MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki > Vert. d. Marxismus > Schramme
Die Diskussion entwickelt sich nach ihrer eigenen inneren Logik. Jedes Lager versuchte entsprechend seinem sozialen Charakter und seiner politischen Physiognomie, die Punkte zu treffen, wo der Gegner am schwächsten und verwundbarsten ist. Genau das bestimmt den Verlauf einer Diskussion, und nicht ein vorgefaßter Plan der Oppositionsführer. Es ist verspätet und unfruchtbar, jetzt das Aufflammen der Diskussion zu bejammern. Man muß nur ein wachsames Auge auf die Rolle von stalinistischen Provokateuren werfen, die ohne Frage in der Partei sind und den Auftrag haben, die Atmosphäre der Diskussion zu vergiften und die ideologische Auseinandersetzung bis zur Spaltung zu führen. Es ist nicht so sehr schwer, diese Herren zu erkennen; ihre Begeisterung ist übertrieben und selbstverständlich geheuchelt; sie ersetzen Ideen und Argumente durch Geschwätz und Verleumdung. Sie müssen durch gemeinsame Anstrengung beider Fraktionen entlarvt und hinausgeworfen werden.
Aber die grundsätzliche Auseinandersetzung muß bis zu Ende geführt werden, das bedeutet, bis zur ernsthaften Abklärung der wichtigeren Fragen. Die Diskussion muß so verwertet werden, daß sie das theoretische Niveau der Partei hebt.
Ein großer Teil der Mitglieder der amerikanischen Sektion, wie auch unsere ganze junge Internationale, kam zu uns entweder aus der Komintern in der Periode ihres Abstiegs oder aus der Zweiten Internationale. Dies sind schlechte Schulen.
Die Diskussion hat offenbart, daß weite Kreise unserer Partei eine gründliche theoretische Erziehung vermissen lassen. Es reicht zum Beispiel aus, auf den Umstand zu verweisen, daß das New Yorker Parteibüro nicht mit einer energischen Verteidigung reagierte, als versucht wurde, die marxistische Lehre und das marxistische Programm leichtfertig zu revidieren, ganz im Gegenteil, es unterstützte die Mehrheit der Revisionisten. Das ist bedauerlich, aber in dem Maße abstellbar, in dem unsere amerikanische Sektion und die ganze Internationale aus aufrichtigen Individuen besteht, die offen versuchen, sich zum revolutionären weg durchzufinden. Sie habenden Wunsch und den Willen zu lernen. Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Gerade das Vordringen der Partei in den Gewerkschaften und in das Arbeitermilieu im allgemeinen verlangt die Vertiefung der theoretischen Qualifikation unserer Kader. Ich meine mit Kader nicht den „Apparat“, sondern die Partei in ihrer Gesamtheit. Jedes Parteimitglied soll und muß sich selbst als Offizier der proletarischen Armee verstehen.
“Seit wann seid Ihr Spezialisten in philosophischen Fragen geworden?“, fragen die oppositionellen ironisch die Vertreter der Mehrheit. Ironie ist hier vollkommen fehl am Platze. Der wissenschaftliche Sozialismus ist der bewußte Ausdruck des unbewußten historischen Prozesses, nämlich Ausdruck des instinktiven und elementaren Drucks des Proletariats, die Gesellschaft auf kommunistischer Grundlage neu aufzubauen. Diese organischen Tendenzen in der Psychologie des Arbeiters tauchen heute in der Epoche der Krisen und Kriege äußerst schnell auf. Die Diskussion hat zweifellos in der Partei einen Zusammenstoß zwischen einer kleinbürgerliche Richtung und einer proletarischen aufgedeckt. Die kleinbürgerliche Richtung enthüllte ihre Verwirrung durch ihren Versuch, das Parteiprogramm auf den Bereich der „Konkreten“ Fragen zu beschränken. Die proletarische Richtung hingegen bemüht sich, alle Teilfragen in Wechselbeziehung zur theoretischen Einheit zu bringen. Gegenwärtig geht es nicht darum, inwieweit einzelne Mitglieder der Mehrheit die dialektische Methode bewußt anwenden. Wichtig ist, daß die Mehrheit als Ganzes darauf drängt, die Fragen proletarisch zu stellen, und gerade deswegen neigt sie dazu, sich die Dialektik anzueignen, die die “Algebra der Revolution“ ist. Ich habe gehört, daß die Oppositionellen jede Erwähnung der „Dialektik“ damit begrüßten, daß sie in Gelächter ausbrachen. Vergeblich. Diese verächtliche Methode wird nichts helfen. Die Dialektik des geschichtlichen Prozesses hat mehr als einmal diejenigen grausam bestraft, die sie zu verhöhnen suchten.
Der jüngste Artikel des Genossen Shachtman, Offener Brief an Leo Trotzki, ist ein alarmierendes Zeichen. Er deckt auf, daß Shachtman es ablehnt, aus der Diskussion zu lernen und stattdessen beharrlich seine Fehler vertieft, wobei er nicht nur das unzureichende theoretische Niveau der Partei ausnützt, sondern auch die besonderen Vorurteile ihres kleinbürgerlichen Flügels. Jeder weiß, wie leicht Shachtman die verschiedenen geschichtlichen Ereignisse um die eine oder andere Achse gruppieren kann. Diese Fähigkeit macht Shachtman zu einem begabten Journalisten. Leider ist das allein nicht genug. Die Hauptfrage ist, welche Achse man wählt. Shachtman wird immer von der Spiegelung der Politik in Literatur und Presse in Anspruch genommen. Er ist nicht interessiert an der aktuellen Entwicklung des Klassenkampfes, dem Leben der Massen, den Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse usw. Ich habe viele vorzügliche und sogar ausgezeichnete Artikel Shachtmans gelesen, ich habe nie einen einzigen Kommentar von ihm gesehen, der tatsächlich in das Leben der amerikanischen Arbeiterklasse oder ihrer Avantgarde eindrang.
Eine Qualifikation muß bis zu diesem Umfang vorhanden sein – darin ist nicht nur Shachtmans persönlicher Mangel verkörpert, sondern das Schicksal einer ganzen revolutionären Generation, die wegen eines besonderen Zusammentreffens historischer Bedingungen außerhalb der Arbeiterklasse auf wuchs. In der Vergangenheit hatte ich mehrmals die Möglichkeit, darüber zu sprechen und zu schreiben, daß diese wertvollen Elemente trotz ihrer Ergebenheit für die Revolution Gefahr laufen zu entarten. Was seinerzeit ein unausweichliches Charakteristikum der Jugend war, ist zur Schwäche geworden. Schwäche lockt Krankheit an. Wenn die Krankheit vernachlässigt wird, kann sie tödlich werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, muß bewußt ein neues Kapitel in der Entwicklung der Partei aufgeschlagen werden. Die Propagandisten und Journalisten der Vierten Internationale müssen ein neues Kapitel in ihrem eigenen Bewußtsein anfangen. Es ist notwendig, sich neu auszurüsten. Es ist notwendig, eine Kehrtwendung um die eigene Achse zu machen: den kleinbürgerlichen Intellektuellen den Rücken kehren und das Gesicht den Arbeitern zuwenden.
Es läßt sich kaum ein Fehler denken, der für die Partei gefährlicher wäre, als den Grund für die gegenwärtige Parteikrise – im Konservatismus ihrer Arbeiterabteilungen zu sehen und die Lösung dieser Krise durch den Sieg des kleinbürgerlichen Blocks zu suchen. In Wirklichkeit besteht das Wesen der gegenwärtigen Krise im Konservatismus ihrer kleinbürgerlichen Elemente, die eine rein propagandistisehe Schule durchgemacht haben und die noch keinen Pfad zur Straße des Klassenkampfes gefunden haben. Die gegenwärtige Krise ist die Entscheidungsschlacht dieser Elemente um ihre Selbsterhaltung. Jeder Oppositionelle kann als einzelner, wenn er es entschlossen will, für sich selbst einen angemessenen Platz in der revolutionären Bewegung finden. Als Fraktion sind sie verloren. In dem beginnenden Kampf ist Shachtman nicht in dem Lager, in dem er sein sollte. Wie immer in solchen Fällen sind seine starken Seiten in den Hintergrund getreten, während seine schwachen Charakterzüge andererseits einen besonders ausgeprägten Ausdruck angenommen haben. Sein Offener Brief stellt sozusagen eine Kristallisation seiner schwachen Züge dar.
Shachtman hat eine Kleinigkeit außer acht gelassen: seine Klassenstellung. Daher sein unverständliches Hin und Her, seine Improvisationen und Sprünge. Er ersetzt Klassenanalyse durch unzusammenhängende geschichtliche Anekdoten, ausschließlich um seinen eignen Frontwechsel zu vertuschen, um den Widerspruch zwischen seinen Gestern und Heute zu verschleiern. So verfährt Shachtman mit der Geschichte des Marxismus mit der Geschichte seiner eigenen Partei und mit der Geschichte der russischen Opposition. Dabei häuft er Fehler auf Fehler. Alle geschichtlichen Analogien, zu denen er greift, sprechen, wie wir sehen werden, gegen ihn.
Es ist sehr viel schwieriger, Fehler zu berichtigen, als sie zu begehen. Ich muß den Leser um Geduld bitten, wenn er mit mir Schritt für Schritt all dem Hin und Her von Shachtmans geistigen Schaffen folgt. Ich für meinen Teil verspreche, mich nicht nur darauf zu beschränken, die Fehler und Widersprüche zu entlarven, sondern von Anfang bis Ende die proletarische Position der kleinbürgerlichen entgegen zu stellen, den marxistischen Standpunkt der Eklektik. Auf diese Weise lernen vielleicht alle von uns etwas aus der Diskussion.
“Wie konnten wir unversöhnliche Revolutionäre so plötzlich eine kleinbürgerliche Richtung werden?“, fragt Shachtman entrüstet. Wo sind die Beweise? „Worin hat sich diese Richtung in den letzten ein, zwei Jahren (!) an den repräsentativen Sprechern der Minderheit gezeigt?“ (Internal Bulletin, Bd.2, Nr.7, Januar 1940, S.11) Warum unterlagen wir nicht in der Vergangenheit dem Einfluß der kleinbürgerlichen Demokratie? Warum machten wir nicht während des spanischen Bürgerkrieges ... usw. usf. Das ist Shachtmans Hauptargument am Anfang seiner Polemik gegen mich, und über dies Argument spielt er in allen Tonlagen Variationen und mißt ihm offensichtlich außerordentliche Wichtigkeit bei. Es kommt Shachtman nicht einmal in den Sinn, daß ich gerade dieses Argument gegen ihn kehren kann.
Die Schrift der Opposition, Krieg und bürokratischer Konservatismus gesteht ein, daß Trotzki in neun von zehn Fällen recht hat, vielleicht auch in neunundneunzig von hundert. Ich verstehe nur zu gut den bedingten und außerordentlich großmütigen Charakter dieses Zugeständnisses. In Wirklichkeit mache ich mehr Fehler. Wie erklärt man dann die Tatsache, daß zwei oder drei Wochen nachdem dieses Dokument geschrieben wurde, Shachtman plötzlich zu dem Schluß kam, daß Trotzki
Kurz, innerhalb von zwei oder drei Wochen hat Shachtman entdeckt, daß ich in neunundneunzig von hundert Fällen Fehler mache, insbesondere wo Shachtman selbst zufällig damit zu tun hat. Es scheint, daß dieser Prozentsatz auch an leichter Übertreibung krankt – aber diesmal in entgegengesetzter Richtung. Auf jeden Fall entdeckt Shachtman meine Absicht, die Revolution der Massen durch eine „bürokratische Revolution“ zu ersetzen, weitaus plötzlicher als ich seine kleinbürgerliche Abweichung.
Genosse Shachtman fordert mich auf, Beweise vorzulegen, daß es während des letzten Jahres oder sogar während der letzten zwei, drei Jahre eine „kleinbürgerliche Richtung“ in der Partei gab. Shachtman hat völlig recht, wenn er sich nicht auf die weiter zurückliegende Vergangenheit beziehen will. Aber gemäß Shachtmans Aufforderung werde ich mich auf die letzten drei Jahre beschränken. Bitte, lesen Sie genau! Auf die rhetorischen Fragen meines schonungslosen Kritikers werde ich mit einigen exakten Dokumenten antworten.
Am 25. Mai 1937 schrieb ich nach New York über die Politik der bolschewistisch-leninistischen Fraktion in der Socialist Party:
„... Ich muß zwei neue Dokumente zitieren: (a) den Privatbrief von ‚Max‘ über die Tagung und (b) Shachtmans Artikel Hin zu einer revolutionären Socialist Party. Allein der Titel dieses Artikels kennzeichnet eine falsche Perspektive. Es scheint mir durch die Entwicklung, einschließlich des letzten Parteitag, festzustehen, daß sich die Partei nicht zu einer ‚revolutionären‘ Partei, sondern zu einer Art ILP entwickelt, d.h. zu einer erbärmlichen zentristischen politischen Fehlgeburt ohne jede Perspektive.
Die Versicherung, daß die American Socialist Party heute ‚dem Standpunkt des revolutionären Marxismus näher als irgendeine Partei der Zweiten oder Dritten Internationale‘ stehe, ist ein absolut unverdientes Kompliment: Die American Socialist Party ist nur rückständiger als die vergleichbaren Organisationen in Europa – die POUM, ILP, SAP usw. ... Unsere Pflicht ist es, den negativen Vorteil von Norman Thomas & Co. zu entlarven, und nicht von der ‚Überlegenheit (der Kriegsresolution) über jede vorher von der Partei angenommene Resolution ...‘ zu sprechen. Das ist ein rein literarisches Verständnis, weil jede Resolution in Zusammenhang mit historischen Ereignissen gesehen werden muß, in Zusammenhang mit der politischen Situation und ihren zwingenden Erfordernissen ... „
In beiden Dokumenten, die in dem Brief oben erwähnt werden, verrät Shachtman eine übermäßige Anpassungsfähigkeit an den linken Flügel der kleinbürgerlichen Demokraten – politische Mimikry – ein sehr gefährliches politisches Zeichen für einen revolutionären Politiker! Es ist sehr wichtig, seine hohe Einschätzung von der “radikale“ Position Norman Thomas’ in bezug auf den Krieg ... in Europa zu berücksichtigen. Opportunisten neigen bekanntlich zu um so größerem Radikalismus, je weiter sie von den Ereignissen entfernt sind. Bedenkt man diese Gesetzmäßigkeit, so ist es leicht, jene Tatsache auf ihren wahren Wert hin abzuschätzen, daß Shachtman und seine Verbündeten uns der Tendenz anklagen, “vor dem Stalinismus zu kapitulieren“. Ach ja, wenn man in Bronx lebt, ist es wesentlich leichter, Unversöhnlichkeit gegen den Kreml als gegen das amerikanische Kleinbürgertum erkennen zu lassen.
Wenn wir Genosse Shachtman Glauben schenken wollen, zog ich die Frage der Klassenzusammensetzung der Fraktionen an den Haaren in die Diskussion hinein. Auch hier wollen wir auf die jüngste Vergangenheit verweisen.
Am 3. Oktober 1937 schrieb ich nach New York:
„Ich habe Hunderte von Malen festgestellt, daß der Arbeiter, der unter den ‚normalen‘ Bedingungen des Parteilebens unbeachtet bleibt, bei einer Veränderung der Situation erstaunliche Eigenschaften zeigt, wenn allgemeine Formeln und gewandte Federn nicht ausreichen, wo Bekanntschaft mit dem Leben der Arbeiter und praktische Fähigkeiten notwendig sind. Unter solchen Umständen offenbart ein begabter Arbeiter Selbstsicherheit und auch seine allgemeinen politischen Fähigkeiten.
Vorherrschaft von Intellektuellen in der Organisation ist im ersten Abschnitt der Entwicklung der Organisation unvermeidlich. Sie ist gleichzeitig ein großer Nachteil für die politische Erziehung der begabteren Arbeiter ... Es ist unbedingt notwendig, daß auf dem nächsten Parteitag möglichst viele Arbeiter in die lokalen und zentralen Komitees aufgenommen werden. Für einen Arbeiter ist die Tätigkeit in einem führenden Parteigremium gleichzeitig eine hohe politische Schule ...
Die Schwierigkeit besteht darin, daß es in jeder Organisation traditionelle Komiteemitglieder gibt und daß verschiedene zweitrangige fraktionelle und persönliche Überlegungen beim Aufstellen der Kandidatenliste eine zu große Rolle spielen.“
Ich bin niemals bei Genossen Shachtman auf Aufmerksamkeit oder Interesse für Fragen dieser Art gestoßen.
Wenn wir Genosse Shachtman glauben wollen, warf ich die Frage, ob Genosse Aberns Fraktion eine Ansammlung kleinbürgerlicher Individuen sei, künstlich und ohne jede tatsächliche Grundlage auf. Jedoch schon am 10. Oktober 1937, zu einer Zeit, als Shachtman mit Cannon Seite an Seite marschierte und als man offiziell annahm, daß Abern keine Fraktion habe, schrieb ich an Cannon:
„Die Partei besitzt nur eine Minderheit echter Fabrikarbeiter ... Die nicht-proletarischen Elemente sind eine sehr notwendige Hefe, und ich glaube, wir können auf ihre guten Eigenschaften stolz sein... Aber ... Unsere Partei kann von nicht-proletarischen Elementen überschwemmt werden und sogar ihren revolutionären Charakter verlieren. Die Aufgabe besteht natürlich nicht darin, das Einfließen von Intellektuellen durch künstliche Methoden zu verhindern, sondern die ganze Organisation praktisch an den Fabriken, den Streiks und den Gewerkschaften zu orientieren ...
Ein konkretes Beispiel: Wir können nicht allen Fabriken ausreichende oder gleiche Kräfte widmen. Unsere örtliche Organisation kann sich für ihre Tätigkeit in der nächsten Zeit eine, zwei oder drei Fabriken in ihrem Gebiet auswählen und soll alle ihre Kräfte auf diese Fabriken konzentrieren. Wenn wir in einer von ihnen zwei oder drei Arbeiter haben, können wir einen besonderen Hilfsausschuß von fünf Nicht-Arbeitern schaffen, um unseren Einfluß in diesen Fabriken zu vergrößern.
Das gleiche kann man in Gewerkschaften tun. Wir können keine Nicht-Arbeiter in die Gewerkschaften der Arbeiter hineinbringen. Aber wir können mit Erfolg Hilfsausschüsse für mündliche oder literarische Tätigkeit zusammen mit unseren Genossen in der Gewerkschaft aufbauen. Die unabdingbaren Voraussetzungen sollten sein: nicht den Arbeitern zu befehlen, sondern ihnen nur zu helfen, ihnen Anregungen zu geben, sie mit den Tatsachen Vorstellungen, Fabrikzeitungen, besonderen Flugblättern usw. zu bewaffnen.
Solche Zusammenarbeit hätte eine ungeheure erzieherische Bedeutung auf der einen Seite für unsere Arbeiter-Genossen, auf der anderen Seite für unsere Nicht-Arbeiter, die eine gründliche Umerziehung brauchen.
Sie haben zum Beispiel eine große Anzahl jüdischer Nicht-Arbeiter in Ihren Reihen. Sie können eine sehr wertvolle Hefe sein, wenn es der Partei nach und nach gelingt, sie aus ihrer geschlossenen Umgebung heraus zu ziehen, und sie durch tägliche Aktivität an die Fabrikarbeiter zu binden. Ich glaube, eine derartige Orientierung würde auch eine gesündere Atmosphäre innerhalb der Partei sichern.
Eine allgemeine Regel können wir sofort aufstellen: Ein Parteimitglied, das nicht innerhalb von drei oder sechs Monaten einen neuen Arbeiter für die Partei gewinnt, ist kein gutes Parteimitglied.
Wenn wir ernsthaft eine solche allgemeine Richtlinie aufstellen und wöchentlich die praktischen Ergebnisse nachprüfen, werden wir eine große Gefahr umgehen, nämlich daß die Intellektuellen und die Stehkragen-Arbeiter die Minderheit der Arbeiter unterdrücken, sie zum Schweigen verurteilen können und die Partei in einen sehr geistvollen aber für Arbeiter unbewohnbaren Debattierklub verwandeln.
Die gleichen Regeln sollten in entsprechender Form die Arbeit und die Rekrutierung für die Jugendorganisation ausgearbeitet werden, sonst laufen wir Gefahr, gute junge Elemente zu revolutionären Dilettanten und nicht zu revolutionären Kämpfern zu erziehen.„
Aus diesem Brief wird, glaube ich, deutlich, daß ich die Gefahr kleinbürgerlicher Abweichung nicht am dem Stalin-Hitler-Pakt oder am Tage nach der Zerstückelung Polens erwähnte, sondern sie schon zwei oder mehr Jahre vorher hartnäckig aufzeigte. Wie ich ferner ausführte, wobei ich hauptsächlich die “nicht-existierende“ Abern-Fraktion im Auge hatte, mußten die jüdischen kleinbürgerlichen Elemente der New Yorker Lokalorganisation unbedingt aus ihrer gewohnten konservativen Umgebung herausgenommen und in der wirklichen Arbeiterbewegung aufgelöst werden, um die Atmosphäre in der Partei zu reinigen. Gerade deswegen ist der Brief oben (nicht der erste seiner Art), der mehr als zwei Jahre vor Beginn der gegenwärtigen Diskussion geschrieben wurde, von weitaus größerem Gewicht als Zeugnis als alle Schriften der Oppositionsführer über die Motive, die mich veranlaßten, die „Cannon-Clique“ zu verteidigen.
Shachtmans Tendenz, dem kleinbürgerlichen Einfluß zu unterliegen, besonders dem akademischen und literarischen, war mir niemals ein Geheimnis. Während der Zeit der Dewey-Kommission schrieb ich am 14. Oktober 1937 an Cannon, Shachtman und Warde:
„... Ich bestand auf der Notwendigkeit, das Komitee mit Abgeordneten von Arbeitergruppen zu umgeben, um Kanäle zwischen dem Komitee und den Massen zu schaffen. Die Genossen Warde, Shachtman und andere erklärten sich mit diesem Vorschlag einverstanden. Zusammen untersuchten wir gründlich die praktischen Möglichkeiten, diesen Plan zu realisieren. ... Aber später konnte ich, trotz wiederholter Fragen von mir, keine Informationen über die Angelegenheit erhalten und nur zufällig hörte ich, daß Genosse Shachtman diesem Plan feindlich gegenüberstand. Warum? Ich weiß es nicht.“
Shachtman enthüllte mir niemals seine Gründe. In meinem Brief drückte ich mich mit äußerstem politischen Takt aber ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß, während Shachtman den Worten nach mit mir übereinstimmte, er in Wirklichkeit fürchtete, das übermäßige politische Feingefühl unserer zeitweiligen liberalen Verbündeten zu verletzen. In dieser Richtung zeigt Shachtman außerordentliche Empfindlichkeit.
Am 15. April 1938 schrieb ich nach New York:
„Ich wundere mich ein bißchen über die Art, in der Eastmans Brief in der New International der Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Die Veröffentlichung dieses Briefes ist in Ordnung, aber die Tatsache, daß er auf dem Umschlag stark hervorgehoben wird, zusammen mit dem Schweigen über Eastmans Artikel in Harper’s, scheint mir für die New International etwas kompromittierend. Viele Leute werden diese Tatsache als unsere Bereitwilligkeit deuten, die Augen zu verschließen, wenn es um Freundschaft geht.“
Am 1. Juni 1938 schrieb ich an Genosse Shachtman:
„Es ist hier schwierig zu verstehen, warum Sie so duldsam, ja freundlich gegenüber Mr. Eugene Lyons sind. Er spricht anscheinend auf ihren Banketts, gleichzeitig spricht er auf den Banketts der Weißen Garden.“
Der Brief setzt den Kampf um eine unabhängigere und entschlossenere Politik gegenüber den sogenannten „Liberalen“ fort, die, während sie einen Kampf gegen die Revolution führen, “freundschaftliche Beziehungen“ mit dem Proletariat unterhalten wollen, denn das verdoppelt ihren Marktwert in den Augen der bürgerlichen öffentlichen Meinung.
Am 6. Oktober 1938, fast ein Jahr vor Beginn der Diskussion, schrieb ich über die Notwendigkeit, daß sich unsere Parteipresse entschieden den Arbeitern zuwenden müsse:
„In dieser Beziehung ist die Haltung des Socialist Appeal sehr wichtig. Er ist zweifellos eine sehr gute marxistische Zeitung, aber er ist kein echtes Instrument für politische Tätigkeit ... Ich versuchte, die Herausgeber des Socialist Appeal an dieser Frage zu interessieren, aber ohne Erfolg.“
Aus diesen Worten kann man eine Beschwerde heraushören. Und das ist kein Zufall. Genosse Shachtman zeigt, wie bereits erwähnt wurde, weit größeres Interesse an isolierten literarischen Episoden lange abgeschlossener Kämpfe als an der sozialen Zusammensetzung seiner eigenen Partei oder der Leser seiner eigenen Zeitung.
Am 20. Januar 1939 berührte ich in einem Brief, den ich bereits in Zusammenhang mit dem dialektischen Materialismus zitiert habe, wieder einmal die Frage nach der Tendenz des Genossen Shachtman hin zum Milieu der kleinbürgerlichen Literaturgilde.
„Ich kann nicht verstehen, warum der Socialist Appeal die stalinistische Partei fast vernachlässigt. Diese Partei stellt jetzt eine Anhäufung von Widersprüchen dar. Spaltungen sind unvermeidlich. Die nächste wichtige Bereicherung kommt sicherlich von der stalinistischen Partei. Wir sollten unsere politische Aufmerksamkeit auf sie richten. Wir sollten die Entwicklung ihrer Widersprüche Tag für Tag und Stunde für Stunde verfolgen. Jemand aus der Leitung sollte einen großen Teil seiner Zeit den Ideen und Tätigkeiten der Stalinisten widmen. Wir könnten eine Diskussion hervorrufen und, wenn möglich, die Briefe zögernder Stalinisten veröffentlichen.
Es wäre tausendmal wichtiger, als Eastman, Lyons und die anderen dazu einzuladen, ihre individuellen Ausdünstungen vorzuführen. Ich wunderte mich ein bißchen, warum Sie Eastmans letztem bedeutungslosen und unverschämten Artikel Platz einräumten ... Aber ich bin vollständig verblüfft, daß Sie persönlich die Leute einladen, die nicht so zahlreichen Seiten der New International zu besudeln. Die Fortsetzung dieser Polemik kann vielleicht einige kleinbürgerliche Intellektuelle interessieren, aber keine Revolutionäre.
Es ist meine volle Überzeugung, daß eine gewisse Neugestaltung der New International und des Socialist Appeal notwendig ist: mehr Abstand zu Eastman, Lyons und so weiter und näher an die Arbeiter und, in diesem Sinn, an die stalinistische Partei.“
Die jüngsten Ereignisse haben, so traurig es ist, gezeigt, daß Shachtman sich nicht von Eastman & Co. abwendete, sondern sich im Gegenteil ihnen weiter annäherte.
Am 27. Mai 1939 schrieb ich wieder über den Charakter des Socialist Appeal in Zusammenhang mit der sozialen Zusammensetzung der Partei:
„Aus den Protokollen sehe ich, daß Sie mit dem Socialist Appeal Schwierigkeiten haben. Die Zeitung ist aus journalistischer Sicht sehr gut gemacht; aber sie ist eine Zeitung für Arbeiter und keine Arbeiterzeitung ...
Die Zeitung ist zur Zeit unter verschiedene Schreiber aufgeteilt und jeder von ihnen ist sehr gut, aber zusammen erlauben sie den Arbeitern nicht, in die Seiten des Appeal einzudringen. Jeder von ihnen spricht für die Arbeiter (und spricht sehr gut), aber niemand will die Arbeiter hören. Trotz ihres literarischen Glanzes wird die Zeitung bis zu einem gewissen Grad Opfer journalistischer Routine. Man hört überhaupt nicht, wie die Arbeiter leben, kämpfen, mit der Polizei zusammenstoßen oder Whisky trinken. Das ist sehr gefährlich für die Zeitung als einem revolutionären Werkzeug der Partei. Die Aufgabe besteht nicht darin, eine Zeitung durch die vereinten Kräfte eines erfahrenen Redaktionsausschusses zu machen, sondern die Arbeiter zu ermuntern, für sich selbst zu sprechen.
Eine durchgreifende und mutige Veränderung ist die Voraussetzung für den Erfolg.
Natürlich ist das nicht nur eine Frage der Zeitung, sondern der ganzen Richtung der Politik. Ich bin weiterhin der Ansicht, daß Sie zu viele kleinbürgerliche Jungen und Mädchen haben, die sehr gut und der Partei ergeben sind, die aber nicht ganz klar erkennen, daß es nicht ihre Pflicht ist, untereinander zu diskutieren, sondern in das kräftige Milieu der Arbeiter einzudringen. Ich wiederhole meinen Antrag: Jedes kleinbürgerliche Mitglied der Partei, das während einer bestimmten Zeit, sagen wir drei oder sechs Monaten, keinen Arbeiter für die Partei gewinnt, sollte zum Rang eines Kandidaten degradiert werden und nach weiteren drei Monaten aus der Partei ausgeschlossen werden. In einigen Fällen mag das wohl ungerecht sein, aber die Partei als Ganzes würde einen heilsamen Schrecken bekommen, den sie sehr nötig braucht. Eine ganz radikale Veränderung ist notwendig.
Indem ich solch drakonische Maßnahmen vorschlage, wie den Ausschluß derjenigen kleinbürgerlichen Elemente, die unfähig sind, sich mit den Arbeitern zu verbinden, beabsichtige ich nicht, Cannons Fraktion zu verteidigen, sondern die Partei vor Degenerierung zu bewahren.
Über skeptische Stimmen aus der Socialist Workers Party, die mit zu Ohren gekommen waren, schrieb ich an Genossen Cannon am 16. Juni 1939:
„Die Vorkriegssituation, die Verschlimmerung des Nationalismus und so weiter sind ein natürliches Hindernis unserer Entwicklung und der tiefreichende Grund der Niedergeschlagenheit in unseren Reihen. Aber man muß jetzt betonen, daß die Partei um so abhängiger von der herrschenden Öffentlichen Meinung ist, je kleinbürgerlicher sie in ihrer Zusammensetzung ist. Das ist ein weiteres Argument für die Notwendigkeit einer mutigen und energischen Neuorientierung zu den Massen hin.
Die pessimistische Beurteilung, die Sie in Ihrem Artikel erwähnen, spiegelt selbstverständlich den patriotischen, nationalistischen Druck der öffentlichen Meinung wider. ‚Wenn der Faschismus in Frankreich siegt, ...‘, ‚wenn der Faschismus in England siegt, ...‘ usw. Die Siege des Faschismus sind wichtig, aber der Todeskampf des Kapitalismus ist wichtiger.“
Es wurde folglich mehrere Monate vor Beginn der gegenwärtigen Diskussion nach der Abhängigkeit des kleinbürgerlichen Parteiflügels von der öffentlichen Meinung gefragt, und diese Frage wurde keineswegs künstlich herbeigezogen, um die Opposition in schlechten Ruf zu bringen.
* *
*
Genosse Shachtman verlangte, daß ich “Präzedenzfälle“ für die kleinbürgerliche Richtung unter den Oppositionsführern aus der letzten Zeit liefern solle. Ich kam dieser Forderung soweit nach, daß ich von den Oppositionsführern Genossen Shachtman selbst auswählte. Ich habe noch längst nicht das Material ausgeschöpft, das mir zur Verfügung steht. Zwei Briefe – einen von Shachtman, den anderen von mir –, die vielleicht noch interessanter als Präzedenzfälle sind, werde ich bald in anderem Zusammenhang zitieren. Shachtman soll nicht einwenden, daß die Mißgriffe und Fehler, die in dem Briefwechsel auftauchen, ebenso anderen Genossen vorgeworfen werden können, einschließlich den Vertretern der gegenwärtigen Mehrheit. Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber Shachtmans Name wird in diesem Briefwechsel nicht zufällig wiederholt. Die Fehler, die andere gelegentlich begingen, wurden bei Shachtman zur Tendenz.
Vollkommen im Gegensatz zu dem, was Shachtman jetzt über meine angebliche „plötzliche“ und „unerwartete“ Einschätzung behauptet, kann ich bei jedem Ereignis mit Dokumenten beweisen – und ich glaube, das getan zu haben –, daß mein Artikel Kleinbürgerliche Opposition nur meinen Briefwechsel mit New York während der letzten drei Jahre zusammenfaßt (in Wirklichkeit während der letzten zehn Jahre). Shachtman hat sehr demonstrativ nach „Präzedenzfällen“ gefragt. Ich gab ihm „Präzedenzfälle“. Sie sprechen gänzlich gegen Shachtman.
Die Oppositionszirkel glauben, behaupten zu können, daß ich die Frage des dialektischen Materialismus zur Sprache gebracht habe, nur weil ich keine Antwort auf die „konkrete“ Fragen Finnlands, Lettlands, Indiens, Afghanistans, Belutschistans usw. gab. Dieses Argument, an sich wertlos, ist dennoch deswegen interessant, weil es das Niveau gewisser Individuen in der Opposition kennzeichnet, ihre Einstellung zur Theorie und zur einfachsten ideologischen Loyalität. Daher wäre es nicht verfehlt, darauf zu verweisen, daß mein erstes ernsthaftes Gespräch mit den Genossen Shachtman und Warde, im Zug sofort nach meiner Ankunft in Mexiko im Januar 1937, sich damit befaßte, daß man beharrlich Propaganda für den dialektischen Materialismus machen muß. Als sich unsere amerikanische Sektion von der Socialist Party abgespalten hatte, bestand ich am energischsten auf der frühest möglichen Herausgabe eines theoretischen Organs, wobei ich wieder die Notwendigkeit im Auge hatte, die Partei und ganz besonders ihre neuen Mitglieder im Geist des dialektischen Materialismus zu erziehen. Ich schrieb zu dieser Zeit, daß man in den Vereinigten Staaten, wo die Bourgeoisie den Arbeitern systematisch Empirismus einflößt, mehr als irgendwo sonst die Bewegung schnellstens auf ein angemessenes theoretisches Niveau bringen muß. Am 2 . Januar 1939 schrieb ich den Genossen Shachtman bezüglich seines Artikels Intellektuelle auf dem Rückzug, den er zusammen mit Genossen Burnham geschrieben hat.
„Der Abschnitt über die Dialektik ist der größte Schlag, den Sie persönlich als Herausgeber der New International der marxistischen Theorie versetzen konnten ... Gut! Wir werden öffentlich darüber sprechen.“
Daher sagte ich Shachtman vor einem Jahr im voraus, daß ich einen öffentlichen Kampf gegen seine eklektischen Tendenzen zu führen gedenke. Damals gab es überhaupt kein Gespräch über die kommende Opposition; jedenfalls lag mir die Vermutung sehr fern, daß der philosophische Block gegen den Marxismus den Boden für einen politischen Block gegen das Programm der Vierten Internationale bereite.
Der Charakter der Differenzen, die an die Oberfläche getreten sind, haben nur meine früheren Befürchtungen sowohl in Hinblick auf die soziale Zusammensetzung der Partei als auch in Hinblick auf die theoretische Ausbildung der Kader bestätigt. Nichts erforderte einen Meinungswechsel oder eine „künstliche“ Einführung. So verhält sich die Sache in Wirklichkeit. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich einigermaßen darüber beschämt bin, daß man es geradezu rechtfertigen muß, wenn man innerhalb einer Sektion der Vierten Internationale zur Verteidigung des Marxismus auftritt!
In seinem „Offenen Brief“ macht Shachtman besonders darauf aufmerksam, daß Genosse Vincent Dunne Befriedigung über den Artikel über die Intellektuellen ausdrückte. Aber auch ich lobte ihn: „Viele Teile sind ausgezeichnet.“ Trotzdem kann, wie ein russisches Sprichwort sagt, ein Löffel voll Teer ein Faß Honig verderben. Genau um diesen Löffel voll Teer geht es; der Abschnitt, der sich mit dem dialektischen Materialismus befaßt, enthält eine Reihe von Vorstellungen, die vom marxistischen Standpunkt aus haarsträubend sind und die, das ist jetzt offensichtlich, den Boden für einen politischen Block bereiten sollen. Im Hinblick auf die Halsstarrigkeit, mit der Shachtman behauptet, daß ich den Artikel als Vorwand aufgegriffen habe, möchte ich wieder einmal eine zentrale Stelle aus dem Absatz zitieren, der uns interessiert:
„... noch hat bis jetzt irgendjemand gezeigt, daß Übereinstimmung oder Meinungsverschiedenheiten über die eher abstrakten Lehren des dialektischen Materialismus notwendigerweise die konkreten politischen Streitfragen von heute oder morgen berühren [!] – und politische Parteien, Programme und Kämpfe beruhen auf solchen konkreten Streitfragen.“ [New International, Januar 1939, S.7] Reicht das allein schon aus? Mehr als alles andere erstaunt die Formel, die eines Revolutionärs unwürdig ist: „... politische Parteien, Programme und Kämpfe beruhen auf solchen konkreten Streitfragen.“ Was für Parteien? Was für Programme? Was für Kämpfe? Alle Parteien und Programme werden hier zusamrnengeworfen. Die Partei des Proletariats ist keine Partei wie alle anderen. Sie beruht durchaius nicht auf „solchen konkreten Streitfragen“. Schon in ihrer Grundlage ist sie den Parteien der bürgerlichen Pferdehändler und kleinbürgerlichen Flickschuster genau entgegengesetzt. Ihre Aufgabe ist die Vorbereitung der sozialen Revolution und die Regenerierung der Menschheit auf euer materieller und moralischer Grundlage. Um nicht dem Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung oder der Polizeirepression nachzugeben, braucht der proletarische Revolutionär, um so mehr noch ein Führer, eine klare, weitsichtige, vollkommen durchdachte Weltanschauung. Nur auf der Grundlage einer vereinheitlichten marxistischen Vorstellung ist es möglich, an „konkrete“ Fragen richtig heranzugehen.
Genau hier beginnt Shachtmans Verrat – nicht nur Fehler, wie ich im vergangenen Jahr glauben wollte; aber es ist jetzt klar ein direkter theoretischer Verrat. Den Fußstapfen Burnhams folgend, lehrt Shachtman die junge revolutionäre Partei, daß wahrscheinlich “bis jetzt niemand gezeigt hat“, daß der dialektische Materialismus die politische Tätigkeit der Partei betrifft. “Niemand hat bis jetzt gezeigt“, mit anderen Worten der Marxismus ist nutzlos im Kampf des Proletariats. Folglich hat die Partei den dialektischen Materialismus anzueignen und ihn zu verteidigen. Das ist nichts anderes als Verleugnung des Marxismus, der wissenschaftlichen Methode im allgemeinen, eine niederträchtige Kapitulation vor dem Empirismus. Genau das macht den philosophischen Block von Shachtman mit Burnham aus und über Burnham mit den Priestern der bürgerlichen “Wissenschaft“. Genau darauf und nur darauf bezog ich mich in meinem Brief vom 20. Januar letzten Jahres.
Am 5. März antwortete Shachtman: „Ich habe den Januar-Artikel von Burnham und Shachtman noch einmal gelesen, auf den Sie Bezug nehmen, und unter dem Einfluß von dem, was Sie geschrieben haben, möchte ich hier und da“ [!] „einige andere Formulierungen vorschlagen. Auch wenn der Artikel noch einmal überarbeitet werden muß, kann ich im wesentlichen nicht mit Ihrer Kritik übereinstimmen.“
Wie es immer mit Shachtman in einer ernstzunehmenden Situation der Fall ist, sagt diese Antwort in Wirklichkeit überhaupt nichts aus; aber sie erweckt noch den Eindruck, daß Shachtman sich eine Brücke für den Rückzug freigehalten hat. Befallen von Fraktionsraserei verspricht er heute, „es morgen immer wieder zu tun“. Was tun? Vor der bürgerlichen „Wissenschaft“ kapitulieren? Sich vom Marxismus lossagen?
Shachtman erklärt mir ausführlich (wir werden bald sehen, auf welcher Grundlage) den Vorteil von diesem oder jenem politischen Block. Ich spreche über die Tödlichkeit des theoretischen Verrates. Ein Block kann gerechtfertigt sein oder nicht, das hängt von seinem Wesen und von seinen Umständen ab. Theoretischer Verrat kann durch keinen Block gerechtfertigt werden. Shachtman verweist darauf, daß sein Artikel rein politisch sei. Ich spreche nicht von dem Artikel, sondern von dem Absatz, der den Marxismus ablehnt. Wenn ein Lehrbuch der Physik nur zwei Zeilen über Gott als die erste Ursache enthält, könnte ich daraus schließen, daß der Autor ein Okkultist ist.
Shachtman antwortet nicht auf die Anklage, sondern versucht, die Aufmerksamkeit abzulenken, indem er sich belanglosen Dingen zuwendet. “Worin unterscheidet sich das, was Sie meinen ‚Block mit Burnham im Bereich der Philosophie‘ nennen“, fragt er, „von Lenins Block mit Bogdanow? Warum besaß der letztere Prinzipien und unser nicht? Ich wäre sehr daran interessiert, die Antwort auf diese Frage zu erfahren.“ Ich werde mich bald mit dem politischen Unterschied, oder eher dem genauen Gegenteil, zwischen den beiden Blöcken beschäftigen. Wir sind hier an der Frage der marxistischen Methode interessiert.
Worin liegt der Unterschied, fragen Sie? Darin, daß Lenin niemals zum Vorteil von Bogdanow erklärt hat, daß der dialektische Materialismus überflüssig sei, um die „konkreten politischen Fragen“ zu lösen. Darin, daß Lenin niemals theoretisch eine bolschewistische Partei mit Parteien im allgemeinen verwechselt hat. Er war Seinem Wesen nach nicht fähig, solche Scheußlichkeit auszusprechen. Und nicht er allein, sondern auch kein einziger der ernstzunehmenden Bolschewiki. Das ist der Unterschied, verstehen Sie? Shachtman versprach mir höhnisch, daß er an einer klaren Antwort “interessiert“ sei. Ich glaube, die Antwort ist gegeben. Ich verlange kein „Interesse“.
Zuletzt aktualisiert am 16.06.2010