Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

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Donnerstag, den 18. Juli. Nachmittags-Sitzung

Den Vorsitz führt Bürger Leo Frankl. Dieser ertheilt dem Bürger Brandt zur Berichterstattung über die Frage: „Die Arbeiterbewegungs in der Schweiz“, das Wort:

Das gesammte schweizerische Proletariat, das sehr erfreut ist, aufs der Tagesordnung dieses Congresses die Frage einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung zu sehen, eine Frage, die von der Schweiz officiell angeregt worden ist, hat hier vertreten sein wollen. Der Grütliverein – eine politische, sociale und demokratische Vereinigung, die ungefähr 15,000 Mitglieder zählt, der Gewerkschaftsbund, eine Verbindung von Fachvereinen, die 7000 Anhänger hat, die socialdemokratische Partei, die im Jahre 1887 gegründet ist, um den Versuch zu machen, eine nationale Socialistenpartei der Schweiz in’s Leben zu rufen, sie alle drei sind auf diesem Congresse vertreten. Sie haben die Verpflichtung gefühlt, demselben beizuwohnen nicht allein zum Nutzen der Sache, die sie im Herzen tragen, sondern auch weil sie nicht abseits bleiben wollen in dieser ernsten Stunde, wo die Arbeiter aller Länder sich die Hand reichen, um schneller ihre gemeinsamen Interessen zum Siege zu führen. Als Nation wie als Partei machen wir eine kritische Zeit durch. Als Nation, weil Deutschland, unser mächtiger Nachbar, uns das Leben sauer macht, als Partei, weil diese Verwicklungen uns auch im Innern Schwierigkeiten bereiten. Wie auf ganz Europa, so übt auch auf unser schweizerisches Land das System Bismarck seinen verhängnißvollen Einfluß aus. Das Beispiel Bismarck’s hat sicherlich unsere sociale Reform beschleunigt; und andererseits ahmen unter dem Einfluß der Macht, die er gegen uns angewandt hat, unsere furchtsamen Behörden, unterstützt durch die Bourgeoisie, seine Polizeiwirthschaft nach. Unser Bundesrath legt bezüglich dieses letzteren Punktes Beweise eines ganz besonderen Eifers ab.

Fremdenausweisungen, Haussuchungen, Verhöre sind an der Tagesordnung, ohne daß das Schweizer Bürgerrecht gegen Willkür Schutz verliehe. Man hat ebenso bei dem Schweizer Bürger Conzett Haussuchung gehalten wie bei den deutschen Flüchtlingen in Basel; man hat einen Redakteur des „Grütlianer“ ebenso einem Kreuzverhör unterworfen, wie politisch anrüchige Fremde.

So bedrücken schwere Einflüsse von außen wie von innen den freien 53 demokratischen Geist und verkünden uns für die Zukunft immer erbittertere Kämpfe. Eine charakteristische Thatsache möge hervorgehoben werden. In der Schweiz streben wir nach einer Trennung der Geister, einer Trennung, die bis auf die Gegenwart sich in unseren Sitten nicht gezeigt hatte und die unsere Geschichte nicht vorhersehen ließ, die aber dadurch, daß sie sich überall vollzieht, der Arbeiterklasse die Verpflichtung auflegt, auf sich allein zu rechnen. Die Schweiz bildet keine Ausnahme in dem Entwicklungsprozeß der kapitalistischen Form des Eigenthums und der Produktion, eine Entwicklung, welche bei uns, wie überall sonst, die socialen Gegensätze immer schärfer zuspitzt. Mehr und mehr trennt sich in der That die Gesellschaft in zwei Lager: auf der einen Seite Kapitalisten, auf der anderen Proletarier. Je mehr daher der Kapitalismus zunimmt, je mehr er alle Machtmittel zu seinem Vertheil allein aufsaugt, um so ernster drängt sich der Arbeiterklasse die Pflicht aus, sich zur Vertheidigung wie zum Angriff zusammenzuschaaren, um festen Sinnes die ihr gebührenden Rechte zurückzufordern.

Der Kapitalismus beutet nicht nur den Arbeiter, den Handwerker und Ackerbauer aus, er corrumpirt auch unsere Beherrscher, er untergräbt die Macht des Staates. Er ist der innere Feind, und ist es um so mehr, als er Macht und dadurch Einfluß besitzt. Langer Kämpfe wird es noch bedürfen, um ihn zur Machtlosigkeit zurückzuführen. Der Kapitalismus sucht Schritt für Schritt unseren Vormarsch aufzuhalten. Aber so mächtig auch die Plutokratie [1] ist, hindern kann sie ihn nicht; immer mehr steigert sich die Unzufriedenheit, bedingt durch die socialen Verhältnisse die sie selbst geschaffen hat; und mit dieser Unzufriedenheit steigt die Ueberzeugung, daß dieser Zustand nicht andauern kann. Und in der That spricht bei uns Jedermann von der Nothwendigkeit einer Social-Reform und unsere Bundesräthe selbst streiten sich um die Ehre, an dieser Reform mitzuhelfen. Es versteht sich von selbst, daß diese Social-Reform, eingehällt in eine Polizei-Uniform, für uns Socialisten ein seltsames und nicht gerade anziehendes Aussehen hat; aber andererseits erkennen wir gern an, daß der eigenössische Bundesrath von allen Regierungen zuerst dem socialen Problem näher getreten ist. Allein das, was er gethan hat, ist ungenügend. Es ist ferner wahr, daß man heutzutage in Gesellschaftskreisen, welche nicht empfänglich für den Socialismus und die Demokratie sind, unter Conservativen und Bourgeois Leute findet, welche mehr als eine oberflächliche, das Uebel nicht treffende Socialgesetzgebung Verlangen, welche sagen: „Man kann die kranke Gesellschaft nicht mehr durch Palliativ- und schwächliche Heilmittel heilen, – man kann die socialen Uebel nur dadurch aufheben, daß man ihre Wurzeln zerstört.“ Es hat sich unter Anderem auch in letzter Zeit eine Gesellschaft zur Reform des Grundbesitzes gebildet.

Zwar können wir die Kämpfe, welche wir voraussehen und welche kommen werden, bedauern, aber wir blicken ohne Furcht in die Zukunft. Die Prüfungen, welche uns erwarten, werden unsere Macht steigern und wir werden den endgiltigen Sieg über unsere Gegner erlangen. Die Arbeiterpartei hat im Laufe der letzten Jahre viel gewonnen an Klarheit, an Zielbewußtsein und an Entschlossenheit; ihr Einfluß und die Zahl ihrer Anhänger wachsen von Tag zu Tag, während die alten Parteien sich mehr und mehr auflösen. Die Zahl der Arbeiterblätter, theils politischen, theils gewerkschaftlichen Inhalts, die in drei Sprachen veröffentlicht werden, beträgt 15. Die Organisation der Arbeiter im eigentlichen Sinne des Wortes zählt, abgesehen von den schon erwähnten Vereinungen, die rührige Verbindung der Buchdrucker, den Bund der Maschinensticker, welche gegenwärtig sehr zahlreich sind, die Vereinigungen der Uhrmacher und die katholischen Arbeitergruppen.

54 Alle diese Organisationen sind inbegriffen in dem großen schweizerischen Arbeiterbund, der 100,000 Mitglieder zählt und in dem Arbeitersekretariat ein Organ besitzt, welches, wenngleich von neutralem Standpunkt in der Politik, nichtsdestoweniger eine werthvolle Unterstützung für den Schutz der Arbeiterklasse bildet. Diese Organisationen geben überdies, Dank der vor Kurzem gegründeten Reservekasse, einen starken Rückhalt in dem ökonomischen Kampfe ab. Zu den Fortschritten, welche unserem Land zum Heile und zur Ehre gereichen, verdient in erster Linie erwähnt zu werden das eidgenössische Fabrikgesetz. Dasselbe schreibt einen 11stündigen Normalarbeitstag vor, schränkt die Kinderarbeit ein, verbietet die Nachtarbeit, beschützt die Frauen und sichert die Sonntagsruhe.

Man kann nur bedauern, daß die Ausführung dieses Gesetzes der Ueberwachung der Kantone durch 3 Fabrikinspektoren anvertraut ist; letztere erfüllen, abgesehen von einer einzigen Ausnahme, voll ihre Pflicht. Das Gesetz, welches vielen anderen Staaten als Muster dienen könnte, hat gegenwärtig seine Probe bestanden. Die Erfahrungen, welche wir damit gemacht haben, waren zufriedenstellend, wenngleich die Bestimmungen des Gesetzes noch unzureichend sind; jedoch würde jetzt Niemand dasselbe wieder abschaffen wollen, und ein Angriff würde nur dazu dienen können, es zu erweitern und zu vervollständigen.

Ebenso ist es mit der Haftpflicht bei Unfällen. Begonnen haben wir mit der Haftpflicht bei dem Eisenbahnbetrieb, später haben wir sie eingeführt für Fabriken und noch später denken wir daran, sie auf andere Industrien auszudehnen. Dieser langsame aber sichere Vormarsch wird von der Klugheit eingegeben; er entspricht übrigens dem schweizerischen Volkscharakter, und der Erfolg spricht zu seinen Gunsten. Im übrigen werden wir, auch wenn wir uns als Anhänger dieses schrittweisen Vorgehens erklären, niemals unsere Endziele aus den Augen verlieren. Zugleich des Prinzips und der Ideale, denen wir nachstreben, bewußt, weisen wir die Concessionen, die man uns macht, nicht zurück, wir nehmen sie als Abschlagszahlungen an, bestrebt für ihre Vervollständigung zu sorgen!

Die Arbeiter wirken jetzt für eine strengere Ausführung der Arbeiterschutzgesetze, sie arbeiten an neuen Gesetzen über Unfall-, Krankheits- und Altersversicherung; sie arbeiten in gleicher Weise nicht ohne Erfolg an einer Verbesserung des in Kraft befindlichen Fabrikgesetzes; sie fordern z. B. den 10stündigen Normalarbeitstag, für die Buchdrucker und Uhrmacher sogar den 8stündigen, und alles dies in dem Moment, wo die internationale Arbeitergesetzgebung auf der Tagesordnung ist.

Alles dies beweist, wie sehr Diejenigen Unrecht haben, welche behaupten, daß die Schweiz die Initiative zu einer internationalen Arbeitergesetzgebung nur deshalb ergriffen habe, weil das im Vordergrund stehende Fabrikgesetz – mit dem 11stündigen Arbeitstag – ihr wie Blei in den Gliedern liege. Man erörtert ferner die Frage eines allgemeinen Industriegesetzes, welches die Organisation der obligatorischen Gewerkschaftskammern bestimmt. Schon ist in einigen Kantonsräthen der Anstoß zu einer Organisation von Gewerkschaftskammern gegeben worden, und man sieht allenthalben, namentlich die Uhrmacher, energisch für diese Forderung agitiren. In anderen Kantonen beginnt man auch die Aufmerksamkeit auf die Beschäftigung der Frauen in den Modemagazinen, Restaurationen, Bierwirthschaften, Hotels etc. zu lenken. In Basel z. B. sind gesetzliche Maßregeln ergriffen worden zum Schutze der Frauen, welche in den bezeichneten Establissements beschäftigt werden.

Es kann also nicht ausbleiben, daß früher oder später der Bundesrath diese Interessen in die Hand nimmt. Im Allgemeinen ist zu bemerken, daß unsere Social-Gesetzgebung um so besser funktioniren wird, je mehr sie in Wirklichkeit, wie es eines Tages auch sein wird, dem Bunde, das heißt der Centralregierung, anvertraut wird.

Unsere Aufgabe ist sehr schwierig und wird noch schwieriger gemacht durch die fast erdrückenden Steuern, welche wir auf unseren Schultern haben. 55 Uebrigens sind wir, nach verschiedenen Richtungen hin, in unserem Lande besonderen Bedingungen, von denen unsere Taktik abhängt, unterworfen. Es ist möglich, daß Personen, denen diese Bedingungen unbekannt sind, unsere Taktik nicht verstehen; jedoch Ihr, unsere Genossen, Ihr müßt zu uns Vertrauen haben; denn auch wir streben dem einen socialistischen Ideal, das mit dem Eurigen eins ist, nach. Und auf unserem Vormarsche nach diesem Ideale hin haben wir volles Vertrauen zu dem Schweizervolke und zu unserer Demokratie, die bereit ist, wenn es sein muß, sich mit einem Bismarck zu messen.

Wir vertrauen auf die Menschheit, welche sich nicht einem Individuum unterwerfen kann und darf, wenn sie eines Tages, wie wir alle es wollen, sich politisch und ökonomisch emanzipiren will. Weil wir dieses Vertrauen und diese Hoffnung haben, sind wir hier, um gemeinsam mit Euch in Gegenwart und in Zukunft zu arbeiten. (Lebhafter Beifall.)

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Bushe, Delegirter der amerikanischen Arbeiterpartei, sagt, daß er nicht die Absicht habe, sich über die Lage der Arbeiter in Amerika zu verbreiten. Die Arbeitsbedingungen sind dort dieselben wie überall, wo die Großindustrie herrscht. Dasselbe Elend, dieselbe Unterdrückung. Was die politische Lage des Arbeiters in Amerika betrifft, so unterscheidet sie sich vielfach von derjenigen seines europäischen Kameraden, und die Gesetzgebung ist sehr verschieden, da die Vereinigten Staaten ein Conglomerat von verschiedenen selbstständigen Staatswesen sind.

Es bestehen in diesem Lande mehrere Verbindungen von Proletariern: die Trades-Unions, deren Mitglieder sich zum größten Theil aus Irländern und Deutschen zusammensetzen, und die „Ritter der Arbeit“, die ungefähr eine Million [2] im engeren Sinne des Wortes amerikanischer Bürger zählen. Indessen ist leider zu bemerken, daß die große Menge der in Amerika geborenen Arbeiter – es sind ungefähr mit Einschluss der Familien 19 Millionen – noch nicht organisirt ist. So wirst sich vor den Augen der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten die Frage aus: Was thun? Wie bemächtigt man sich in Wirklichkeit dieser 19 Millionen Menschen? Nach unserem Urtheil ist eine Arbeitergesetzgebung ein mächtiges Hilfsmittel, um dahin zu gelangen.

Es ist wahr, daß die verschiedenen politischen Parteien des Landes den Versuch gemacht haben, die Arbeiter für sich einzufangen, indem sie ihnen einige Arbeitsschutzmaßregeln zugestanden. Aber diese Gesetze sind todte Buchstaben geblieben, weil die Elemente fehlen, welche ihre Ausführung erzwingen können. Die Trades-Unions ihrerseits nach Art der englischen Gewerkschafts-Organisationen wollten Anfangs nichts von einer Intervention des Staates und einer politischen Aktion des Proletariats wissen. Indessen die Situation hat sich geändert und Dank dem täglich größer werdenden Einfluß des Socialismus, hat ein Theil des amerikanischen Proletariats sich zu einer politischen Partei entwickelt, und den politischen Kampf, von dem man Anfangs nichts wissen wollte, aufgenommen. Das Programm, um welches die socialistische Arbeiterpartei das amerikanische Proletariat schaaren will, ist bekannt. Jedoch der Amerikaner, ein gründlich praktischer Mensch, begnügt sich nicht mit der Aufstellung dieses Programmes. Er fragt vor Allem welches die Mittel sind, um es zu verwirklichen. Die Antwort der Socialisten wird folgendermaßen gegeben: man muß vor Allem die Aufmerksamkeit des Volkes aus die concentrirten industriellen und commerciellen Unternehmungen lenken und ihm auseinandersetzen, daß diese Unternehmungen jetzt nur Wenigen zum Nutzen gereichen, und daß sie zum Nutzen der ganzen Nation arbeiten sollten. Diese Veränderung kann nur durch ein bewußtes, ruhiges und anhaltendes Handeln des Proletariates, das eine politische Partei bildet, sich vollziehen. Hinsichtlich dieses Gesichtspunktes ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, daß die Arbeiter-partei die Initiative ergreift zu einer Arbeitsgesetzgebung, denn, indem sie zu 56 Gunsten einer derartigen Gesetzgebung einwirkt, wird sie zeigen, daß sie praktische, für die Arbeitermassen vortheilhafte Reformen will. Und diese Thatsache allein wird genügen, an Zahl ihre Macht wachsen zu machen. Die Partei hofft sich durch die wirkliche Verbesserung des Loses der Arbeiter dem Proletariat nützlicher zu erweisen, als durch muthschäumende Revolutions-Phrasen. Es liegt wenig daran, was man sagt, es kommt nur darauf an, was man thut. (Beifall).

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Der rumänische Delegirte Many führt aus, daß in Rumänien der Großgrundbesitz ⅗ des Landes umfaßt; ein Fünftel gehört dem Staat und ein Fünftel kommt auf die Bauern, deren Zahl 7 Millionen beträgt, Aus Mangel an eigenem Land werden die Bauern Taglöhner des Großgrundbesitzers von dem sie vollständig abhängen. Das Wahlsystem ist ein getreues Bild der Eigenthumsverhältnisse. Die Wähler theilen sich in 3 Gruppen: die erste aus den Großgrundbesitzern bestehend, welche über 1.000 Francs Steuern zahlen; die zweite, welche die Beamten, Kaufleute, Professoren, kurz alle diejenigen, welche „liberale Berufe“ betreiben, umfaßt; die dritte aus den Landleuten zusammengesetzt. Die Landleute wählen Delegationen, welche ihrerseits die Deputirten wählen. Die socialistische Bewegung in Rumänien datirt seit ungefähr 18 Jahren. Das Beispiel der Pariser Commune war entscheidend für diesen Zeitpunkt; zur selben Zeit übten politische russische und polnische Flüchtlinge einen Einfluß aus, den man nicht ignoriren darf. Die studirende Jugend war es zuerst, die sich zu den socialistischen Theorien bekannte. Sie übersetzte die Hauptwerke der socialistischen Literatur in die rumänische Sprache und bemühte sich, dieselben im ganzen Lande zu verbreiten. Der Mittelpunkt der Bewegung war Jassy; die Anhänger rekrutirten sich hauptsächlich aus den gebildeten Klassen.

Bald hatte die junge Partei eine wissenschaftliche Zeitschrift und ein täglich erscheinendes Blatt zur Verfügung. Die Behörde zögerte nicht, das letztere zu unterdrücken; sie vertrieb die Studenten von den Universitäten und setzte den Professor Nadejdi ab, dem 10,000 Bauern ihre Stimmen gegeben hatten. In der That war die Propaganda bis mitten in die Bauern hineingetragen worden, und mit bestem Erfolg. Nach einer ununterbrochenen Agitation von kaum 3 Jahren schickten 280 Delegationen die 40.000 bäuerliche Stimmen repräsentirten, drei socialistische Deputirte ins Parlament. Kurz, der Fortschritt des Socialismus ist derartig, daß die Radikalen seinem Programm Artikel entnehmen, um sich – indem sie den socialistischen Wein stark mit Bourgeoiswasser vermischen – in den Augen der Bevölkerung ein besseres Aussehen zu geben. In den letzten Jahren hat sich das Elend der Bevölkerung so vermehrt, daß die Unzufriedenheit endlich einen Ausstand der Bauern hervorrief. Nun verlangten die socialistischen Abgeordneten zur Besserung dieser Lage die Hergabe von Staatsdomänen an die Gemeinden und überhaupt an die Genossenschaften, welche das Land gemeinsam bebauen sollten. Allein das Parlament zog es vor, den Vorschlag der Radikalen anzunehmen, nach welchem jeder Bauer Besitzer einer kleinen Parcelle Landes wurde. Da nun der kleine Ackerbaubetrieb nicht ankämpfen kann gegen die Concurrenz des Ackerbaues auf großer Stufenleiter, indem der Großgrundbesitz ihn verschlingt, so wird in 10 bis 15 Jahren das bäuerliche Kleineigenthum und seine Lage dieselbe sein, wenn nicht noch schlimmer, als heute.

In Rumänien, wie überall, ist das einzige Hilfsmittel in der gegenwärtigen Situation die Umwandlung des Privateigenthums in Collektiveigenthum. Auch unter den industriellen Arbeitern zeigt sich ein Erwachen des Bewußtseins ihrer Rechte, die jüngsten Streiks der Buchdrucker, der Sattler und der Töpfer sind hiefür Beweise. Indessen wollte die Behörde, von dem Wunsche beseelt, zu Gunsten des Kapitals einzutreten, Arbeiter aus Qesterreich einführen. Aber die österreichischen Proletarier weigerten sich, die Geschäfte der Herren Kapitalisten zu besorgen!

57 So bethätigen die Arbeiter aller Länder mehr und mehr die große Solidarität, welche sie befreien wird, und welche allein den Tag herbeiführen kann, an dem der Kampf gegen das Kapital siegreich ausgefochten wird. (Lebhafter Beifall.) –

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Der Bürger Ihrlinger, Delegirter der Arbeiterpartei Ungarns, gibt eine gedrängte Uebersicht über die Lage in seinem Heimathlande. Nachdem er versichert hat, daß die socialistische Bewegung – begeistert durch die Principien des modernen Socialismus, im Gegensatze zu dem, was oft gesagt worden ist – den internationalen Charakter hat, der gegenwärtig die Bewegung in der ganzen Welt charakterisirt, constatirt er, daß in Ungarn wie in Oesterreich die Freiheit nur auf dem Papier existire. Jeder Stuhlrichter wüthet nach seinem eigenen Gutdünken. Die ungarische Reaktion äfft die deutsche nach und nimmt ihre Zuflucht zu mittelalterlichen Dekreten, um die Socialisten zu treffen.

Die Arbeiterbewegung verbreitet sich hauptsächlich mittelst der Klubs. Während die Gewerkschafts-Organisationen nur in Budapest existiren, sind die Arbeiterklubs fast überall vorhanden, in den kleinen Städten wie in den Dörfern. Während langer Zeit war die ungarische Arbeiterpartei im Schlepptau der bürgerlich-radikalen Partei; aber die Vertreter dieser letzteren Partei haben ihre Versprechungen nicht gehalten, die Arbeiterpartei hat sich entschlossen, eine eigene Existenz zu führen und alles von sich selbst zu erwarten. Die socialistische Propaganda wird erschwert durch die große Zahl von Nationalitäten und Sprachen in Ungarn. Nichtsdestoweniger ist die Bewegung vorgeschritten bis zu dem Punkte, daß die Spaltungen, welche im Schoo? der Partei eingetreten sind, ihr nichts geschadet haben. Diese Spaltungen waren unvermeidlich, da es sich dabei um die Trennung der Arbeiterpartei von den Anarchisten handelte, die, zum größten Theil im Solde der Polizei oder von ihr unterstützt, die Bewegung in Mißkredit brachten.

Andererseits bemüht sich der Staat, die Bewegung durch harte Maßregeln zu ertödten, indem er die entschiedendsten Vorkämpfer zu erdrücken sucht, und durch diese Verfolgungen wird eine große Zahl von Arbeitern abseits gehalten. Natürlich existirt keine Pre?freiheit für die Arbeiter. Die Partei sucht daher in den Gewerkschaftsorganisationen Einfluß zu gewinnen, um ihnen den socialistischen Geist einzuimpfen und sie allmälig der Sache zu nähern. Und die Dinge liegen so, daß die ökonomische Lage uns täglich neue Anhänger verschafft. In dem Maße, wie sich die Grosindustrie entfaltet, geht die Kleinindustrie zu Grunde und die Zahl der Proletarier und der Unzufriedenen wächst immer mehr. Das ungarische Proletariat kämpft Schulter an Schulter mit dem deutschen Proletariat und mit dem aller Länder. (Beifall.) –

Bürger Popp, Schuhmacher von Budapest, erklärt, daß im Gegensatz zu dem von seinem Vorredner Berichteten, die ungarische Bewegung sich nicht so günstig entwickelt hat, und wenigstens hinsichtlich der Principien stark opportunistisch und oft zu Compromissen geneigt ist. Um diesem Uebelstand abzuhelfen, geht man damit um, eine Arbeiterpresse zu schaffen, die sich einstweilen zwanzig in Fachzeitschriften darstellt. Man hofft, daß in wenigen Jahren eine Partei existiren wird, die auf der Höhe der allgemeinen socialistischen Bewegung stehen wird. –

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Anseele, der belgische Delegirte, der einen Bericht über den „Vooruit“ erstatten sollte, ist abwesend. Das Wort wird dem Bürger Domela Nieuwenhuis ertheilt, dessen Erscheinen auf der Tribune mit donnerndem Beifall begrüßt wird.

Bürger Domela Nieuwenhuis schildert die Lage der Arbeiterklasse in Holland:

Das ökonomische Leben einer Nation hängt zum großen Theil von der politischen Lage ab. Da in Holland die Arbeiterklasse kein Stimmrecht besitzt, 58 so hat sie eben deswegen auch keinen gesetzlichen Einfluß auf die politischen Angelegenheiten. Mit einem Wort, Holland ist ein Klassenstaat, der von einer Plutokratie (Geldherrschaft) regirt wird, deren unheilvoller Charakter sich deutlich in allen Institutionen offenbart.

Die sehr drückenden Steuern sind in einem der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen geradezu entgegengesetzten Verhältniß ausgelegt. Zu zwei Fünfteln lasten sie auf den dem Arbeiter unentbehrlichen Verzehrungsgegenständen. Ohne Uebertreibung kann man sagen, daß eine Arbeiterfamilie 10 % ihrer Einkünfte der Staatskasse opfert, ungerechnet die Kommunal- und anderweitigen Auflagen.

Weiter lastet ausschließlich aus der Arbeiterklasse die verhaßte Blutsteuer des Militärdienstes, dem die Reichen durch Stellvertretung sich entziehen können.

Der Unterricht ist öffentlich, aber seine Organisation ungenügend; er ist weder obligatorisch noch unentgeltlich. Gewerblicher Unterricht fehlt in Holland fast gänzlich, und wo er vorhanden ist, wird er wie ein durchaus überflüssiger Luxus betrachtet.

Die Rechtspflege ist ein Ding, das die holländischen Arbeiter kaum dem Namen nach kennen. Ingleichen steht die „Gleichheit vor dem Gesetz“ lediglich auf dem Papier. Gewerbeschiedsgerichte fehlen ebenfalls; Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeiter werden vor den gewöhnlichen Richter gebracht, der laut Artikel 1638 unseres Civilgesetzbuches dem Arteitgeber auf‘s Wort glauben muß – ein empörender Beweis der Geringschätzung, welche die regierende Klasse der arbeitenden offen entgegenbringt.

Was das Vereins- und Versammlungsrecht anbelangt, so ist dasselbe ja durch die Verfassung anerkannt. Dasselbe würde also vorhanden sein, wenn nicht das Gesetz allerlei einschränkende Reglements hinzusügte. Außerdem mißbraucht die Polizei häufig ihre Amtsgewalt, indem sie die Saalbesitzer mit Entziehung der Concession zur Verabreichung von Spirituosen bedroht, falls sie wagen sollten, ihre Lokale zu Arbeiterversammlungen herzugeben. Kurzum, das Vereins- und Versammlungsrecht ist gewaltig eingeschränkt, und in der That illusorisch.

Aus diesen Thatsachen ergibt sich, daß die Rechte der Arbeiter in politischer Beziehung durch das Gesetz und durch die Engherzigkeit der herrschenden Klassen arg beschnitten sind.

Aber die ökonomische Sklaverei wird von den holländischen Arbeitern vielleicht noch härter empfunden. Aus diesem Grunde verlangen sie mehr und mehr neben der politischen Emanzipation die gänzliche Umgestaltung der Gesellschaft, die Abschaffung der kapitalistischen Produktion: des Lohnsystems.

Die wirthschaftliche Lage der holländischen Arbeiter ist so ziemlich dieselbe wie die der Arbeiter in den anderen Ländern. Das Privateigenthum in seiner heutigen Gestalt, das heißt das egoistische Privatinteresse der Individuen bildet überall die Grundlage der Gesellschaft; und gleiche Ursachen bringen gleiche Wirkungen hervor.

Die Löhne der holländischen Arbeiter sind ebenso klein, als der Arbeitstag derselben groß ist. Außerdem werden sie fortwährend von den Tausenden von Quälereien des Ausschwitzsystems, des Trucksystems und der willkührlichen Strafabzüge heimgesucht. Frauen- und Kinderarbeit zu äußerst niedrigen Lohnsätzen ist sehr im Schwunge. Arbeitsstockung ist häufig und in den meisten Industrien fast chronisch. Der Wunsch einer socialen Umgestaltung wird immer allgemeiner und die sehr berechtigte Unzufriedenheit gibt sich in Holland ebenso durch Umzüge der Arbeitslosen in den großen Städten, wie durch verhältni?mäßig bedeutende Streiks deutlich zu erkennen. Von letzteren nennen wir die Streiks in der Textilindustrie von Twente und in den Torfgräberdistrikten in Friesland, welche im vorigen Jahr ausbrachen und glücklich verlaufen sind. Der Streit von Twente hat das tiefe Elend und die erdrückende Sklaverei enthüllt, unter welcher die Arbeiter dieser Industriegegend 59 schmachten, und welche von den Kapitalisten das „Paradies der Arbeiter“ genannt wurde, während es in Wahrheit eine Hölle der Arbeiter ist.

Ebenso verhielt es sich mit den Streiks in den Torfdistrikten, welche den Zweck hatten, höhere Löhne und die Abschaffung des Trucksystems, welches hier und in anderen Gegenden Hollands grassirt, zu erzielen.

Bürger Domela Nieuwenhuis, der erste und bis jetzt einzige socialistische Abgeordnete nahm Gelegenheit, ein Gesetz vorzuschlagen, welches den Zweck hatte, den Arbeitern die freie Verfügung über ihre Löhne zu sichern. Dieser Antrag wurde übrigens von den Bourgeois-Abgeordneten sehr schlecht aufgenommen; dieselben sind Feinde jeder Staatsintervention, sofern sich diese nicht auf ihr eigenes Interesse oder auf das ihrer Klasse bezieht. Ja, die holländischen Bourgeois suchten sich sogar das Ansehen zu geben, als wären sie die Beschützer der Arbeiter; und ihr Vertreter, der Justizminister, brachte seinerseits nach dem Beispiel von Domela Nieuwenhuis einen Gesetzesvorschlag ein, welcher dem des Socialisten Conkurrenz wachte.

Es ist außerordentlich zu bedauern, daß die holländische Regierung die Statistik so sehr vernachlässigt. So fehlt eine Statistik über die Lage der Arbeiter, wie sie z. B. in Amerika existirt, in Holland gänzlich. Redner ist deshalb nicht in der Lage, offiziell festgestellte Zahlen zu geben über Arbeitslöhne, Arbeitszeit u. s. w. u. s. w. Dagegen kann er einige Daten beibringen, die sich bei privaten Erhebungen ergeben haben.

Wie bereits erwähnt, ist die Frauen- und Kinderarbeit sehr verbreitet. Man findet sie nicht nur in Magazinen, Laden und Werkstätten der Schneider, sondern auch in der Weberei, Zuckerraffinerie, in der Tabakmanufaktur, in Druckereien, in der Töpferbranche, in den Buchbindereien, Ziegeleien, Stearinfabriken, in den Cafés und Bierbrauereien (Schänken). Im allgemeinen muß man sagen, daß Frauen und Kinder immer mehr und mehr überall da zur Arbeit herangezogen werden, wo es nicht wesentlich auf Muskelkraft ankommt.

Der holländische Arbeiter arbeitet durchschnittlich 12 Stunden täglich; in der Textilindustrie hat der Arbeitstag 11 Stunden.

Der mittlere Lohn für ganz Holland kann auf 7 Gulden [3] wöchentlich höchstens angesetzt werden. Er schwankt in gewissen Berufen und Industrien, aber der mittlere Tagelohn erhebt sich nicht über 9–10 Gulden wöchentlich in den großen Städten. In den kleinen Städten und auf dem Lande stehen die Löhne ganz bedeutend niedriger.

In der Textilindustrie verdienen drei Viertheile der Arbeiter nicht mehr als 7 Gulden, häufig erreichen sie nur 4½ bis 6 Gulden wöchentlich. Die Lage der Arbeiter in den Torfgräbereien und in den Hauptzweigen der Landwirthschaft ist noch viel erbärmlicher. So wird in der reichsten Gegend Frieslands ein Arbeiter mit 70 Cents (1 Fr. 10 Cm. französisches Geld = 88 Pfg.) für einen Arbeitstag von 14 Stunden mit 1½ Ruhestunden abgelohnt. Und das ist in der guten Zeit! Im Winter verdient er nicht mehr als 35 Cents (etwa 58 Pfg.) täglich. Dieses reiche, fruchtbare Land weist fast ebensoviel Elend auf wie Irland!

Es gibt nichts Herzzerreißenderes als das Loos unserer Küstenfischer, die durch die Schiffsrheder und Fischereiunternehmer aus die brutalste Weise vor der Welt ausgebeutet werden. Glücklich ist noch der, dem ein Preis von 8 Gulden für das Faßvoll (baril) bewilligt wird. Von dieser Summe erhält die aus 9 Fischern bestehende Mannschaft eines jeden Bootes nur 1 Gulden 65 Cents, während der Rheder den Rest d. h. 6 Gulden 35 Cents für sich behält.

Es ergibt sich aus diesem kurzen Ueberblick, daß die Lage der Arbeiter in Holland sehr erbärmlich ist. Es ist ihnen fast unmöglich, für Nahrung, Kleidung und Wohnung für sich und ihre Familien zu sorgen. Sie sind gezwungen, sich jede andere Ausgabe zu versagen, und so verzichten sie auf jede Zerstreuung und auf jede Befriedigung von geistigen Bedürfnissen. Der Kapitalismus lastet wie ein bleischweres Joch auf ihnen. Holland ist ein 60 durchaus freihändlerisches Land in dem Sinne, daß es dem Kapitalisten freisteht, den Arbeiter schrankenlos auszubeuten, so daß dieser auf Grund der Thatsachen „zins- und frohnpflichtig ist zum Gotterbarmen“.

Nachdem wir genöthigt waren, die traurige politische und sociale Lage des holländischen Arbeiters festzustellen, freuen wir uns, vor Schluß unseres Berichtes eine tröstliche Thatsache von unleugbarer Wichtigkeit constatiren zu können: Nämlich das Erwachen der Arbeiter in den letzten zehn jahren, ein Erwachen, in Folge dessen sie sich organisirt und radikale Programme ausgearbeitet haben. Sie haben verstanden, sich die Erfahrungen ihrer Brüder in den übrigen Ländern zu Nutze zu machen; sie haben recht wohl begriffen, daß gewisse Versuche zum Zweck der Verbesserung des Loses der Arbeiter wie das Cooperativsystem – Genossenschaftswesen –, das Tantièmensystem, die Unterstützungskassen auf Gegenseitigkeit, Sparkassen, Vorschuszkassen u. s. w., u. s. w. nichts weiter als kostspielige und ungeschickte Pfusch-Hausmittelchen (Palliatiomittel) sind; sie haben sich gesagt: da das Uebel in der Grundlage der bestehenden Gesellschaft sitzt, muß eben diese Grundlage selbst geändert werden.

Die Arbeiter gelangen allmählich zum Bewußtsein, daß sie von ihren Herren, seien sie nun Conservative, Liberale oder Radikale, nichts zu erwarten Haben, sondern dass sie nur auf sich selbst angewiesen sind. Sie organisiren sich mehr und mehr zu einer reinen und nach allen Seiten unabhängigen Arbeiterpartei mit einem eigenen politischen und wirthschaftlichen Programm; und man kann sagen, daß die reaktionären Arbeiterparteien wie die Gegenseitigkeitsverbände „Patrimonium“ und der allgemeine Bund der Niederländischen Arbeiter zur Stunde durch die vorgeschrittenen Arbeiterelemente bei Seite geschoben werden.

Nur der Bund der Socialdemokraten darf sich heute einer wirklich beachtenswerthen Entwicklung mit Stolz rühmen. Er hat sein anfänglich drei Mal wöchentlich erscheinendes Organ, das „Recht voor Allen“ (Recht für alle), welches jetzt täglich erscheint. Die Partei veranstaltet überall öffentliche Versammlungen, sie versorgt das Land mit Broschüren und Flugschriften. Und auf diese organisirte Partei richten die holländischen Arbeiter ihre Hoffnungen für die Zukunft. Wir brauchen keine anderen Beweise weiter für ihren Einfluß als die Verfolgungen der Regierung, welche Mitglieder derselben mehrere Male zu Gefängnißstrafen, ja zu Zwangearbeit hat verurtheilen lassen.

Auf dem politischen Gebiet fordern die Socialisten das allgemeine Stimmrecht; auf wirthschaftlichem Gebiet erstreben sie Uebernahme der Produktionsmittel durch die Gesellschaft und Organisation der öffentlichen Dienstleistungen zu Gunsten der Gesammtheit. Als Uebergangsmaßnahme legen sie großen Werth auf die Herabsetzung der Arbeitszeit mittelst einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Wiewohl wir überzeugt sind, daß die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse nur möglich ist durch Umwandlung des Privateigenthums in Gemeinbesitz, halten wir doch für wichtig zu erklären, daß eine internationale Bewegung für eine gesetzgeberische Regelung der Arbeitszeit in Holland eifrige Vorkämpfer und die Sympathie einer ihrer Interessen sich bewußten Arbeiterschaft finden wird.

Alles dies läßt uns eine Coalition der Regierungen zu dem Zwecke, die Forderungen der Arbeiter zu bekämpfen, erwarten, wir werden jeden Fortschritt mit Beifall begrüßen, welcher die internationale Einigung der Arbeiter zum Zweck hat; denn diese allein ist im Stande, den Umtrieben der Regierungen ein Gegengewicht zu bieten. Wir suchen unsere Stärke nicht in den Gründungen großartiger Genossenschaften, sondern vielmehr in der intellektuellen Entwicklung des Arbeiters. Das ist der Grund, warum unsere Partei eine große Zahl von Broschüren und Büchern herausgegeben hat. Wir haben Uebersetzungen fast aller Nationalökonomen Europas und Amerikas. Wir halten es für nothwendig, daß die Arbeiter erst wissen, was zu thun ist; nur dann werden sie auch das thun, was nothwendig ist.

61 Wir wissen sehr wohl, daß wir, die wir ein kleines Land bewohnen, nicht die Vorhut der Revolution sein können, welche nur in einem großen Lande zur Reife und zum Sieg gelangen kann. Aber diese Revolution muß in unseren Gehirnen bereits vollzogen sein, und wir können von jetzt ab die Versicherung geben, daß wir auf dem Posten sein und unsere Pflicht thun werden. Unser kleines Volk, welches von dem Tyrannen Alba ein „Volk von Bauern“ genannt worden ist, welches aber bewiesen hat, daß es einem Volk von eisengepanzerten Rittern Widerstand zu leisten vermochte, welches jenes sogar mit den Elementen der Natur besiegt hat – es wird auch die Bourgeoisie zu besiegen verstehen und nicht eher ruhen, als bis es die Herrschaft der Freiheit begründet haben wird. Brüder, wir werden siegen oder sterben unter dem Banner der Socialdemokratie; und wir werden dasselbe beständig hochhalten!

(Die Versammlung äußert zu wiederholten Malen ihren enthusiastischen Beifall.) –

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Bürger Petersen setzt hierauf die Lage der Arbeiter in Dänemark auseinander. Diese unterscheidet sich nicht wesentlich von der der übrigen Länder. Im Allgemeinen wiegt die kleine Bourgeoisie, die Kleinindustrie vor. Indessen nimmt seit einigen Jahren auch die Großindustrie einen Aufschwung und drängt die Kleinindustrie in den Hintergrund. Die Kapitalisten haben bereits das Trucksystem in Dänemark eingeführt.

Die Löhne sind sehr niedrig, oft wiederholen sich Krisen und Stockungen. Eine offizielle Statistik über die Arbeiterverhältnisse gibt es nicht. Indessen kann man nach gewissen Angaben berechnen, daß es in Kopenhagen 70.000 Arbeiter gibt, deren durchschnittlicher Jahresverdienst 11–1.200 Frs. beträgt; in den Provinzialstädten 45.000 Arbeiter, mit einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 80 Frs.; 133.000 auf dem Lande beschäftigte Arbeiter verdienen durchschnittlich nicht mehr als 500 Frs.

Wenn man diese Löhne mit dem mittleren Preise der Lebensmittel vergleicht, findet man, daß 78 % der städtischen Arbeiter einen Unterschied von 500 Frs haben, der zwischen den Löhnen, die sie erhalten, und der für ihre Bedürfnisse unerläßlichen Summe liegt.

Die Arbeiter sind in Gewerkschaften, 150 an der Zahl, organisirt, die mit einander vermittelst ihrer Bureaus verbunden sind und eine Centralorganisation bilden, deren Geist unglücklicherweise viel zu wünschen übrig läßt. Neben den Syndikaten (Gewerkschaften und Fachvereinen) erwähnen wir noch die Organisation der socialdemokratischen Partei, der etwa 80 Wahlvereine und Diskussionsklubs angehören.

Die socialistische Presse ist vertreten durch den Social-Demokraten von Kopenhagen, der ungefähr 20,000 Abonnenten hat, und durch 4 Organe, die in der Provinz und täglich erscheinen. Dazu rechnet man noch ein unabhängig-socialistisches Blatt, Arbejtern (der Arbeiter).

Da die dänische Arbeiterbewegung inmitten des Kleinbürgerthums entstanden ist, mußte sie auch einen kleinbürgerlichen Charakter behalten, welcher sich in verschiedener Weise zu erkennen gibt. So hat man auf Aktien ein Versammlungshaus gegründet und eine Cooporativ-Bäckerei. Diese letztere ist eine wahrhafte Karrikatur der Genossenschafts-Bäckerei von Gent, so das man sie auch als nichts anderes betrachten kann, denn als ein industrielles Privatunternehmen, welches den Aktieninhabern eine jährliche Dividende auszahlt. In Wirklichkeit ist an dem ganzen Unternehmen nichts Socialistisches, als das Parteigeld, mit dem man es gegründet hat, und dann die Namen der Leiter, die alle Parteiführer sind.

Das Vereins- und Versammlungsrecht ist den Arbeitern durch Gesetz garantirt, das hindert aber die Herren Kapitalisten keineswegs, Mittel zu finden, die Ausübung dieses Rechtes so schwer als möglich zu machen. Die danischen Arbeiter haben von einem Alter von 30 Jahren an das Stimmrecht, sofern sie nicht aus öffentlichen Mitteln Armenunterstützung erhalten.

62 Gewöhnlich nehmen die Arbeiter lebhaft an den Wahlen theil, auch, ist es ihnen schon gelungen, zwei Vertreter der Partei in’s Parlament zu schicken; zur Stunde sitzt einer ihrer Gewählten darin. Bis jetzt müssen wir zugestehen, daß die Arbeiterpartei mit dem Kleinbürgerthum gegangen ist und noch heute ihre Beziehungen zu den bürgerlichen Parteien nicht abgebrochen hat. Man bemüht sich diese Handlungsweise damit zu vertheidigen, daß die relative Majorität entscheidend ist für den Ausgang der Wahlen (außer bei den Stichwahlen). Es ist klar, daß die Socialisten im Bunde mit irgend einer bürgerlichen Partei niemals bei einer Wahlkampagne etwas gewinnen und die socialistische Agitation so werden betreiben können, wie wenn sie unabhängig blieben. Die socialistische Partei, die zusammengeht mit dem Kleinbürgerthum, ist auch in ihrer politischen Thätigkeit mehr oder weniger an daselbe gebunden. Dergestalt macht sie sich denn zum Vorkämpfer und Vertheidiger bürgerlicher Institutionen, indem sie z. B. Credite für die Kleinindustriellen gewähren hilft. Indessen hat sich in letzter Zeit glücklicherweise eine Rückkehr zu den Prinzipien und eine gegen die bisherige Taktik gerichtete Opposition bei den Arbeitern geltend gemacht. Der beste Beweis für das Vorwärtsschreiten der Bewegung ist die Thatsache, daß diese Bewegung drei Vertreter auf diesem Congreß hat. (Beifall.) –

* * *

Bürger Plechanoff, Abgeordneter der russischen Socialdemokraten, äußert sich folgendermaßen:

Da die Zahl der Redner auf diesem Congreß eine sehr große ist und diese nur kurze Zeit für Darstellung der politischen und ökonomischen Lage ihrer beziehentlichen Länder haben, werde ich ein möglichst kurz gefaßtes Bild der Arbeiterbewegung in Rußland geben.

Man könnte sich wundern, auf diesem Congreß Vertreter Rußlands zu sehen, eines Landes, wo doch sicherlich die Bewegung nicht so vorgeschritten ist, wie in den übrigen europäischen Ländern. Doch haben wir russischen Socialisten gedacht, daß nicht Rußland allein sich von der Arbeiterschaft des übrigen Europa abseits halten dürfe, sondern daß die gegenseitige Annäherung aller Arbeiter nur einen segensreichen Einfluß aus die socialistische aneinander Bewegung der ganzen Welt ausüben würde.

Die verhangnißvolle Rolle, welche Rußland, das, monarchische und offizielle Rußland, bis aus den heutigen Tag in der Geschichte Europas gespielt hat, ist leider nur zu bekannt. Die Czaren, in Wahrheit gekrönte Gensdarmen, betrachteten es als ihre heilige Pflicht, die Reaktionäre aller Länder, von Preußen bis hinüber nach Spanien und Italien, zu unterstützen, Wir brauchen nicht erst auf die Rolle hinzuweisen, welche Czar Nikolaus unseligen Andenkens bei den denkwürdigen Erreignissen von 1848 gespielt hat.

Darum würde auch der Sieg der revolutionären Bewegung in Rußland der Sieg aller europäischen Arbeiter sein.

Es handelt sich also darum, zu wissen wie und unter welchen Bedingungen die revolutionäre Bewegung in Rußland zum Siege gelangen kann. Es ist dies nicht anders möglich – das ist unsere felsenfeste Ueberzeugung, Bürger! – als dann, wenn die russischen Revolutionäre das Vertrauen und die Theilnahme des Volkes selbst zu erringen verstehen. So lange die Bewegung nur das Werk von Schwärmern und der studirenden Jugend sein wird, kann sie wohl für die Czaren hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit gefährlich werden, nicht aber für das Czarenthum als Staatseinrichtung.

Wenn wir die Macht des Czarenthums ein für allemal brechen wollen, müssen wir uns auf ein in einem anderen Sinne revolutionäres Element stützen, als es die studirende Jugend abgibt, – und dieses Element, welches in Rußland nicht fehlt, ist die klasse des Proletariats, welches durch seine wirthschaftliche Lage und durch den Zwang der Dinge selbst revolutionär ist.

Gewisse Nationalökonomen (Volkswirthschaftler), die an einer allzuphantastischen Einbildung leiden, welche mehr von ihrem guten Willen als von ihrer Kenntniß der Thatsachen Zeugniß ablegt, haben sich Rußland wie 63 eine Art von europäischem China vorgestellt, dessen wirthschaftliche Lage nichts mit der des abendländischen Europa gemein habe. Das ist durchaus falsch. Das alte wirthschaftliche Gefüge Rußlands ist jetzt in einem Zustand der gänzlichen Zersetzung. Die ländliche Gemeinde, von der man schon so viel gesprochen hat, – selbst in der socialistischen Presse! – und welche in Wahrheit die Grundlage des Despotismus bildete, diese ländliche Gemeinde wird immer mehr und mehr ein Gegenstand der kapitalistischen Ausbeutung in den Händen der reichen Landwirche. Inzwischen verlassen die Armen das flache Land, um sich in die großen Städte und Industriecentren zu begeben, wo Fabriken entstehen, welche die kleine ehemals so blühende Hausindustrie vernichten.

Die russische Regierung wendet alle Mittel an, um diesen Stand der Dinge noch zu verschlimmern und die Entwicklung des Kapitalismus zu beschleunigen. Wir Socialisten können diese Anstrengungen nur mit Beifall begrüßen, weil das Czarenthum auf diese Weise seinen eigenen Sturz vorbereitet.

Das russische Industrieproletariat, dessen Bewußtsein zu erwachen beginnt, wird schließlich das Joch des Despotismus zerbrechen, und an diesem Tage werdet ihr unmittelbare Vertreter neben den Delegirten der weiter vorgeschrittenen Länder in Euren Congressen Platz nehmen sehen. Unsere Aufgabe ist es, in dieser Erwartung uns Euerer Sache warm anzunehmen und unter den russischen Arbeitern die Ideen der Socialdemokratie mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu verbreiten.

Zum Schluß wiederhole und betone ich: die revolutionäre Bewegung wird in Russland triumphiren als Arbeiterbewegung, oder sie wird nie triumphiren.

(Diese wenigen Worte des Bürgers Plechanoff rufen einen großen Enthusiasmus hervor und unter rauschendem Beifall verläßt der russische Delegirte die Tribüne.) –

* * *

Der norwegische Delegirte Jeppesen geht auf die Anfänge der Arbeiterbewegung seines Landes zurück, d. h. auf die Zeit vor fünf Jahren. Trotz dieser ihrer großen Jugend ist die dortige Bewegung bereits bei der zweiten Periode ihrer Entwicklung, bei der der Verfolgungen und Unterdrückungen angelangt Diese Thatsache beweist dem Referenten nur, daß die Bewegung schon stark und zielbewußt genug ist, um den herrschenden und besitzenden Klassen Furcht einzujagen. Die Arbeiterbewegung, welche Bürger Jeppesen zu vertreten die Ehre hat, trägt einen durchaus socialistischen und revolutionären Charakter. Das zielbewußte Proletariat seines Landes hofft nichts von den oft empfohlenen Palliativmitteln, mit welcher Etikette sie immer versehen sein mögen. Ebenso glaubt es nicht an die Wirksamkeit parlamentarischer Reformen, da es die Erfahrung gemacht hat, daß die in Norwegen bestehenden, sonst der Form nach liberalen Gesetze den Arbeitern nichts nutzen. Indessen hat sich die norwegische Socialistenpartei entschlossen, gemeinschaftlich mit dem Proletariat der übrigen Länder eine internationale Arbeitergesetzgebung zu fordern, da diese Forderung ein ausgezeichnetes Mittel der Agitation und Propaganda bildet. Außerdem hat die socialistische Arbeiterpartei Norwegens bereits ein Arbeiterschutzgesetz im Parlamente ihres Landes eingebracht. Eine Specialkommission ist mit der Prüfung dieses Entwurfes beauftragt worden, welcher demnächst in der National-Versammlung durchberathen weiden wird. Gleichwohl versprechen sich die Arbeiter nichts von der Kammer, sie versprechen sich keinen Vortheil von Gesetzen, die ja immer dem Vortheil der Stärkeren angepaßt werden. Der Kapitalismus zwingt den Arbeiter stets zur Unterwerfung; und darum dürfen die Arbeiter auf Niemanden rechnen als auf sich selbst. (Beifall) –

Ein Zwischenfall erhob sich in diesem Augenblick durch den Delegirten der „United Brotherhood, Iowa“ – Vereinigten Brüderschaft von Iowa – Vereinigte Staaten – Bürger Ahles. Dieser war, nachdem er zweimal abwesend gewesen war, als er das Wort nehmen sollte, von 64 Neuem eingeschrieben für seinen Bericht in derselben Zeit wie Kirchner, Delegirter der „Vereinigten deutschen Gewerkschaften“ von New-York, der gleichfalls mit einem Bericht über Amerika beauftragt war. Aus reinem Zufall will der Vorsitzende das Wort zuerst Kirchner geben, da verläßt Ahles, sich beleidigt glaubend, den Congreß, indem er gegen die Handhabung der Bureaus und die Art und Weise, wie er behandelt sei, protestirt.

Bürger Vaillant setzt der Versammlung die Ursache dieses Irrthums Seitens des Bürgers Ahles auseinander und schickt an diesen einen aufklärenden Brief, indem er ihn zugleich einladet, zurückzukommen um zuerst das Wort zu nehmen. Ahles besteht indeß auf seinem Entschluß und läßt durch die Vermittlung eines Freundes seinen Protest erneuern.

Nachdem das Wort an Bürger Merlino, italienischen Delegirten, gegeben, setzt dieser auseinander, daß in Italien sich die Bewegung aus zwei Strömungen zusammensetzt: es gibt die Fraktion der anarchistischen Socialisten und diejenige der parlamentarischen oder étattistischen [4] Socialisten. Doch ist diese Abweichung mehr scheinbar als real, weil die parlamentarischen Socialisten auch im Prinzip Anarchisten sind, wenn sie auch im Einzelnen (in der That) für die Gesetzlichkeit sind. Die ächten Anarchisten sind Anarchisten sowohl im Prinzip als im der That. Das ist der Unterschied. Indeß hat dieser Unterschied eine ganz eigenthümliche Haltung Seitens der Regierung gegenüber den beiden Fraktionen zur Folge. Die Anarchisten werden Uebelthäter (malfattori) genannt, und sie weisen diese Verleumdung nicht zurück, indem sie es vorziehen, die Hand lieber den kleinen als den großen Dieben zu drücken, welche die Gewalt innehaben und das Land ruiniren. In Folge dessen werden sie mißhandelt, verfolgt und bestraft wie Uebelthäter; man verurtheilt sie zu jahrelangen Gefängnißftrafen. Wenn es sich dagegen um die parlamentarischen Socialisten handelt, so zieht die Regierung Sammthandschuhe an, um sie anzugreifen. Allerdings kommen auch Prozesse und Verfolgungen gegen sie vor, aber die Verurtheilungen sind blos scheinbar, man führt sie nicht aus. Eine Probe davon ist diejenige, von welcher der Bürger Andrea Costa betroffen worden ist, die eine Verurtheilung zum Lachen war.

Hier unterbricht Bürger Jules Guesde den Redner, um ihm zuzurufen, daß man einen Mitdelegirten nicht angreife. Bürger Merlino fährt fort, daß das Programm der italienischen parlamentarischen Socialisten ziemlich demjenigen der Marxisten entspreche, indem es erklärt, daß die Arbeiterklasse die Aufgabe habe, die politische Gewalt und des Eigenthum zu erobern, um es zu vergesellschaften.

Die Anarchisten theilen diese Auffassung nicht. Sie sind überzeugt, daß eine solche geschichtliche Entwicklung in eine andere Klassenherrschaft entarien würde. Das Uebergewicht der herrschenden Klassen von heut würde ersetzt durch das Uebergewicht der Arbeiterklasse. Aber die Regierung kann nicht Allen nach Wunsch sein. Wenn morgen die Revolution· die Gewalt in die Hände der Arbeiterklasse legte, so würde sich diese ganze Aenderung daraus beschränken daß die Chefs sich aus den Arbeitern rekrutirtern statt aus den Bourgeois; aber es würde immer Chefs geben, eine Direction, eine Büreaukratie, und wir würden bald zu dem gegenwärtigen Zustand zurückkehren.

Der Vorsitzende ersucht den Redner, bei der Tagesordnung zu bleiben, indem er daran erinnert, daß der Congreß sich nicht vereinigt habe, um übrigens wohlbekannte Auseinandersetzungen über die Zukunft zu hören.

Bürger Merlino erwidert, daß er einerseits seine Ueberzeugung nicht verleugnen könne, und daß ihm andererseits die Anarchisten das Mandat 65 gegeben hätten, dem Congreß beizuwohnen, damit er daselbst die Theorien entwickele die sie für wahr hielten. Der Congreß will sich mit der Frage der Arbeitergesetzgebung beschäftigen. Gibt es da Socialismus? Durch die Annahme einer solchen Tagesordnung hat der Congreß gezeigt, daß er nicht socialistisch ist, weil er sich mit etwas beschäftigen will, das von Regierungen vorgeschlagen ist. Die Regierungen wollen auch Reformen, aber Socialisten dürfen nicht in die Fußstapfen der Regierungen treten. Sich zum Vorkämpfer der Arbeitergesetzgebung machen, ist eine antisocialistische, eine Bourgeois-Arbeit, und Seitens der Revolutionäre vollständig absurd. Wenn sie den Weg der Reformen betreten, arbeiten sie darauf hin, ihre Sache zu verderben, die übrigens schon in sich den Keim der Corruption und des Ruines trägt. Der Socialismus wird mehr und mehr zeigen, daß er unfähig ist, die Emancipation der Menschheit zu verwirklichen; sein Tod wird daher nicht zu beklagen sein. Einmal begraben und seine Parteigänger verschwunden, werden Andere, die Anarchisten, das Banner entrollen, auf welches sie die vollständige Befreiung der Menschheit verzeichnet haben, und sie werden diese bessere Gesellschaft verwirklichen worauf ihre Anstrengungen gerichtet sind. –

Diese Auseinandersetzung, der einige wenige englische und französische Delegirte applaudirten, wurde von Seiten der großen Mehrheit der Versammlung häufig unterbrochen durch Protestationen, ironische Ausrufe und Zeichen einer großen Heiterkeit. Zu wiederholten Malen hatten sich Reklamationen erhoben, die verlangten, daß dem Redner das Wort entzogen werde, da die anarchistischen Theorien mehr als genügend bekannt seien und nur die kostbare Zeit vergeudet werde. Die Anarchisten verlangten eine vollständige Uebersetzung der Rede Merlino’s, „der sehr gut deutsch und englisch verstehend, im Stande ist, die Genauigkeit der Uebersetzung zu kontroliren.“ Andernfalls drohten sie Lärm zu machen.

Der Vorsitzende weist darauf hin, daß die Uebersetzungen des Bureau nothwendiger Weise abgekürzt und resumirend sind, aber daß sie immer genau sind. Bürgerin Aveling bemerkt, daß Merlino fließend englisch und deutsch spreche, daher sei es das Einfachste, daß er selbst seine Rede in diese Sprachen übersetze. Dies geschieht. Die deutsche Uebersetzung wird applaudirt, aber die Delegirten erklären, daß ihr Beifall sich ausschließlich auf die Uebersetzung, nicht auf den Inhalt der Rede beziehe.

Nachdem die Ruhe wieder hergestellt, erhält das Wort Bürger Iglesias, Delegirter der socialistischen spanischen Arbeiterpartei. Er beginnt seinen Bericht, indem er Namens der socialistischen Arbeiterpartei Spaniens den Congreß begrüßt. Das selbstbewußte Proletariat jenseits der Pyrenäen schickt einen herzlichen Händedruck seinen Brüdern der anderen Länder, die aus diesem Congreß vereint sind.

Die wirthschaftliche und gesellschaftliche Lage der spanischen Arbeiterklasse ist ziemlich dieselbe, wie diejenige der Arbeiter der anderen Länder Europas und Amerikas. Man hat sich daran gewöhnt, die Spanier als ein Volk von Politikern und Begünstigern von „Pronunciamientos“ [5] zu betrachten. Die Arbeiter sollen in eine Gleichgültigkeit versunken sein, die dem Stumpfsinn nahe ist. Sie arbeiteten wenig, äßen noch weniger, aber lebten glücklich Tags über in der Sonne und Nachts unter dem Sternenhimmel, wo der Maschinismus und die Großindustrie ihren Einzug noch nicht gehalten haben. Alles das ist reine Phantasie. Der Arbeiter ist in Spanien ebenso unglücklich, ebenso elend als in irgend einem anderen Lande. Er wird ebenso ausgebeutet, ebenso bedrückt in den Hütten, in den großen Werkstätten, in den Bergwerken und mehr noch bei der Landwirthschaft, wo eine zahlreiche Lohnarbeiterbevölkerung an den nothwendigsten Lebensbedürfnissen Mangel leidet, und wo sie zeitweise durch mörderische 66 Arbeitslosigkeit decimirt wird. Die kapitalistische Concentration, das ist wahr, hat Spanien in seinem höchsten Entwicklungsgrade noch nicht erreicht; aber sie ist auf dem Wege. Dagegen ist das, was in Spanien noch von Kleinindustrie und Kleinhandel vorhanden ist, weit entfernt, sich, wie in gewissen anderen Ländern, mit einem patriarchalischen Charakter der Einfachheit und der Gutmüthigkeit zu umgeben, der es erträglich macht, in Spanien so habgierig, so unersättlich, so unanständig, daß die Arbeiter, wenn es in ihrer Macht stünde, sich beeilen würden, es vollständig verschwinden zu machen. Sie sind in der That überzeugt, daß der Kapitalismus, einmal centralisirt, viel leichter zu bekämpfen und zu ersetzen wäre. In dieser natürlich abweichenden Lage, die aus unserer Bourgeoisie einen Satelliten der an der Spitze der modernen kapitalistischen Bewegung marschirenden Nationen macht, konnten die spanischen Arbeiter nicht weniger thun, als der Bewegung, der Vertheidigung und Emanzipation zu folgen, welche von den Arbeitern der anderen Länder begonnen sind; denn dieselben Ursachen bringen dieselben Wirkungen hervor. Als daher die internationale Arbeiter-Association die Arbeiter der ganzen Welt ausrief, sich um dieselbe Fahne zu vereinigen, fand sie in Spanien einen sehr gut vorbereiteten Boden. Die Ideen und die Pläne der Organisation erfuhren daselbst die wärmste Aufnahme, und nach wenigen Monaten zählten die zur Internationalen gehörigen Arbeiter nach Tausenden. In fast allen großen Städten, und selbst in vielen kleinen, waren organisirte Sektionen von Gewerken, die in lokale Federationen (Verbindungen) vereinigt waren. Ein Bundesrath der die Beiträge centralisirte (zusammenbrachte) und regelmäßig mit dem Generalrath in London correspondirte, war in Madrid ungefähr zwei Jahre lang thätig.

Die Pariser Revolution vom 18. März 1871 gab dieser Bewegung einen neuen Aufschwung, und der Fall der Commune und die schrecklichen Repressalien, die diesem folgten, riß einen Schrei des Schmerzes und der Wuth aus jeder Arbeiterbrust. Die spanischen Arbeiter erklärten sich mit der besiegten Commune ebenso solidarisch, wie sie es gegenüber der siegreichen Commune gethan hätten. Das war für sie die erste und unableugbare That des Klassenkampfes. Seitdem ist nicht ein Jahr verflossen, ohne daß nicht auf allen Punkten Spaniens die Arbeiter, selbst viele von denen, die sich nicht an den Arbeiter-Organisationen betheiligten, den Jahrestag des 18. März wie den ihrer eigenen Revolution gefeiert und die Grausamkeit der französischen Bourgeoisie während der blutigen Woche gebrandmarkt hätten. Die durch die erste Arbeiterrevolution aufgepflanzte Standarte ist unsere Fahne geworden. – Jedermann hier kennt die Ursachen der Spaltung in der Internationalen, die unter Mithülfe der Reaction damit endete, daß sie aufgelöst wurde. Aus ihren zerstreuten Theilen hat sich die gegenwärtige socialistische Partei gebildet. Sie ist noch nicht sehr stark, ihre Anhänger sind noch nicht zahlreich, aber sie ist fest und dauerhaft organisirt, sie zählt Gruppen in den Hauptstädten Spaniens, in allen Manufaktur- und Bergbaucentren, und diese Organisation macht beständige Fortschritte. Ihr Programm ist das der französischen socialistischen Arbeiterpartei, der deutschen Socialdemokratie und der amerikanischen Arbeiterpartei, d. h. es ist auf den von unserem unvergeßlichen und beklagten Karl Marx aufgestellten wirthschaftlichen Grundsätzen basirt. Sie folgt der politischen Leitschnur, die dieser stets gerathen hat: Kampf auf allen Gebieten gegen die feindliche Klasse, gegen die Bourgeoisie, und vollständige Trennung der Arbeiterpartei von allen bürgerlichen Parteien.

Die spanische socialistische Arbeiterpartei, deren wirkliche Existenz als politische Partei kaum seit drei Jahren datirt, hielt ihren ersten Congreß am 23. August 1888 in Barcelona ab. Da bestätigte man das Programm der Partei, genehmigte es und ernannte ein internationales Comité, das gegenwärtig in Madrid seinen Sitz hat. Man beschloß daselbst unter Anderem, daß die socialistische spanische Arbeiterpartei einen Vertreter auf 67 den nächsten internationalen Arbeiter-Congreß in Paris, den gegenwärtigen Congreß, senden solle und daß man ihm speziell das Mandat geben solle, die Schöpfung eines internationalen Comités zu verlangen.

Man muß endlich nicht vergessen, daß neben der eigentlichen socialistischen Partei, die, obgleich ausschließlich aus Arbeitern zusammengesetzt, in ihrem Schooß auch der Bourgeoisie entstammende Elemente aufnehmen kann, wie neben der alten Internationalen, eine mächtige Organisation von Widerstandsgesellschaften (Fachvereinen und Gewerkschaften) besteht, die man Syndikatskammern nennt, die aber bei uns nicht mit der socialistischen Partei zusammengehen. Unsere Partei begünstigt die Entwicklung dieser gewerklichen Organisationen und hilft dabei. Sie wirkt auch aus allen ihren Kräften mit, nothwendige Arbeitseinstellungen zu unterstützen, denn sie hat die Arbeitseinstellung immer als eine für den Arbeiter im Kampfe um sein Leben unvermeidliche Masse betrachtet. Ihre Anstrengungen sind mehr als einmal durch den Sieg gekrönt worden, z. B. in der großen siegreichen Arbeitseinstellung der Madrider Schriftsetzer vor drei Jahren. Bei alledem hat die socialistische Arbeiterpartei es für nöthig erachtet, für den Augenblick zwischen sich und den gewerblichen Organisationen eine Scheidung vorzunehmen. Ein Tag wird kommen, der Berichterstatter ist davon fest überzeugt, wo eine Verschmelzung ihres Bestehens sich ganz von selbst machen wird, ohne Anstrengungen, da sowohl die Ursache eine gemeinschaftliche ist, wie der Zweck, den die Einen wie die Anderen verfolgen. „Und an diesem Tag, der nicht fern ist, sagte beim Schluß Bürger Iglesias, werden wir eine Macht sein, und werdet ihr auf uns rechnen können. Das spanische Proletariat wird auch fernerhin seine Pflicht zu thun wissen; unsere Bourgeoisie ist ebenso verfault und ebenso unterdrückend als die Eure, aber sie ist unwissender und träger, und es wird uns keine zu große Mühe kosten, sie zu überwinden. (Beifall.)

Bürger Mesa, spanischer Delegirter, fügt, nachdem er diese Rede in’s Französische übersetzt hat, hinzu, daß sein Genosse und Freund Iglesias in seiner Bescheidenheit es unterlassen habe, von der Zeitung „il Socialista“ in Madrid zu sprechen. Er selbst, Delegirter der Gründungsgruppe dieses Journals, müsse erklären, daß dieses wachsame Organ einer der mächtigsten Hebel der Organisation und der socialistischen Propaganda in Spanien sei. Sein Leben, verhältnißmäßig lang, hat Ergebenheit und Energie gezeigt. Das Journal wird von Arbeitern geschrieben, wird von Arbeitern unentgeltlich gesetzt und wird ausgezeichnet verwaltet von Arbeitern. (Großer Beifall.)

* * *

Bürger Houst, Delegirter der romanischen Schweiz, skizzirt in einer kurzen Auseinandersetzung die Bewegung der Gegner, die er vertritt. In der französischen Schweiz, sagt er, ist die Bewegung mehr gesellschaftlich und wirthschaftlich als politisch. Eine verhältnißmäßig größere Freiheit als in den anderen Ländern genießend, ist die Bevölkerung daselbst weniger revolutionär, weil sie weniger bedrückt ist.

Der Socialismus, selbst der Anarchismus kann sich bei uns frei entfalten. Die Bewegung zu Gunsten einer internationalen Arbeiterbewegung wird uns erlauben, Cadres (Rahmen) zu formiren und uns besser zu organisiren. In den Jurabergen hat sich die Bevölkerung für die socialistischen Ideen erklärt. Sie wünscht, daß die Arbeit in den Fabriken geregelt sei und daß die Unternehmer baar bezahlen. Dank der Lage und der Propaganda entwickeln sich die Ideen des Socialismus und fassen immer tiefere Wurzeln. Auch wir in der Schweiz werden in dem Kampfe aegen das Kapital nicht erlahmen, und wir werden bemüht sein, unsere Organisation stets zu verbessern. (Beifall.)

Nachdem dieser Bericht beendet ist, wird die Sitzung gegen 9½ Uhr Abends geschlossen.

* * *

Anmerkungen des Herausgebers

1. Herrschaft des Reichtums

2. Die Zahl ist nach den neuesten zuverlässigen Berichten beträchtlich geringer – höchstens 600,000.

3. 1 Gulden = 1 Mk. 68 Pfg.

4. Das Wort kommt vom französischen état, der Staat, und ist von den „Anarchisten“ zur Bezeichnung alles nicht auf „Vernichtung“ des „Staats“ Hinauslaufenden angefertigt worden.

5. Ein Pronunciamento nennt man in Spanien einen Aufstandsversuch, mit obligater Proklamierung einer anderen Regierung.

 

 


Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2022