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Was Will Der Proletarier?

1933


Veröffentlicht: 1933 von Gruppe Internationaler Kommunisten, Holland
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Die radikale Revolution, deren Notwendigkeit der Junge Marx als Resultat der Gesamttendenz der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in der Idee erkannte, indem er den kritischen Schlussstrich zog unter das fortschrittliche Denken des damals noch revolutionären Bürgertums, steht heute in der Niedergangsepoche des Kapitalismus als gegenwärtige geschichtliche Aufgabe vor dem Proletariat.

Zu Marx’ Zeiten wurde die gedankliche Erfassung des Klassenkampfes von ursprünglich außenstehenden Theoretikern an die damals in ihrem Empfinden radikalen Massen herangetragen. Im Verlauf der breiten sozialistischen Partei- und Gewerkschaftsentwicklung haben die Arbeiter Westeuropas gelernt, über ihre politischen und ökonomischen Zielsetzungen selbständig nachzudenken. Gleichzeitig aber haben sie im Verlauf der Kämpfe um Verbesserung ihrer Klassenlage im Rahmen des Kapitalismus die radikale Umwälzung der Verhältnisse als wirkliches Ziel aus den Augen verloren. Sie haben sich ihre riesigen Kampforganisationen mit von ihnen selbst gewählten und ursprünglich auch von ihnen selbst kontrollierten und gedanklich beeinflussten Funktionären und Führern geschaffen. Dieser Apparat hat sich heute selbständig und von den Massen unabhängig gemacht: und die Beschränktheit seiner Zielsetzungen und seiner Aktionsmöglichkeiten ist zu einer Schranke für die revolutionäre Aktivität des Proletariats geworden. Die Tendenz zu radikalen Aktionen existiert, aber in den Massen weit mehr als es den Anschein hat und strebt im Zusammenhang mit einer sich allmählich ausbildenden Praxis (in Aktionsausschüssen, Einheitskomitees usw.) nach selbständigem gedanklichen Ausdruck in einer proletarischen Theorie. Während zu Marx’ Zeiten „der revolutionäre Gedanke zur Verwirklichung drängte“, „drängt heute die Wirklichkeit sich selbst zum Gedanken“[1]

Sinn und Zweck dieser theoretischen Zeitschrift ist es, zu einem Instrument der Selbstdarstellung der Gedanken des revolutionären Proletariats zu werden.

Aus der angedeuteten geschichtlichen Wendung erklärt sich die Aktualität der ursprünglichen Idee von der Revolution, wie Marx sie in den Jahren 1841 bis 1845 aufgefasst hat, als er sagte: „Nicht die radikale Revolution ist ein utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemeine menschliche Befreiung, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische, die die Pfeiler des Hauses stehen lässt“[2]. „In Deutschland muss die Unmöglichkeit der stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit gebären“[3].

Die Geschichte der letzten 15 Jahre ist eine einzige Kette von Beweisen für den utopischen Charakter einer teilweisen Revolution, einer stufenweisen Befreiung der Arbeiterklasse. Die Schaffung einer „Arbeiter- und Bauernregierung“ ist heute ein ebenso reaktionär-utopisches Ziel für die Arbeiterschaft, wie die offen reformistischen Parolen der Eroberung von neuen Machtpositionen im bürgerlichen Staat oder der Einführung einer Arbeiterkontrolle über die kapitalistische (!) Produktion. Wie wenig alle diese Zielsetzungen und die ihnen entsprechenden Kampfmethoden imstande waren, die Arbeiterschaft in einer umwälzenden Praxis vorwärtszutreiben, das beweist die Geschichte der Niederlagen der alten Arbeiterbewegung seit Ausbruch des Krieges in sämtlichen Ländern Vesteuropas. In Wechselbeziehung zu der utopisch-politischen Zielsetzung und Taktik der Arbeiter-bewegungen ist es der Bourgeoisie gelungen, trotz der Zerfallstendenzen ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems gerade ihre politische Herrschaft überall zu stärken. Es ist nicht zu einem geringen Teil der unlebendigen, kompromisslerischen Ideologie und Taktik der alten Arbeiterorganisationen zuzuschreiben (dem Propagieren eines „Klassen-bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern“, der Unterstützung der reaktionären kleinbürgerlichen Forderungen, der sogenannten „Neutralisierungs-taktik“ usw.), dass es der Bourgeoisie vor allem auch gelungen ist, die Bewegung der verelendenden kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten aufzufangen und als Schutzwall der Kapitalsherrschaft gegen das Proletariat auszunutzen. Unter diese Entwicklung ist mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler das offizielle Siegel gesetzt worden. Damit ist allerdings gleichzeitig eine klare Scheidung der Fronten und für die Massen ein konkreter Ansatzpunkt der Erkenntnis ihrer wirklichen Klassenlage geschaffen worden.

Damit kommen wir zu der Frage, in welchem Sinne man in der heutigen Situation der Niederlage der Arbeiterbewegungen überhaupt davon sprechen kann, dass die radikale Revolution die Lebensaufgabe unserer proletarischen Generation bildet, und dass sie keine Utopie und auch keine sich erst in weiter Ferne, unabhängig von unserem gegenwärtigen Wollen einmal durchsetzende „objektive“ historische Tendenz ist.

Denjenigen, die diese Frage aus einer verzweifelnden oder resignierten Haltung heraus stellen - und das sind heute nicht wenige - ist zunächst zu antworten, dass wir allerdings erst am Beginn der Weltkrise stehen, die die Weltherrschaft endgültig in die Hände des Proletariats überführen wird. Andererseits aber dürfen wir, wenn uns die Entwicklung manchmal allzu langsam erscheinen mag, niemals vergessen, dass die äusseren Ereignisse, die wir die „politische Revolution“ nennen, immer nur die Schlussakte sind, die registrieren, wie weit die Revolutionierung der Massen schon vorgeschritten war. Die tagtäglich fortschreitende Entwicklung der Massen selbst aber, ihre Schulung durch Tatsachen und Propaganda, das Wachstum ihrer Empörung und ihrer Tatbereitschaft, die Herausbildung geeigneter Organisationsformen, das ist das wirkIiche Wachstum der Revolution. Sie muss zuerst reifen. Ihr wird aber unabwendbar die Ergreifung der Macht, die Eroberung der „ganzen Freilheit“ folgen. Unter der Herrschaft der faschistisch-monopolistischen Reaktion in Westeuropa bereitet sich eine neue Phase der Weltrevolution vor.

Es ist die Aufgabe dieser Zeitschrift zu zeigen, wie sich diese radikale Revolution heute im Bewusstsein des Proletariats als gegenwärtig cempfundene Aufgabe abzeichnet, und alle objektiven und subjektiven Momente herauszufinden, die die Bedingungen ihrer Realisierung bilden. Wir sind uns bewusst, dass keine voreingenommene Doktrin uns dabei helfen wird.

Nur grundsätzliche Offenheit der Wirklichkeit gegenüber, Bereitschaft zu sehen und zu lernen, kann unserem Vorsatz den Erfolg sichern. Die wesentlichen Erfahrungen der vergangenen Bewegungen werden dadurch nicht etwa wertlos. Alle diese Bewegungen enthalten Elemente, die über ihre unmittelbaren Resultate hinausweisen. Sie müssen aber eben in neuem Zusammenhang und unter neuen Bedingungen verwendet und praktisch fortentwickelt werden; denn „der wahre Kern, die lebendige Seele des Marxismus, das ist die Untersuchung der realen Situation“. (Lenin.)

In diesem Heft sollen die Untersuchungen darüber begonnen werden, inwieweit die radikale Umwälzung als eine in den gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen begründete Notwendigkeit anzusehen ist, inwieweit ihre materiellen Voraussetzungen gegeben sind, die der junge Marx kurz dahin charakterisiert hat, dass die „bestehenden Produktivkräfte und Verkehrsmittel unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen keine Produktivkräfte, sondern Destruktivkräfte (= zerstörende Kräfte) geworden sind.“

Zu der weiteren Frage nach dem Bewusstseinsgrad, der Organisiertheit und Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse im Hinblick auf eine umwälzende revolutionäre Praxis und gleichzeitig zur näheren Kennzeichnung unserer Fragestellung selbst noch einige Bemerkungen: Die ersten Versuche einer selbständigen politischen Orientierung der Arbeiterklasse auf das radikal verstandene revolutionäre Ziel hin sind in breiterem Massstabe in den Revolutions- und Nachrevolutionsjahren von 1917-1923 unternommen worden. Ihr Ausdruck war jene vorwärtsstrebende, selbständige Haltung der fortgeschrittenen deutschen Arbeiterschaft, deren Entscheidung Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sich auf dem Parteitag des Spartakusbundes im Jahre 1918 mit den Worten unterordneten: „Wir sehen hier, dass Proletarier klassenbewusst werden.“ Die klare revolutionäre Einstellung des damaligen Spartakusbundes führte zu den Januarkämpfen 1919 in Berlin. Es kam zu dem Massenschlachten von Proletariern, von dem Noske in seiner Selbstbiographie sagt: „Am 11. Januar bin ich in Berlin eingerückt, am 19. Januar konnten die Wahlen zur Nationalversammlung ungehindert stattfinden!“

Auf Grund der Januar-Niederlage musste sich dann das deutsche Proletariat die erste Beschränkung seines radikalen revolutionären Zieles, auf das Ziel der Bourgeoisie - auf die bloss politische Revolution - gefallen lassen. Diese erste Beschränkung waren die Wahlen zur Nationalversammlung! Noch Anfang Oktober 1919 musste Lenin trotz seiner schon damals geäusserten Kritik gestehen, dass „endlich aus den Tiefen der proletarischen Massen in Deutschland heraus eine Macht erwachsen ist, für die die Worte „Proletarische Revolution“ zur Wahrheit geworden sind“[4]. Die Niederlagen und die Schwäche der revolutionären Bewegung in Deutschland ermöglichten es der 3. Internationale, im Interesse ihrer an Russland orientierten Politik die deutsche kommunistische Bewegung zu zerschlagen, und auf dem Heidelberger Parteitag Ende 1919 in die Kommunistische Partei und die Kommunistische Arbeiter-Partei zu spalten. Der gleiche Prozess wiederholte sich in USA, in England, Holland und in anderen westeuropäischen Ländern. Aber noch der zweite und auch der dritte Weltkongreß der Internationale beweisen, wie stark der Geist der KAP-Parteien damals in den verschiedensten Formen hm Proletariat der fortgeschrittenen Industrieländer lebte. Das zeigte sich vor allem in der Diskussion und in den Kommissionssitzungen zur Gewerkschaftsfrage, so dass z. B. der heutige SAP-Funktionär Walcher gestehen musste, dort sei „so manche Äusserung gefallen, die erkennen liesse, dass die Genossen in Europa und Amerika den Kampf gegen die alte Gewerkschaftsbürokratie im KAP-Geiste zu führen gewillt“ seien.[5]

Wir haben nicht nur den Namen dieser ursprünglich bis zum Jahre 1928 von der KAP herausgegebenen theoretischen Zeitschrift übernommen; wir knüpfen auch bewusst an die Erkenntnisse der KAP und der übrigen linkskommunistischen Gruppierungen in Westeuropa an.

Andererseits sind wir allerdings weit davon entfernt, die Tradition der KAP einfach fortzuführen. Die rätekommunistische Arbeiterbewegung befindet sich seit etwa einem Jahre in einem Reorganisationsprozeß, der u. a. den Zusammenschluss verschiedener, bisher getrennt arbeitender Gruppen zu einer KAU gebracht hat. Diese neue Organisation hat sich weitgehend von dem Dogmatismus der ursprünglichen linkskommunistischen Gruppen (z. B. der Bordiga-Bewegung in Italien, der shop-stewarts in England, der Kommunistischen Arbeiter-Partei in Amerika, der russischen Arbeiter-Opposition aus den Jahren 1920-21 und der westeuropäischen KA-Parteien) freigemacht. Sie ist insbesondere kritisch durch eine realistische Besinnung auf die Voraussetzungen und die Organisierung der rätekommunistischen Revolution in der Auffassung von der revolutionären Taktik weit über die starre Einstellung der alten KA-Bewegungen hinaus fortgeschritten. Sie hat mit dem Prinzip der radikalen Revolution auch insofern ernst gemacht, als sie die gesonderte politische und wirtschaftliche Organisierung des Proletariats, an der die KAP in etwas veränderter Form festhielt, als eine historisch überholte, heute untauglich gewordene Form der Kampfführung erkannt hat.

Im ganzen ist von der KAP zu sagen, dass sie ihrem Menschenmaterial und ihrer Theorie nach noch zu sehr mit der alten Arbeiterbewegung verbunden war, und in ihren organisatorischen Resten auch heute noch ist. Damit hängt vor allem auch zusammen, daß ihre Vorstellungen von der Revolution ganz allgemein einen abstrakten und utopischen Charakter angenommen haben, und sich von dem Scheinradikalismus der KP nur dadurch unterscheiden, dass sie ernst und ehrlich gemeint sind, während der Radikalismus der KP nur eine neue Auflage des alten Vorkriegsradikalismus der Sozialdemokratie ist, dessen notwendige Ergänzung eine reformistische Praxis bildete. Wir müssen uns aber klar darüber sein, daß die Periode von 1917 bis 1923 nicht etwa nur den Bankrott des sozialistisch-gewerkschaftlichen Reformismus, sondern ebenso sehr den Bankrott der lauten revolutionären Phrasen bedeutet. Eine neue Generation von Arbeitern ist seit dem Kriege in allen Ländern der Welt herangewachsen, für die die Revolution in einem neuen materialistischen Sinn ihre eigentliche Lebensaufgabe ist. Dieser Funktionswandel, den die Vorstellung von der Revolution im Bewußtsein des heutigen Proletariats erfahren hat, drückt sich aus in einem unerhört scharfen Gegensatz zwischen unserer und der Vorkriegs- und Kriegsgeneration. Die moderne proletarische Jugend weiß sich in einem grundsätzlichen Sinn aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen. Wenn sie ausgelernt hat, gibt es keine Berufsillusionen mehr für sie. „Das erfüllte Nichts als bloße Arbeitsmenschen“ läßt sich nicht mehr zu einer kleinbürgerlich-moralischen Idylle umfälschen, da es von vornherein dem „absoluten Nichts, der Arbeitslosigkeit“ weichen muß.

Auch die „Beschaffung von Arbeit“, die heute von sämtlichen politischen Parteien als Hauptprogrammpunkt gefordert wird, kann unsere neue proletarische Generation nicht mehr begeistern. Sie empfindet das stärkste Mißtrauen gegen die russische Fabrikation von Arbeitsbegeisterung, gegen die Stalinschen Entdeckungen „vom neuen Sinn des Arbeit“, der ihnen nur als eine neue raffiniertere Variante des seinem Wesen nach kleinbürgerlichen Arbeitsideals der Vorkriegs-Sozialdemokratie erscheint. Die Not der Arbeitslosigkeit hat zur Folge, daß die Massen immer klarer die Notwendigkeit empfinden, eine Arbeitsweise, die ihren Gegenstand als Kapital produziert, und die deshalb eine ständige Wiedererzeugung von Krisen und Arbeitslosigkeit bedeutet, grundsätzlich aufzuheben. Die radikale Umwälzung ist deshalb für unsere Generation das einzige konkrete Lebensziel, das für sie überhaupt übrig bleibt; und aus diesem Grunds geht sie an dieses Ziel heran mit dem ernsten Realismus, mit dem man an ein technisches Projekt herangeht, das man abschätzen und berechnen lernen muß, um es hier und jetzt zu verwirklichen.

Dieser Materialismus der neuen Arbeiterbewegung hat vor allem auch die Bedeutung, dass er eine neue Haltung zur Theorie des Klassenkampfes einschließt. Die Arbeiter wollen sich heute keine fertigen Statistiken, keine verarbeiteten Tatsachen von ihren Funktionären und Theoretikern mehr vorsetzen lassen. Sie wollen vielmehr die Methode erlernen, diese Tatsachen selber auf ihre revolutionäre Umgestaltung hin einzuschätzen. Unter diesem Gesichtspunkte wird auch unsere Zeitschrift keine Sammlungen von Tatsachen vermitteln, sondern die Methoden herauszuarbeiten versuchen, die Tatsachen selbständig zu beurteilen. Im übrigen besteht für uns vor allem die Aufgabe, die heute schon vorhandenen wirklich proletarisch-revolutionären Tendenzen in ihren rückständigen organisatorischen und gedanklichen Formen herauszufinden, über die Schranken der Organisationen hinweg eine Diskussion zwischen ihnen herbeizuführen, sie zu einheitlichem Vorgehen zu verbinden und ihnen dadurch zu einer ernsthaften realen Bedeutung zu verhelfen.

Zu einer solchen Diskussion im Rahmen dieser Zeitschrift fordern wir alle Arbeiter auf, ganz gleich, welchen Organisationen sie angehören, sofern sie nur von dem Bewußtsein und dem Willen zur Revolution getragen sind. Die Zeitschrift wendet sich bewußt gegen jede Art von Sektiererei, die die ganze Arbeiterschaft wie eine Seuche angefallen hat. Wir verstehen unter Sektiererei eine Haltung, die die Interessen einer engen politischen Gruppierung mit den Interessen der Klasse verwechselt.

Arbeiter, wir übergeben Eurer Kritik und Eurer Mitarbeit diese Zeitschrift als ein Instrument der Selbstbesinnung unserer Klasse! Es ist an Euch, sie in diesem Sinn zu benutzen!

 


Noten:

[1] Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie. Ausg. Kröner S. 274

[2] A. a. O. S. 275

[3] A. a. O. S. 276

[4] Kommunistische Internationale 1919, Nr. 3, S. 28

[5] Protokolle des 2. Weltkongresses der Kom. Int. S. 510

 


Zuletzt aktualisiert am 28.05.2011