kriege auch im „Zeitalter des Imperialismus“ außer Acht zu lassen. Die Behandlung dieser Frage ist ein Musterbeispiel der konkreten dialektischen Analyse.

„Der Sophismus dieser Betrachtungen“, erklärt Lenin den Sozialchauvinisten, „besteht darin, dass eine Unterstellung begangen wird, indem eine frühere, längst vergangene historische Epoche an Stelle der gegenwärtigen gesetzt wird. Der Grundzug der früheren Kriege, auf die sich Kautsky bezieht, war: 1. die früheren Kriege entscheiden über Fragen der bürgerlich demokratischen Reformen und des Sturzes des Absolutismus oder des fremden Jochs; 2. damals waren die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution noch nicht reif, und kein Sozialist konnte vor dem Kriege von einer Ausnutzung des Krieges für eine Beschleunigung des Zusammenbruchs des Kapitalismus sprechen, wie es in der Stuttgarter (1907) und in der Basler (1912) Resolution hieß; 3. damals gab es keine einigermaßen starken kampferprobten sozialistischen Massenparteien in den Ländern der beiden kriegführenden Parteien!“ (Sophismen der Sozialchauvinisten (1. Mai 1915), abgedruckt in Gegen den Strom, S.78.)

Dagegen wendet sich Lenin ebenfalls mit aller Schärfe gegen diejenigen, die die Möglichkeit nationaler Aufstände in der Ära des Imperialismus leugnen.

Er erklärt in der Kritik der Juniusbroschüre gegenüber der Behauptung, dass es keine nationalen Kriege mehr geben könne“.

„Nationale Kriege von Seiten der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich ... Ein jeder Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Als eine Forts Setzung der Befreiungspolitik der Kolonien werden ihrerseits nationale Kriege gegen den Imperialismus unvermeidlich sein. Solche Kriege können zum imperialistischen Kriege der jetzigen imperialistischen „Großmächte“ führen…“

„Drittens kann man nicht einmal in Europa in der Ära des Imperialismus nationale Kriege als unmöglich erachten. Diese Ära schließt aber nationale Kriege durchaus nicht aus, z.B. von Seiten der kleinen (nehmen wir einen annektierten oder national unterdrückten) Staaten gegen die imperialistischen Mächte, sowie sie auch im Osten Europas nationale Bewegungen in großem Maßstabe nicht ausschließt… Und bei der starken Erschöpfung der Großmächte in diesem Kriege oder auch bei einem Siege der Revolution in Russland sind nationale Kriege, selbst siegreiche, durchaus möglich…“

Lenin erklärt sogar, unter bestimmten Bedingungen, die Verwandlung des imperialistischen Krieges 1914/18 in einen nationalen Krieg, wenn auch nicht für wahrscheinlich, so theoretisch nicht für unmöglich, nämlich, wenn das Proletariat Europas auf 20 Jahre hinaus machtlos bliebe, wenn dieser Krieg mit solchen Siegen, wie die napoleonischen Siege, und mit einer Unterjochung einer ganzen Reihe lebensfähiger Nationalstaaten enden würde, wenn der außereuropäische Imperialismus (der japanische und amerikanische in erster Reihe) sich auch noch 20 Jahre lang aufrecht erhalten könnte, ohne zum Sozialismus überzugehen (z.B. infolge eines japanisch-amerikanischen Krieges) dann wäre ein großer nationaler Krieg in Europa möglich. Das würde für Europa einige Jahrzehnte hindurch ein Rückentwicklung bedeuten. Dies ist aber nicht wahrscheinlich. Es ist aber nicht unmöglich, da es nicht dialektisch, nicht wissenschaftlich und theoretisch nicht richtig ist, sich die Weltgeschichte so vorzustellen, als ob sie ganz glatt und gerade vorwärts schreiten würde, ohne manchmal Riesensprünge nach rückwärts zu machen (S. 420).

Bei dieser Gelegenheit macht Lenin auch Ausführungen über das Wesen der marxistischen Dialektik, die ausgezeichnet, sowohl diese Methode im allgemeinen, als ihre Handhabung durch Lenin kennzeichnen. Er sagt:

„Es versteht sich von selbst, dass der Grundsatz der marxistischen Dialektik darin besteht, dass alle Grenzen in der Natur bedingt und beweglich sind, dass es keine einzige Erscheinung gibt, die unter gewissen Bedingungen nicht in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Ein nationaler Krieg kann sich in einen imperialistischen verwandeln und umgekehrt ...

Nur ein Sophist könnte den Unterschied zwischen einem imperialistischen und einem nationalen Kriege mit der Begründung verwischen wollen, dass der eine in den andern umschlagen kann. Die Dialektik hat auch in der Geschichte der griechischen Philosophie nicht selten als Brücke zum Sophismus gedient. Wir bleiben aber Dialektiker, die gegen die Sophismen nicht durch Verneinung jeglicher Verhandlungen überhaupt ankämpfen, sondern mittels einer konkreten Analyse des gegebenen Moments sowohl in seiner augenblicklichen Lage als auch in seiner Entwicklung.“

Die lebendige Übernahme des Leninismus erfordert vor allem das Studium und die Abneigung dieser „konkreten (dialektischen) Analyse“ des jeweils „gegebenen Moments, sowohl in der augenblicklichen Lage, als auch in seiner Entwicklung“ an der Hand der theoretischen und praktisch-politischen Arbeiten Lenins und auf Grund der Untersuchung ihrer jeweiligen konkreten Bedingungen und Voraussetzungen. Was wir in dieser kleinen Arbeit geben, konnte natürlich nur eine kleine Probe sein.


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008