Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

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Freitag, den 19. Juli. Vormittags-Sitzung

68 Das Präsidium führt der Bürger von Vollmar.

Vor Eintritt in die Tagesordnung theilt Bürger Bebel dem Congresse mit, daß verdächtige Persönlichkeiten sich unter die Abgeordneten eingeschmuggelt haben, die den Deutschen einzureden suchen, sie könnten in Paris frei sprechen, ohne irgend welche Vorsicht zu gebrauchen; sie könnten vor keinem deutschen Gerichtshofe wegen dessen, was sie in Frankreich sagten, zur Beantwortung gezogen werden – selbst wenn es gegen das Gesetz über Majestätsbeleidigung verstoße. Bürger Bebel ermahnt die deutschen Delegirten eindringlich, auf ihrer Hut zu sein, und sich nicht durch solche offenbare Lockspitzel provociren zu lassen.

Nachdem der Versammlung die Mittheilung von der Ankunft neuer Delegirter, Telegramme, Zustimmungsbriefe und von einer Gabe von 100 Franks seitens der holländischen Delegirten für die Opfer von St. Etienne gemacht ist, charakterisirt Bürger Lafargue das Verhalten der französischen Presse gegenüber dem Congresse. Augenscheinlich ist die Losung ausgegeben worden, diesen Congreß todtzuschweigen, während man den Congreß der Possibilisten aufbauscht und ihm schmeichelt. Dem gegenüber zeigt sich die englische Presse viel anständiger.

Bürger Liebknecht fügt hinzu, daß die meisten deutschen Blätter den Congreß mit einer empörenden Unanständigkeit behandelt haben. Die „Frankfurter Zeitung“ ein angeblich demokratisches Blatt, zeichnet sich vor allen durch ihre lügenhaften Berichte und durch die Gemeinheit, mit der sie Lafargue und Guesde mit Koth bewirft, aus.

Ein anderes deutsches Blatt erzählt, daß Bürger Anseele, Delegirter von Gent, aus dieser Stadt geflüchtet sei, indem er die Kasse des Vooruit, die angeblich 160,000 Franks enthielt, mit fort nahm.

Bürger Christensen, dänischer Delegirter, theilt dem Congreß mit, daß ein großer Streik unter den Tischlern Copenhagens ausgebrochen sei. Die Schuld liegt an den Arbeitgebern, welche nach Bruch der formellen Contrakte sich zur Herabsetzung der Löhne vereinigt haben, die bereits hinlänglich schlecht sind. In Folge dieser Streiks sind 7 Werkstätten geschlossen und ungefähr 1200 Arbeiter ohne Arbeit. Die Arbeiter verlangen einen Lohn von 20 Franks pro Woche.

Bürger Palmgreen, Delegirter der socialistischen Partei Schwedens und des „socialistischen scandinavischen Cirkels von Paris“, beginnt seinen Bericht mit der Erörterung, woher es käme, daß er, der in Paris wohne, beim Congresse die Arbeiterpartei seines Heimatlandes vertrete – die Redakteure der 4 socialistischen Blätter, ebenso wie 6 bis 10 der besten Agitatoren sind augenblicklich im Gefängniß.

Die socialistische Propaganda begegnet in Schweden großen Schwierigkeiten, man unternimmt sie überall während des Sommers, der nicht lang ist, indem man Ausflüge über Land veranstaltet. Die Arbeiterbewegung ist noch ziemlich jung. Ein großer Streik der Holzsäger, welcher nicht gelang, trieb die Arbeiter zur Organisation. Der Schneider Palm war es, der zuerst die socialdemokratischen Theorien unter den Arbeitern Schwedens verbreitete. Mit unermüdlichen Eifer und bewundernswürdiger Aufopferung organisirte dieser Mann im tiefen Winter, oft in Mitten der Wälder, Versammlungen der Propaganda. Drei Mal machte er zu Fuß den Weg durch ganz Schweden, vertheilte Broschüren, Flugblätter, und streute überall den Samen des Guten aus. Er begründete den „Socialdemokrat“ in Stockholm, welcher gegenwärtig 5 bis 6.000 Abonnenten besitzt. Zur selben Zeit sammelte er, mit Branting und Danielson, junge Leute, die gleich ihm für die socialistischen Ideen begeistert waren und sich nicht 69 nur aus den Reihen der Arbeiter, sondern auch aus denen der Studirenden recrutirtern. Die Partei beschäftigte sich im Anfang fast ausschließlich mit der politischen Agitation, aber seitdem die Arbeiter sich gewerkschaftlich organisiren, herrschen die ökonomischen und socialen Fragen vor. Im Frühling dieses Jahres war in Stockholm ein Parteicongreß, auf welchem 75 Organisationen vertreten waren. Dieser Congress hatte fast dieselbe Tagesordnung und dasselbe Programm wie der gegenwärtige internationale Congreß. Auf diesem Congress wurde beschlossen, mit gesetzlichen Demonstrationen etc. Propaganda zu Gunsten der Erlangung einer Arbeiterschutzgesetzgebung zu machen. In Schweden sind wie in Oesterreich die Gesetze der Form nach sehr liberal, aber sobald die Arbeiterbewegung davon Nutzen ziehen will, findet der Staat für sie eine reaktionäre Anwendungsweise. Trotz aller garantirten Freiheiten müssen die Arbeiter oft zur List Zuflucht nehmen, um ihre Verbindungen zu organisiren.

Alle Scheerereien haben jedoch nicht hindern können, daß der Socialismus nicht nur in die Massen der industriellen Arbeiter, sondern auch in die der ländlichen eindrang. Heute unterstützen die Bauern und die Arbeiter der Städte einander in dem gemeinsamen Kampfe.

Auch der schwedische Staat steht schon im Begriff, ein Ausnahmegesetz gegen die Socialisten zu schaffen, ein eklatanter Beweis von der Macht, welche die Bewegung in kurzer Zeit erlangt hat. Unterdessen benutzt der Staat rücksichtslos alle Mittel, selbst die niedrigsten und schändlichsten, um die socialistische Propaganda aufzuhalten. Die Briefe der Socialisten passiren das schwarze Cabinet und die socialistischen Telegramme werden nicht immer bei den Telegraphenbureaus angenommen. Die Unterdrückungen tragen dazu bei, den Charakter der Arbeiterbewegung zu ändern, die mehr und mehr ein streng socialistisches Wesen annimmt. Der Glaube an die Wirkungskraft von Palliativmitteln ist unter den Arbeitern fast vollständig Verschwunden, nur die Ueberzeugung wird immer allgemeiner, daß allein die Vergesellschaftung der Produktionsmittel die sociale Frage lösen kann. In der Verfolgung dieses Zweckes sind wir bemüht, Gewaltmittel zu vermeiden, aber die Bourgeoisie wird es schließlich dazu treiben, daß Katastrophen hereinbrechen. Die schwedischen Socialisten wissen wohl, daß die große Frage darin beruht, die Macht der Arbeiter zu organisiren. Es ist nichts damit gethan, zu schreien „Es lebe die Revolution!“, sondern man muß handeln und die Arbeiter so stark machen, daß sie ihre Rechte erkampfen. Gewiß, wir sind für die Revolution, d. h. für die radikale Umgestaltung der Produktionsverhältnisse, aber diese Revolution muß wohl vorbereitet und planmäßig durchgeführt werden. Die Organe der socialistischen Arbeiterpartei Schwedens sind: „Der Proletarier“, „Der Socialdemokrat“ und „Die Volksstimme“; sie erscheinen alle in Stockholm. Organisationen im Auslande, die ihr angehören, die Clubs und Cirkel der schwedischen Arbeiter, die im Ausland wohnen, sind gewissermaßen Schulen, in denen die Mitglieder ihre Heranbildung zu Rednern und Agitatoren vornehmen lassen können. Der scandinavische socialistische Cirkel in Paris, den der Bürger Palmgreen ebenfalls vertritt, zählt 85 Mitglieder. (Bravo.) –

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Der Bürger Kirchner, Delegirter der „Vereinigten deutschen Gewerkschaften von New-York“, sagt, man begegne den widersprechendsten Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Lage des arbeitenden Volkes in der neuen Welt. Indessen, fährt er fort, kann ich Ihnen keinen vollständigen Bericht, der durch statistische Zahlen unterstützt ist, geben, weil zwischen meiner Wahl als Delegirter und meiner Abreise nach Paris nur ein Zwischenraum von einigen Tagen lag. Es ist also weniger ein Bericht als eine Skizze, die ich geben kann, und diese Skizze wird etwas farblos und düster erscheinen neben dem so frischen und prächtigen Bild der deutschen Arbeiterbewegung, das uns Bürger Bebel gezeichnet hat.

70 In Amerika ist die kapitalistische Produktion zu einem derartigen Grade der Entwicklung gelangt, daß man das Recht hat, sich zu fragen: „Wie lange wird sie überhaupt noch dauern?“

Die Kapitalien kleiner Kapitalisten genügen nicht mehr zur lohnenden Ausbeutung der Arbeitermassen. Man häuft die Kapitalien daher aufeinander, und bildet förmliche Armeen von Kapitalien. Die Monopole und die Trusts haben ebenso in der Industrie wie im Ackerbau das Raubsystem des 19. Jahrhunderts auf die Spitze getrieben. Die Macht des organisirten Proletariats ist noch nicht gleich der mehr und mehr concentrirten Macht des Kapitals. Die Löhne und mit ihnen die Lebensbedingungen des arbeitenden Volkes sinken fortwährend. Alle oder fast alle Versuche zu einer Erhöhung der Löhne scheitern, wie es die wahrhaft heroischen Versuche der Bergleute der Kohlenbergwerke, der Arbeiter der Textil-industrie, der Angestellten mit den Trambahnen New-Yorks beweisen. In Amerika wie überall begnügt die Hyäne Kapital sich nicht mehr mit dem Mark Erwachsener, sie verschlingt alles, was in ihre Krallen fällt ohne Unterschied dem Alters und Geschlechtes. Um nicht der Uebertreibung bezichtigt zu werden, will ich einen Auszug aus dem „Dritten Jahresbericht der Fabrikinspektoren des Staates New-York“ anführen; In New-York sagt der Bericht, in den Distrikten der „tenements-houses“ – der Miethskasernen – wo man Kleidungsstücke herstellt, herrscht ein Arbeitssystem, welches der Sklaverei möglichst nahe kommt. Die Arbeit wird unter Aufsicht von Aufsehern verrichtet, welche bis zwei Kämmerchen in den oberen Etagen eines hohen Gebäudes vermiethen und darin einige Maschinen zum Nähen und einen Ofen, um das Eisen um Plätten heiß zu machen, aufstellen. Sie dingen darauf eine gewisse Zahl Männer und Weiber, die sie für sich arbeiten lassen. Diese Arbeiter fangen den Tag gewöhnlich um ½ 7 Uhr an, um bis Abends 9 oder 10 Uhr sich abzunähen mit vielleicht einer halbenStunde Pause für das Mittagsmahl. Gewöhnlich essen und schlafen sie in demselben Zimmer, in dem sie arbeiten, und die drückende und schlechte Atmosphäre, von der sie immerfort umgeben sind, und der Schmutz, in dem sie vegetiren, ist entsetzlich. Tausende junger Mädchen und Knaben ebenso wie Frauen sind dieser Existenz von Schmutz, Schinderie und Erniedrigung überliefert. Für sie gibt es keinen Hoffnungsstrahl!

„Der Lohn, den sie erhalten, ist schon höchst gering, aber an dem wenigen, was sie verdienen, nimmt man noch Abzüge unter der Form von Geldbußen vor, für eine Arbeit, die als mangelhaft erklärt wird, und unter der Form von Steuerantheilen für Logis, Heizung und Beleuchtung, Wenn eine Maschine in Unordnung kommt, wenn ein Theil davon zerbricht, ist es der Arbeiter, der die Ausbesserung zahlen muß. Von allen Seiten werden die Arbeiter bestohlen, gehetzt und unterdrückt. Es gibt keine Besserung für sie, so lange das Gesetz nicht zu ihrem Schutze eintritt.

„Wenn man von der Frage nach dem Wohlbesinden dieser unterdrückten Arbeiter absieht, so muß die Frage in ihrer gegenwärtigen Lage das ganze Land interessiren. Die Quartiere, welche sie bewohnen, ebenso wie ihre Art und Weise zu leben, ist ganz geeignet, in New-York ansteckende Krankheiten hervorzubringen und zu verbreiten. Es handelt sich hier nicht um eine entfernte Eventualität, sondern Um eine Frage von höchster Wichtigkeit, die eine unmittelbare Erwägung erfordert. Das Heilmittel kann nur darin bestehen, dass die Fabrikation der Produkte für den Markt in diesen Pesthöhlen absolut untersagt wird“.

So ein amtlicher Bericht.

Diese Beschreibung der Arbeiterverhältnisse in einem einzigen industriezweige, die einer Quelle entlehnt ist, welche der Parteilichkeit unverdächtig ist, erlaubt uns Schlüsse auf die Zustände in den anderen Industrien zu ziehen.

71 Welches sind nun die Mächte, die derartigen Verhältnissen den Krieg erklärt haben, das heißt, welches sind die Arbeiterorganisationen in den Vereinigten Staaten?

Meines Wissens ist die wichtigste Organisation, und diejenige, welche die meisten Hoffnungen für die Zukunft gibt, der „Amerikanische Arbeitsbund“ – Federation of Labor –; derselbe wird gebildet von den Gewerkschaften deren Geist und Tendenz an die alten englischen Trades-Unions erinnert. Hinsichtlich der Arbeiterbewegung kämpft er noch auf dem Boden des Lohnsystemes, das heißt, er verlangt eine Herabsetzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Lohnes. Dieser Bund hat die Initiative ergriffen zu einer Bewegung, welche neuerdings zu Gunsten des achtstündigen Normalarbeitstages wieder begonnen hat. Für mich steht es außer Zweifel, daß sehr intelligente Führer dieser Organisation schon das Unzureichende der Ziele, die wir soeben genannt haben, eingesehen haben. Aber sie halten es für verfrüht, weiter zu gehen in der Richtung des Socialismus. Von unten aus wird ein Druck nach dieser Richtung hin ausgeübt werden und nach Entfernung der widerstreitenden Elemente wird der „Amerikanische Arbeitsbund“ in kurzer Zeit zugleich mit dem zielbewußten Proletariat der alten Welt den Klassenkampf proklamiren.

Die zweite große Organisation ist „Der Orden der Ritter der Arbeit“Knights of Labor. Diese Arbeitergruppe, begründet von sehr wohlmeinenden und relativ fähigen Männern, hat die Hoffnungen nicht gerechtfertigt, welche der Orden Anfangs bei einer großen Anzahl von Arbeitern, sogar bei Socialisten, erweckt hatte. Seit dem letzten Jahre nimmt die Organisation der „Ritter der Arbeit“ reißend ab, die Zahl ihrer Anhänger von ehemals ist auf die Hälfte gesunken. Dieser Rückgang erklärt sich hauptsächlich aus der Unfähigkeit und der Unredlichkeit der Führer. Mr. Powderly, der „Großmeister“, erhält jährlich 5.000 Dollars – ungefähr 25.000 Franks – aus den Taschen der Mitglieder des Ordens, als regelmäßigen Gehalt; außerdem deckt der Orden die wahrhaft kolossalen „außergewöhnlichen Ausgaben“ des Chefs, welcher von einer wahren Hierarchie von Beamten umgeben ist, die ihn unterstützen. Mr. Powderly hat eine verkehrte Entwicklung durchgemacht – Anfangs bezeichnete er sich als Mitglied der socialistischen Arbeiterpartei. Ein solcher Mensch bietet keine Garantie für die Zukunft dar; man muß solche Elemente völlig entfernen und Arbeiter, wie die deutschen Socialisten in Amerika, betrachten es überall als ihre Ausgabe, die proletarische Bewegung von allen zweifelhaften und unehrlichen Elementen zu reinigen, eine Erziehung der Massen zu veranstalten und bessere Erkenntniß über die letzten Ziele der Arbeiterbewegung zu verbreiten. Diese Aufgabe ist nicht leicht. Sie legt uns große Opfer an Zeit und Geld auf. Zu Streiks und Lockouts – Aussperrungen – sind die deutschen Arbeiter und ihre Organisationen immer zur Hülfe bereit. Bei diesen Gelegenheiten suchen Irländer und Amerikaner gern die deutschen Kameraden auf, für die sie sonst oft eine Art Geringschätzung an den Tag legen. Dies hindert uns jedoch keineswegs unsere Pflicht zu thun. Obgleich der langsame Fortschritt manche von uns zu Pessimisten gemacht hat, treten immer neue Kämpfer auf den Kampsplatz.

In Anbetracht der beschränkten Zeit, über die ich verfüge, will ich nichts von der Wirksamkeit der Deutschen in den rein socialistischen Organisationen, das heißt in der socialistischen Arbeiterpartei sagen. Wir sind überall auf dem Posten, wo es sich darum handelt, eine Bresche in die feindliche Festung zu schießen, und wir legen nicht früher die Waffen aus den Händen, als bis der Gegner ohnmächtig am Boden liegt. (Beifall)

Bürger Ferroul, französischer Deputirter, gibt einen kurzen Ueberblick über den herrschenden Parlamentarismus, welcher nach ihm unvermeidlich auf eine Täuschung der Massen hinausläuft. Vor den Wahlen 72 geben sich die Herren Candidaten ein Aussehen, als wären sie Socialisten, sie behaupten, voller Fürsorge für die Arbeiter zu sein. Aber, einmal gewählt, kümmern sie sich wenig um die Interessen der Proletarier. Nur gegen das Ende einer Legislaturperiode, kurz bevor sie sich von Neuem ihren Wählern vorstellen, lassen sie in Eile Gesetze von socialistischem Aussehen annehmen, sicheren Bewußtseins, daß dieselben von dem Senat verworfen werden. So ging es z. B, mit dem Gesetz über die Unfälle, über die Grubeninspektoren u. s. w.

Die Exdeputirten, die wieder Deputirte werden wollen, bedienen sich dieser Gesetze, um die wählenden Massen mit Schwindelphrasen über ihre angebliche Arbeiterfreundlichkeit zu ködern, kurz, sie schrecken vor den gröbsten Wohlmanövern nicht zurück. Ein solches Wahlmanöver ist z. B. auch die Revision der Verfassung.

So lange als es eine opportunistische oder radikale Bourgeois-Revision sein wird, so lange wird die Aenderung, die sie herbeiführen soll, nur eine scheinbare sein. Die Deputirten besorgen in ausgezeichneter Weise die Geschäfte der Bourgeoisie, weil sie die Vertreter dieser und nicht die des Volkes sind. Aber es gibt einen unversöhnlichen Widerstreit zwischen den Interessen des Volkes und denen der Bourgeoisie.

Dieselben Männer, welche die Geschäfte der letzteren besorgen, können nimmermehr der Masse des Volkes dienen. Wenn die Arbeiter wollen, daß ihre Interessen wirksam vertreten sind, müssen sie selbst sie in die Hand nehmen. Sie werden nicht triumphiren, wenn sie sich auf Andere verlassen, sondern nur, wenn sie auf ihre eigene Macht rechnen. (Lebhafte, wiederholte Bravorufe.)

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Bürger Christensen ergreift das Wort zu einem Bericht über die Arbeiterbewegung in Dänemark. Die dänische Bewegung ist noch jung, weil die Bourgeoisie erst nach dem Jahre 1849 zu herrschen anfing, dem Jahre, in welchem eine freie, der französischen vom Jahre 1789 ähnliche Verfassung erlangt wurde.

Die Revolution in Paris im Jahre 1871 gab einen gewaltigen Anstoß zur Arbeiterbewegung Dänemarks. Viele Arbeiter gehörten zur Internationalen, bis der Staat ein Gesetz gegen diese Verbindung erlassen hatte.

Am 5. Mai 1871 berief ein Aufruf an die Arbeiter Kopenhagens diese zu einer großen Versammlung auf das Nordfeld, nahe der Stadt. Diese ersammlung wurde von der Polizei verboten und die Anstifter Louis Pio, Brix und Gelef wurden verhaftet und zu mehreren Jahren Zwangsarbeit verurtheilt. Die Brutalität der Behörden trieb die Arbeiter zu einer stärkeren Organisation, und Pio, aus dem Gefängniß entlassen, wurde zum Chefredakteur des officiellen Organes der dänischen Arbeiterpartei, des „Socialdemokrat“, welcher damals eine Auflage von 10.000 Exemplaren hatte, ernannt. Im Jahre 1876 wurde Pio als Arbeiterkandidat für die Deputirtenkammer aufgestellt, aber, da die Reaktion noch sehr stark war, erhielt er nur 1100 Stimmen gegenüber 3000, die seinem Gegner gegeben wurden. Im Jahre 1877 wanderten Pio und Gelef nach Amerika aus und man vermuthete, daß sie von der Polizei bezahlt gewesen waren, um ihr die Zerstörung der Arbeiterorganisationen zu erleichtern. Allein dieser Zweck wurde nicht erreicht – im Gegentheil, die Organisationen befestigten sich täglich. Harald Brix blieb in Dänemark bis zu seinem Tode und kämpfte energisch für die Arbeitersache. Er gründete eine Partei (sogenannte „Haralden“) und ein Journal mit mehr revolutionärer Tendenz, aber diese Partei ging mir dem Tode ihren Gründers unter. Obgleich es nun viele Streitigkeiten über persönliche Fragen gab, verschmolzen doch die gemäßigte und die revolutionäre Partei nach dem Tode von Brix ineinander.

73 Die socialistische Arbeiterpartei Dänemarks war bis zu dieser Zeit aus den Gewerkschaften und Fachvereinen zusammengesetzt ihr Programm war gleichzeitig politisch und ökonomisch. Im Jahre 1878 gründete man den socialdemokratischen Bund, dessen Zweck die Erörterung der politischen und socialen Fragen bildete Nach dem Congreß von Kopenhagen im Jahre 1880 beschloß man, daß die beiden Organisationen – daß heißt die Gewerkschaften und Fachvereine einerseits und der socialdemokratische Bund andererseits – gemeinsam auf dem Wege der politischen und socialen Forderungen vorgehen sollten. Von 1880 bis heute hat die Arbeiterbewegung große Schritte gemacht. Das Journal der Partei, „der Socialdemokrat“, hat unter der Redaktion des Bürgers Wiinblad eine Zahl von 22.000 Abonnenten erreicht.

Die Partei ist überzeugt, daß die gewerkschaftlichen Organisationen eine mächtige Hülfe in dem Kampfe gegen das Kapital sind.

Für den Augenblick gibt es 70 vereinigte Gewerkschaften und Fachvereine, die im Ganzen 20.000 Mitglieder zählen. Die geschiedenen Arbeiterparteien nehmen sehr aktiven Antheil an den Wahlen. In dem Wahlkampf von 1884 verbanden sich die Socialisten mit den Liberalen, um das Ministerium Estrup zu stürzen. Das Resultat davon war die Wahl zweier socialistischen Candidaten: Holm und Hördum. Aber dieser Sieg hat die unglückliche Lage der Arbeiter nicht geändert.

Die Regierung spottet über die Gesetzentwürfe, welche die Arbeiterdeputirten eingebracht haben und das Ministerium hat sie mit provisorischen Bestimmungen beantwortet. Für die Folge ist es unmöglich, Reformen zu erlangen, um die Arbeiter in dem Werk ihrer Befreiung zu gelegener Zeit zu unterstützen.

Bei den Wahlen von 1887 wurde der Bürger Hördum nicht wiedergewählt und Bürger Halm siegte nur mit einer kleinen Majorität. Diesen geringen Erfolg verdankt man einem Wahlgesetze, welches den Bürgern gestattet, die Stimmabgabe der Arbeiter zu kontroliren und welches bestimmt, daß jeder Wahler, der Unterstützung aus öffentlichen Hilfsmitteln erhalten hätte, das Wahlrecht verlieren sollte. Erst im Alter von 30 Jahren hat der dänische Bürger das Recht der Stimmabgabe. Die socialistischen Candidaten haben die große Stimmenzahl von 8.000 in Kopenhagen erhalten.

In diesem Augenblick sind die Fachvereine und Gewerkschaften in einen heftigen Kampf gegen den Kapitalismus verwickelt. Die Tischlermeister und die Möbelfabrikanten haben mehr als 3.000 Arbeiter auf das Pflaster geworfen, weil diese sich nicht der kapitalistischen Tyrannei unterwerfen wollten. Die dänischen Kapitalisten benützen alle Mittel, um die Arbeiterorganisationen zu vernichten, und der Minister Estrup hat dem Volke die politischen Rechte vollständig geraubt; während 10 Jahren hat er das Land mit provisorischen Gesetzen regiert. Die dänische Bewegung hat den Antrieb von den Franzosen empfangen, sie folgt in ihrer Entwicklung der Richtschnur der deutschen Socialisten.

Die dänischen Socialisten haben großes Zutrauen zu der liberalen bürgerlichen Partei gehabt, jedoch, da sie immer betrogen worden sind, beginnt ihre Illusion zu schwinden und sie suchen sich Jetzt als eine reine Klassenpartei zu constituiren.

Die Organisation der Arbeiter ist überall in Dänemark in gutem Stand, besonders in Jütland, wo man socialistische Journale in 4 großen Städten gegründet hat, ebenso wie es socialistische Gruppen in fast allen kleinen Städten gibt.

Am Beginn dieses Jahres hat man in Kopenhagen ein radikalsocialistisches Blatt gegründet, welches den Zweck verfolgt, die socialistischen Theorien zu verbreiten, der Arbeiterbewegung einen streng socialistischen Charakter zu verleihen und das dänische Proletariat zu einer Klassenpartei zu entwickeln.

74 Die dänische Regierung mit dem „kleinen Bismarck“: Estrup an der Spitze, hat versucht, die Arbeiter durch gesetzgeberische Maßregeln zu täuschen, aber die Arbeiter, welche beinahe von dem Kapitalismus erdrosselt sind, haben kein Vertrauen mehr in deren Wirksamkeit. Sie wissen genau, daß es keine Gesetzgebung ist, welche dem Arbeiter frommt, sondern nur ein Szenen-Wechsel des gleichen Systems.

Bürger Christensen versichert am Schluß, daß nicht Diejenigen Anhänger der Arbeiterpartei sind, welche wenig klare Ansichten haben und ihre Hoffnung auf Palliativmittel setzen. „Aber es gibt in der Arbeiterbewegung Dänemarks verschiedene Ansichten über die zu befolgende Taktik, wie dies auch in anderen Ländern der Fall ist.“ (Bravo!)

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Mit dem Berichte des dänischen Delegirten ist die Reihe der Generalberichte abgeschlossen und der Congreß schreitet zur Entgegennahme der Specialberichte.

Bürger Diekmann, Delegirter von Bergleuten Westphalens, wird mit lebhaftem Beifall begrüßt und gibt eine Darstellung der Lage seiner Arbeitsgenossen.

Angesichts der knapp bemessenen Zeit, die der Congreß jedem einzelnen Redner widmen kann, ist es ihm nicht möglich, an die er Stelle Entstehung und Entwicklung des Streiks der rheinisch-westphälischen Bergarbeiter zu erzählen. Im Widerspruch mit den Polizeiberichten war es nicht die Socialdemokratie, welche diesen Streik gezeitigt hat, vielmehr hat das tiefste Elend die Bergarbeiter dazu getrieben, die Arbeit einzustellen. Schließlich kamen dennoch die Bergarbeiter zum vollen Bewußtsein ihrer Lage; sie begriffen, daß sie auf Niemand zählen dürfen, als auf sich selbst, und so war die überwiegende Mehrheit gegen eine Abordnung der Herren Bunte, Schröder und Siegel als Deputation an den Kaiser. Die Ultramontanen hatten die Bergarbeiter überredet, sich direkt an den Kaiser zu wenden, wiewohl alle Versammlungen der Streikenden sich gegen eine solche Abordnung erklärten, indem die Leute sich sagten: „Wir haben es nur mit unseren Arbeitgebern, den Kohlenbaronen zu thun; der Kaiser kann hier nichts machen“. Indessen ließen sich die drei Genannten durch den Hauptredakteur der ultramontanen Zeitung und durch die Direktion der Kohlengrube „Karlsglück“ in Dorstfeld beeinflussen und fuhren, ohne von den Streikenden gewählt zu sein, nach Berlin. Diese angebliche Abordnung der Bergleute hat den Streik zum Scheitern gebracht. Während des Berliner Aufenthalts der drei „Delegirten“ veröffentlichten die Zeitungen falsche und einander widersprechende Berichte, die einen wahren Wirrwarr unter den Streikenden hervorbrachten, so daß diese nicht mehr wußten, an wen sie sich zu halten hatten. Der Streik ist verunglückt, – aber die Bergarbeiter sind nicht mehr dieselben wie früher. Die Zahl der Unzufriedenen ist beträchtlich gestiegen und sie haben sich mehr und mehr dem Socialismus zugewendet, gegen den sich die Bergarbeiter bis dahin ablehnend verhalten hatten, indem sie, in’s Schlepptau der Kapläne genommen, sich von der Arbeiterbewegung aus Furcht vor dem Socialistengesetz fernhielten. Nachdem sie nun alle Härten dieses Gesetzes zu schmecken bekommen haben, lediglich aus dem Grunde, weil sie Arbeiter sind, wurden die Bergarbeiter der zielbewußten Arbeiterbewegung zugeführt. Sie begreifen vor allem die Nothwendigkeit, sich gewerkschaftlich fest zu organisiren und sich aller Beeinflussung durch die Geistlichkeit zu entziehen. Die neue Organisation, deren Statuten schon entworfen sind, wir den Namen „Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Interessen der Bergleute in Rheiland-Westphalen“ tragen. Nachdem einmal bei diesen Bergleuten Klarheit über ihre wahren Interessen geschaffen worden ist, werden sie sich der verhängnißvollen Macht der Priester und der Macht des Kapitals, durch welche sie unterdrückt werden, entziehen. Die Geistlichkeit und die Polizei arbeiten um die Wette, dieser Organisation der 75 Bergleute Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Es wird ihnen fast unmöglich gemacht, Versammlungen einzuberufen, die Polizei verbietet dieselben auf Grund des Socialistengesetzes von vornherein. Ferner haben die Bergarbeiter keine für ihre Aufklärung so nothwendige Lektüre, da ihnen nur nationalliberale und ultramontane Zeitungen zur Verfügung stehen. Alle socialistischen Blätter und Arbeiter-Zeitungen sind ihnen verboten, und nur mit der größten Gefahr und Mühe kann man solche Blätter unter ihnen verbreiten. Um diesen Stand der Dinge nach Möglichkeit zum Besseren zu ändern, hat man ein Arbeiterblatt gegründet, die „Westphälische Arbeiterzeitung“, welche in Dortmund erscheint und bereits 4.000 Abonnenten zählt. Sie bemüht sich Aufklärung zu verbreiten, und mit gutem Erfolg. Die Bergarbeiter Westphalens und der Rheinprovinz organisiren sich immer straffer um den Kampf gegen Priesterschaft und Kapital zu führen. Sie haben sich endlich dem zielbewußten, für seine Emanzipation kämpfenden Proletariat angeschlossen, und sie werden keinen Augenblick ermatten in der Durchführung der schweren Aufgabe, die sie sich gestellt haben. (Lebhafter Beifall.) –

Bürger Lecomte, Vertreter der französischen Glashüttenarbeiter, erstattet seinen Bericht schriftlich und verzichtet auf das Wort zu Gunsten des Bürgers Horn, des Delegirten der deutschen Glasarbeiter. Lecomte erklärt sich vollkommen einverstanden mit dem Berichte seines Genossen, da er aus einem Gespräche mit diesem ersehen hat, daß die Lage der Glasarbeiter in Deutschland ganz dieselbe ist, wie in Frankreich. Infolge dessen stimmt er auch den Forderungen, welche Bürger Horn formuliren werde, zu.

Bürger Horn setzt die Lage der deutschen Glasarbeiter auseinander wie folgt:

Es gibt in Deutschland etwa 350 Etablissements für Glasindustrie mit etwa 50.000 Arbeitern. Der Mangel jeglicher Organisation hat für diese Arbeiterarmee eine äußerst beklagenswerthe ökonomische Lage zur Folge. Wenn die Arbeiter dieser Branche trotzdem auf dem internationalen Congreß von Paris vertreten sind heißt das eben, daß sie der Lage überdrüssig sind, in die man sie gebracht hat, und daß sie anfangen, sich der Bewegung für die Organisation des Proletariats anzuschließen. Die Organisationsbestrebungen der Glasarbeiter find noch jung und die Zahl der hier vertretenen Arbeiter überschreitet nicht einige Tausend; aber die Thatsache, daß sie darauf bestanden, auf diesem Congreß einen Delegirten zu haben, ist an sich wichtig und kennzeichnend.

Die Glasindustrie ist eine der mühsamsten und mörderischsten, die man sich vorstellen kann. Die am meisten gefährdeten Arbeiter sind die Spiegelbeleger, deren Lage von Dr. Bruno Schönlank in seiner Broschüre: „Die Spiegelbelegfabriken in Bayern und ihre Arbeiter“ vortrefflich geschildert worden ist. Ebenso hat Bebel von der Tribüne des Reichstags ans über die Gefahren gesprochen, denen die Arbeiter dieses Industriezweiges ausgesetzt sind, und offenbar in Folge des Druckes, der so auf die öffentliche Meinung ausgeübt ward, hat die bayrische Regierung gesetzliche Maßregeln zum Schutze dieser Arbeiter ergriffen.

Nach dem Grade der mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren folgen nun die Glasschneider und Polirer, die Arbeiter der Glasschleifereien, und endlich die eigentlichen Glasbläser, welche bei den Schmelzöfen beschäftigt sind.

Nach den sorgfältig geprüften, von den Arbeitern von 32 Glasfabriken zusammengestellten Angaben, beschäftigen diese Etablissements 3.500 Arbeiter. Die Minderjährigen beiderlei Geschlechts unter dieser Zahl belaufen sich auf 490, die weiblichen Kräfte im allgemeinen auf 260, wovon 60 unter 16 Jahren sind. Die Zahl der jugendlichen Arbeiter unter 16 Jahren beträgt 230.

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Die Arbeitszeit in diesen Etablissements ist

in der Spiegelbelegbranche

10 bis 12 Stunden

in der Beleuchtungsbranche

12 bis 14

in der Fabrikation concaver Gläser

10 bis 12

in den Etablissements der Glasschneider und Glasschleifer

12 bis 14

in der Perlen- und Schmuckindustrie (Spielwaarenindustrie)

16 bis 18

Diese Stundenzahlen begreifen die Frühstücks- und Mittagspausen in sich, aber diese Pausen werden fast nie streng eingehalten. Mit wenig Ausnahmen gibt es keine Sonntagsruhe, die Sonntagsarbeit dauert 10 Stunden. Die Glasarbeiter, die Minderjährigen mit inbegriffen, arbeiten also 70 bis 100 Stunden wöchentlich.

Die Lohnstatistik gibt folgendes Bild.

Der mittlere Wochenlohn ist:

für den erwachsenen Arbeiter (Meister)

15–25 Mark

für den Hilfs- oder Tagesarbeiter

9–15

für die erwachsene Arbeiterin

6–8

für einen jugendlichen Arbeiter unter 16 Jahren (Einträger)

5–8

Diese Löhne werden oft noch bedeutend verkürzt durch Strafgelder, und Abzüge aller Art sind ganz gang und gebe. Die Strafgelder betragen Zwischen 1 und 10 Mark! Und in seltenen Ausnahmefällen übersteigt er Lohn eines Arbeiters den Tarif, den wir soeben eingereicht haben, und diese Ausnahmen sind ohne Einfluß auf das ökonomische Wohlbefinden der großen Masse.

Die gesundheitlichen Einrichtungen der großen Glasfabriken sind entweder geradezu schlecht oder doch mindestens ungenügend. Mangelhafte Ventilation, große Massen von Staub, Rauch, Gase, theils Nässe und theils übergroße Trockenheit der verschiedenen Werkstätten und Arbeitsräume in Verbindung mit ungesunden Wohnungen, niedrigen Löhnen und langer Arbeitszeit erzeugen bösartige Krankheiten, wie Lungenschwindsucht u. s. w. Diese mörderischen Zustände schaffen eine Arbeiterklasse von kränklichen, einem vorzeitigen Tod geweihten Menschen und bedrohen geradezu die ganze Existenz der Glasindustrie, wenn nicht bald mit ernsten Reformen bessernd eingeschritten wird.

Die Arbeiter verlangen folgende Reformen:

  1. Einen Normalarbeitstag von 8 Stunden,
     
  2. Beseitigung der Nachtarbeit beim Wannenbetrieb,
     
  3. Verbot der Sonntagsarbeit,
     
  4. Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren,
     
  5. Verbot der Frauenarbeit bei den Schmelzöfen und Trennung der beiden Geschlechter in den Werkstätten,
     
  6. Verbot des Spiegelbelegs mit Quecksilber in den Glasfabriken,
     
  7. Alle durch die Natur der Industrie bedingten und nothwendigen Arbeiterschutzvorrichtungen

Die Delegirten des französischen Fachvereinsverbandes der Glasarbeiter des Seine departements und des Departements der Seine und Oise erklären sich mit diesen Forderungen der deutschen Glasarbeiter solidarisch. (Beifallsrufe.)

Der Präsident theilt mit, daß zwei Anträge bei ihm eingelaufen sind, von denen der erste Schluß der Berichterstattungen verlangt, der zweite Schluß nach Entgegennahme des Berichtes über die Frauenarbeit und des Berichtes des Kapitän Dupon über die Arbeit der Seeleute.

Bürger Frohme beantragt auf Grund eines früheren Beschlusses, den Bericht des Bürgers Kloß über die Arbeit der Tischler ebenfalls anzuhören.

77 Bürger Lentz, Delegirter der Kellner in Cafés (und in Limonadenverkaufstellen) möchte seinen Bericht verlesen. Die Fachvereinskammer, von der er beauftragt ist, legt hohen Werth darauf, daß die traurige Lage der Angehörigen ihres Berufes dem Congreß kund gegeben werde.

Nachdem Bürger Kloß unter beifälliger Zustimmung aller Delegirten erklärt hat, zu Gunsten des Berichtes von Lentz auf’s Wort zu verzichten, nimmt der Congreß den zweiten Antrag an, und Kapitän Dupon, Borsitzender des Bundes für die Interessen der Seeleute, schildert die Lage seine Auftraggeber.

Es ist das erste mal, führt derselbe aus, daß die Seeleute auf einem internationalen Congreß vertreten sind, und er dankt dem Congreß, der eine Ausnahme zu seinen Gunsten gemacht und ihm das Wort ertheilt hat.

Man kennt die erbärmliche Lage und das unerträgliche Dienstverhältniß der Arbeiter aus dem Meere viel zu wenig; ihre Klagen sind die berechtigsten, die man sich denken kann, und dieser Congreß hat bis jetzt noch nichts von ihnen gehört. Die Seeleute stehen noch unter der Ordonnanz des Ministers Colbert, des Ministers eines absoluten Königs, Ludwigs des Vierzehnten, dessen Spuren die angeblichen Liberalen der kapitalistischen Bourgeoisie von 1889 treulich folgen.

Der Seemann ist ganz in die Hände von Ausbeutern gegeben, welche die Schifffahrt an sich gerissen haben; er wird mit eingerechnet in die allgemeinen Ausbeutungsunkosten, genau so wie Kohlen, Takelwerk, Segelwerk, Malerei u. s. w., nur mit dem einen Unterschied, daß die Auslagen für den materiellen Bedarf keine Herabsetzungen und Kürzungen dulden, während an dem lebendigen Artikel, genannt Seemann, fortwährend gespart wird, um die Dividenden oder die skandalös hohen Gehälter der Großhänse der Finanzausbeuterschaft zu erhöhen.

Seit zweihundert Jahren hat sich die sociale Lage der Seeleute um nichts verbessert; Man muß freilich anerkennen, daß die Revolution von 1848 die Peitschenstrafe und Hiebe mit dem Schiffstau abschaffen wollte, aber wir haben noch die Bestrafung der Fesselung mit Haltseilen, das In-Eisen-Schlagen mit einfachem und doppeltem Ring, das Kielholen, die Entziehung von Speise und Trank, und die gelegentlichen Püffe, Faustschläge und Fußtritte, die zwar nicht gesetzlich, aber doch geduldet sind. Um endlich diesen weißen Sklaven in dem Punkte zu treffen, der ihm am meisten am Herzen liegt, schmälert man den Bissen Brod seines Weibes, seiner Kinder, einer alten Mutter oder eines alten Vaters, indem man ihm seinen so sauer verdienten Lohn verkürzt; – und das alles im Namen der Brüderlichkeit! [1]

Um dieses verhaßte System der Ausbeutung des Menschen zur Bereicherung anderer Menschen dauernd anwenden zu können, hat man ein abscheuliches Verwaltungs- und Vertretungssystem (Organisation de commissariat gouvernemental) beibehalten, an das sich der Seemann in jeder Angelegenheit wenden muß, und welches so beschaffen ist, daß der Ausbeuter in einer Person Richter und Partei ist bei jeder Streitigkeit mit seinen unglücklichen Opfern. Mit einem Wort, der arme Teufel kann nirgends anders sein Recht suchen als bei den Regierungs-Commissaren und Marine-Gendarmen, d. h. bei den Creaturen („Höllenhunden“) des Kapitalisten, dessen Sklave er ist.

Seitdem die kapitalistischen Spekulanten ihre Hand auf den Schifffahrtsbetrieb gelegt haben, hat die Ausbeutung der Bemannung einen bis auf unsere Tage unerhörten Umfang genommen. Die leitenden Beamten haben nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen: für das Kapital herauszupressen, was herauszupressen ist auf Kosten des fahrenden Personals, durch Lohnverringerung und vor allem durch Verminderung des Personals selbst. 78 Namentlich hat man von dieser letzteren Maßregel umfangreichen Gebrauch gemacht, denn man weiß ja aus Erfahrung, daß man vom Seemann das denkbar größte Arbeitsquantum erzwingen kann, da nicht die geringste Verpflichtung vorliegt, ihm die nothwendige Nachtruhe, und Rast an Sonntagen oder Feiertagen zu gewähren.

Dem ersten, der sich beklagt, wird allemal die Antwort zu Theil: „Du bist nicht zufrieden? Hol’ Dich der Teufel! Am Kai stehen 50 andre, die bereit sind, für Dich einzutreten!“

Bürger, ich unterbreite Euch die Mindestforderungen, schließt Kapitän Dupon, Eurer Brüder in der Arbeit und im Elend!

Mit dem, was sie durch mich fordern, werden die ausgebeuteten Seeleute im Stande sein, ihre Existenz weniger gefährlich zu gestalten und allmählich auch mit beizutragen zur gänzlichen Befreiung der Arbeiter.

Unter lebhaftem Beifall verliest Bürger Dupon die Forderungen der Seeleute aus den Handelsschiffen des Hafens von Bordeaux, welche verlangen:

  1. Regelung der Dienststunden wie folgt:
    12 Stunden auf Deck,
    8 Stunden vor dem Feuer der Maschinen innerhalb 24 Stunden, mit einem vollen Ruhetag wöchentlich,
     
  2. Feststellung eines Minimallohnes von 3 Frs. täglich auf Deck, und 4 Frs. täglich vor dem Feuer nebst Aenderung des Tarifs für Lebensmittel in einem liberaleren und humaneren Sinne, als in dem bis jetzt in Kraft stehenden Tarif zu Tage getreten ist,
     
  3. Verbot aller körperlichen Züchtigung und Abschaffung allen Zurückbehaltens verdienter Löhne,
     
  4. Bildung der (Belegschaften) Mannschaften nach Maßgabe der Größe der Schiffe und der Kraft der Maschinen; die Verpflichtung je einen Schiffsjungen von mindestens 14 Jahren für je ein Schiff und je 10 Mann des Personals einzustellen
     
  5. Das Recht für die Seeleute, an die sofort zu errichtenden Gewerbeschiedsgerichte für Schifffahrtswesen zu appelliren, das Recht der Stimmabgabe in jedem Hafen, wo sie sich im Augenblick irgend welcher Wahlen befinden.

Dem Wunsche des Congresses entsprechend verliest Kapitän Dupon noch weitere Aktenstücke betreffs der Lage und der Wünsche der Seeleute. Es sind dies:

  1. Der Bericht des Schiffszimmermanns Caudéran, den die Hafenadministration von Bordeaux in’s Gefängniß werfen ließ, weil er sich weigerte, sich aus ein leckes Schiff einschiffen zu lassen.
     
  2. Die das Seewesen betreffenden Forderungen des Bundes der Syndikatskammern der Rhonemündungen, als da sind:
    1. Abrechnung der Invalidenkasse,
       
    2. Proportionale Pension ohne Altersgrenze,
       
    3. Feststellung der Pension auf mindestens 400 Frs. jährlich,
       
    4. Aufhebung des Gesetzes von 1852; an Stelle der für die Handelsmarine zuständigen Gerichte ein Sachverständigen-Gericht (Gewerbeschiedsgericht) mit civilgerichtlichem Charakter und ganz aus Fachleuten folgendermaßen zusammengesetzt:

    · 1 Kapitän für große Fahrt, Präsident,
    · 1 Maschinist (Maschinenmeister), Beisitzer,
    · 1 Kapitän für kleine Fahrt (Küstenfahrt), Beisitzer,
    · 1 Oberbootsmann (Maitre d’équipage), Beisitzer,
    · 1 Oberheizer, Beisitzer,
    · 1 Matrose, Beisitzer,
    · 1 Heizer, Beisitzer.
    79 Dieses Sachverständigen-Gericht soll ernannt werden von allen zum Seedienst Eingeschriebenen.
     

  3. Oberaufsicht des Staates über alle Kompagnien, welche die Seeleute auf alle mögliche Weise ausbeuten, und zwar
    1. Durch fortgesetzte Lohnreduktionen
       
    2. Durch Verminderung der Mannschaft (die Schiffe werden größer und nehmen zu, und das Personal wird geringer an Zahl),
       
    3. Es muß eine Regelung der Arbeitszeit (Dienststunden) geschaffen werden,
       
    4. Ebenso eine wirksame Ueberwachung in Bezug auf ungenügende Mengen und schlechte Qualität des Proviantes, da in dieser Hinsicht Mißbrauch von den Compagnien angestellten Agenten getrieben wird, welche förmlich vom Raub leben und betreffs der Rationen der Mannschaft zu Gunsten ihres eigenen Beutels Schacher treiben.

    3. Die Wünsche der Seeleute der Handelsmarine des Hafens von Bordeaux sind folgende:

      a. Abrechnung der Invalidenkasse,

      b. Proportionale Pension ohne Altersgrenze mit Zugrundelegung eines Minimums von 400 Frs. jährlich,

      c. Aufhebung des Disciplinargesetzes von 1852, welches Ausnahmegerichte für die Seeleute bestallt, und Ersetzung der letzteren durch Sachverständigen-Kammern für Seewesen, die sich folgendermaßen zusammensetzen:

      · 1 Kapitän für große Fahrt, Präsident,
      · 1 Maschinenmeister für große Fahrt, Beisitzer,
      · 1 Meister für die Küstenfahrt (maitre au cabotage), Beisitzer,
      · 1 Oberbootsmann (maitre d’équipage), Beisitzer,
      · 1 Oberheizer, Beisitzer,
      · 1 Matrose, Beisitzer,
      · 1 Heizer, Beisitzer,
      die sämmtlich durch direkte Wahlen aller eingeschriebenen Seeleute ernannt werden.

Bürger Tressaud unterstützt diese Forderungen der Seeleute und der Congreß stimmt durch Akklamation dafür, daß der Bericht Dupon wie die demselben beigefügten Aktenstücke in Form einer Broschüre veröffentlicht und in allen Häfen der verschiedenen Nationen vertheilt wird. (Beifall.) –

Bürger Lentz bringt im Namen der Syndikatskammer (des Fachvereins) der Restaurateure und Limonadiers (Kellner) zur Kenntniß des Congresses und der ganzen Welt, über welche Masse Beeinträchtigungen sich seine Corporation mit Recht zu beklagen hat. Bei Prüfung der Lage der Kellner muß man zugeben, daß in Paris selbst der weiße Sklavenhandel in voller Blüthe steht. Die folgenden Thatsachen werden beweisen, daß dies keine Uebertreibung ist und man die Lage der Kellner mit der Neger-Sklaverei vergleichen kann.

Der Kellner hat den beschwerlichsten, aufreibendsten und härtesten Beruf. Er „macht“ täglich seine 18 Stunden, ist mancherlei Demüthigungen seitens der verschiedenen Temperamente, mit denen er es täglich zu thun hat, ausgesetzt, und noch viel mehr übermäßigen Ansprüchen seitens seiner Arbeitgeber. Er wird nicht nur nicht für seine Anstrengungen bezahlt, sondern ist noch zu mehr oder minder direkten Contributionen – zur Abgabe eines Theils seiner Einnahmen – verpflichtet. Unsere Herren Prinzipale, die ihrerseits meist selbst Gehilfen gewesen sind zu einer Zeit, wo die Freigebigkeit des Publikums eine größere war, glauben, daß diese Ausnahme von der Regel, die reichlichen Trinkgelder, den Kellnern ganz erhebliche Summen einbringen.

80 Aber heutzutage hat die Freigebigkeit des Publikums schon lange bedeutend abgenommen und wird von Tag zu Tag seltener; daher die Beschwerden über eine Lage, die mit einem Wort als unerträglich bezeichnet werden kann. Wenn alles sich nur auf den Mangel von Freigebigkeit seitens der Gäste beschränkte, so wäre das kein großes Unglück – lautet doch eine der Forderungen unserer Corporation: Abschaffung des Trinkgeldes!

Unter dem Vorwand von Geschirrzerbrechen und von Hilfsarbeitern irgend welcher Art, von Auslagen also, die doch zweifellos dem Prinzipal zuzuweisen wären, da er ja den Vortheil davon zieht, – werden jedem Kellner von seiner Tageseinnahme 2–6 Frs. vornweg abgezogen.

Das Wenige, das die Kellner verdienen, wird ihnen auch noch beschnitten durch die Stellenvermittlungs-Bureaux. Sie zahlen oft für eine nachgewiesene Stelle 120–150 Frs., und dann ist diese noch dazu oft so schlecht, daß sie dieselbe aufgeben müssen, wenn man sie nicht so schon bald entläßt. Oft ist der Prinzipal sogar der Helfershelfer des Bureau-Inhabers und richtet es so ein, daß sein Personal so oft als möglich dort versprechen mußt!

Alle von Seiten der Betroffenen an die zuständigen Behörden gerichteten Forderungen auf Abschaffung der Stellenvermittlungs-Bureaus sind bisher ohne Wirkung geblieben. Mit einer gewissen Genugthuung muß es erfüllen, daß diese Spekulation nur in Frankreich und Belgien existirt [2]; und dazu kommt noch, daß in letzterem Lande die Stellenvermittlung nicht von Einheimischen ausgebeutet wird, sondern vielmehr von Franzosen, die meistens in Frankreich die bürgerlichen Ehrenrechte verloren haben.

Die beklagenswerthe Lage der Kellner erklärt genügend die Aufregung und Agitation des letzten Jahres zum Zweck der Abschaffung der Stellenvermittlungs- oder Nachweisbureaus und der Einrichtung des Arbeitsnachweises durch die Syndikatskammern – Fachvereine und Gewerkschaften. Seit 1886 besteht eine Syndikatskammer der Restaurateure und Limonadiers, welche von 80.000 in Paris beschäftigten Kellnern ohngefähr 4.500 umfaßt. Dieselbe verlangt einen Normalarbeitstag, Lohnerhöhung und Abschaffung der Stellennachweis-Bureaus.

Sie hofft, daß die hier gegenwärtigen Delegirten zur Emanzipation dieser lange vergessenen Berufsklasse mit beitragen werden.

Die Forderungen eines bestimmten Lohnes für geleistete Arbeitsstunden ist wahrlich nicht unbillig und die Aufhebung der Nachweis-Bureaus gebietet sich von selbst, da sie das einzige Mittel ist, die Zukunft der in der Lebensmittelbranche überhaupt thätigen Berufsklassen sicher zu stellen.

Bürger Lentz verliest weiter einen Bericht, den die Corporationen der Lebensmittelbranche der Abgeordneten-Kammer eingereicht haben, in Antwort auf die von der Commission der Kammer vorgeschlagenen Ablehnung der Aufhebung der Nachweis-Bureaus. Der Bericht führt aus, daß die Aufhebung der genannten Institute nicht, wie behauptet werde, ein Eingriff in die Freiheit des Arbeitsvertrages ist, und daß sie keineswegs eine den gegenwärtigen Inhabern von Bureaus zu gewährende Entschädigung für ein in Folge eines Mißbrauchs erworbenen Rechtes bedingt; und er kommt nach einem beigefügten Bild der Lage der Keller zu denselben Schlüssen, die Bürger Lentz soeben dargelegt hat. (Beifall.) –

* * *

Bürgerin Zetkin, Abgeordnete der Arbeiterinnen von Berlin, ergreift unter lebhaftem Beifall das Wort über die Frage der Frauenarbeit. Sie erklärt, sie wolle keinen Bericht erstatten über die Lage der 81 Arbeiterinnen, da diese die gleiche ist wie die der männlichen Arbeiter. Aber im Einverständniß mit ihren Auftraggeberinnen werde sie die Frage der Frauenarbeit vom prinzipiellen Standpunkt beleuchten. Da über diese Frage keine Klarheit herrsche, sei es durchaus nothwendig, daß ein internationaler Arbeitercongreß sich klipp und klar über diesen Gegenstand ausspricht, indem er die Prinzipienfrage behandelt.

Es ist – führt die Rednerin aus – nicht zu verwundern, daß die reaktionären Elemente eine reaktionäre Auffassung haben über die Frauenarbeit. Im höchsten Grade überraschend aber ist es, daß man auch im socialistischen Lager einer irrthümlichen Auffassung begegnet, indem man da Abschaffung der Frauenarbeit verlangt. Die Frage der Frauenemanzipation, d. h. in letzter Instanz die Frage der Frauenarbeit ist eine wirthschaftliche, und mit Recht erwartet man bei den Socialisten ein höheres Verständniß für wirthschaftliche Fragen als das, welches sich in den eben angeführten Forderungen kund gibt.

Die Socialisten müssen wissen, daß bei der gegenwärtigen wirthschaftlichen Entwicklung die Frauenarbeit eine Nothwendigkeit ist; daß die natürliche Tendenz der Frauenarbeit entweder darauf hinausgeht, daß die Arbeitszeit, welche jedes Individuum der Gesellschaft widmen muß, vermindert wird, oder daß die Reichthümer der Gesellschaft wachsen; daß es nicht die Frauenarbeit an sich ist, welche durch Concurrenz mit den männlichen Arbeitskräften die Löhne herabdrückt, sondern die Ausbeutung der Frauenarbeit durch den Kapitalisten, der sich dieselbe aneignet.

Die Socialisten müssen vor allem wissen, daß auf der ökonomischen Abhängigkeit oder Unabhängigkeit die sociale Sclaverei oder Freiheit beruht. Diejenigen, welche auf ihr Banner die Befreiung alles dessen „was Menschenantlitz trägt“, geschrieben haben, dürfen nicht eine ganze Hälfte des Menschengeschlechtes durch wirthschaftliche Abhängigkeit zu politischer und socialer Sclaverei verurtheilen. Wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne; und sie wird unterjocht bleiben, so lange sie nicht wirthschaftlich unabhängig dasteht. Die unerläßliche Bedingung für diese ihre wirthschaftliche Unabhängigkeit ist die Arbeit. Will man die Frauen zu freien menschlichen Wesen, zu gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft machen wie die Männer, nun so braucht man die Frauenarbeit weder abzuschaffen noch zu beschränken, außer in gewissen, ganz vereinzelten Ausnahmsfällen.

Die Arbeiterinnen, welche nach socialer Gleichheit streben, erwarten für ihre Emanzipation nichts von der Frauen-Bewegung der Bourgeoisie, welche angeblich für die Frauenrechte kämpft. Dieses Gebäude ist auf Sand gebaut und hat keine reelle Grundlage. Die Arbeiterinnen sind durchaus davon überzeugt, daß die Frage der Frauen-Emancipation keine isolirt für sich bestehende ist, sondern ein Theil der großen socialen Frage. Sie geben sich vollkommen klare Rechenschaft darüber, daß diese Frage in der heutigen Gesellschaft nun und nimmermehr gelöst werden wird, sondern erst nach einer gründlichen Umgestaltung der Gesellschaft.

Die Frauen-Emanzipations-Frage ist ein Kind der Neuzeit, und die Maschine hat dieselbe geboren. Im Renaissance-Zeitalter war die Frau intellektuell und gesellschaftlich dem Manne gleichgestellt, aber Niemandem fiel es ein, die Frage ihrer Emanzipation auszuwerfen, und die Emanzipation der Frau heißt die vollständige Veränderung ihrer socialen Stellung von Grund aus, eine Revolution ihrer Rolle im Wirthschaftsleben. Die alte Form der Produktion mit ihren unvollkommenen Arbeitsmitteln fesselte die Frau an die Familie, und beschränkte ihren Wirkungskreis auf das Innere ihres Hauses. Im Schooß der Familie stellte die Frau eine außerordentlich produktive Arbeitskraft dar. Sie erzeugte fast alle Gebrauchs-Gegenstände der Familie. Beim Stande der Produktion und des Handels von ehedem ware es sehr schwer, wenn nicht unmöglich gewesen, diese Artikel ausserhalb der Familie zu produziren. So lange diese älteren 82 Produktionsverhältnisse in Kraft waren, so lange war die Frau wirthschaftlich produktiv. Mit der Umwandlung der Produktionsverhältnisse, die der Frau keine produktive Thätigkeit mehr gestatteten, ward die Frau Consumentin. Dieser Umschwung trug viel zur Verminderung der Eheschließungen bei.

Die maschinelle Produktion hat die wirthschaftliche Thatigkeit der Frau in der Familie getödtet. Die Großindustrie erzeugt alle Artikel billiger, schneller und massenhafter als dies bei der Einzelindustrie möglich war, die nur mit den unvollkommenen Werkzeugen einer Zwergproduktion arbeitete. Die Frau mußte oft den Rohstoff, den sie im Kleinen einkaufte, theurer bezahlen, als das fertige Produkt der maschinellen Großindustrie Sie mußte außer dem Kaufpreis (des Rohstoffes) noch ihre Zeit und ihre Arbeit drein geben. In Folge dessen wurde die produktive Thätigkeit innerhalb der Familie ein ökonomischer Unsinn, eine Vergeudung an Kraft und Zeit. Obgleich ja einzelnen Individuen die im Schooße der Familie produzirende Frau von Nutzen sein mag, bedeutet diese Art von Thätigkeit nichts desto weniger für die Gesellschaft einen Verlust.

Das ist der Grund, warum die gute Wirthschafterin aus der guten alten Zeit fast gänzlich verschwunden ist. Die Großindustrie hat die Waarenerzeugung im Hause und für die Familie unnütz gemacht, sie hat der häuslichen Thätigkeit der Frau den Boden entzogen. Zugleich hat sie eben auch den Boden für die Thätigkeit der Frau in der Gesellschaft geschaffen. Die mechanische Produktion, welche der Muskelkraft und qualifizirten Arbeit entrathen kann, machte es möglich, auf einem großen Arbeitsgebiete Frauen einzustellen. Die Frau trat in die Industrie ein mit dem Wunsche, die Einkünfte in der Familie zu vermehren. Die Frauenarbeit in der Industrie wurde im Verhältni? der Entwicklung der modernen Industrie eine Nothwendigkeit. Und mit jeder Verbesserung der Neuzeit ward Männerarbeit überflüssig aus diese Weise, Tausende von Arbeitern wurden auf’s Pflaster geworfen, eine Reservearmee der Armen wurde geschaffen und die Löhne sanken fortwährend immer tiefer.

Ehemals hatte der Verdienst des Mannes unter gleichzeitiger produktiver Thätigkeit der Frau im Hause ausgereicht, um die Existenz der Familie zu sichern; jetzt reicht er kaum hin, um den unverheiratheten Arbeiter durchzubringen. Der verheirathete Arbeiter muß nothwendiger Weise mit auf die bezahlte Arbeit der Frau rechnen.

Durch diese Thatsache wurde die Frau von der ökonomischen Abhängigkeit vom Manne befreit. Die in der Industrie thätige Frau, die unmöglicherweise ausschließlich in der Familie sein kann, als ein bloßes wirthschaftliches Anhängsel des Mannes – sie lernte als ökonomische Kraft, die vom Manne unabhängig ist, sich selbst genügen. Wenn aber die Frau wirthschaftlich nicht mehr vom Manne abhängt, so gibt es keinen vernünftigen Grund für ihre sociale Abhängigkeit von ihm. Gleichwohl kommt diese wirthschaftliche Unabhängigkeit allerdings im Augenblick nicht der Frau selbst zu Gute, sondern dem Kapitalisten. Kraft seines Monopols der Produktionsmittel bemächtigte sich der Kapitalist des neuen ökonomischen Faktors und ließ ihn zu seinem ausschließlichen Vortheil in Thätigkeit treten. Die von ihrer ökonomischen Abhängigkeit dem Manne gegenüber befreite Frau ward der ökonomischen Herrschaft des Kapitalisten unterworfen; aus einer Sklavin des Mannes ward sie die des Arbeitgebers: sie hatte nur den Herrn gewechselt. Immerhin gewann sie bei diesem Wechsel; sie ist nicht länger mehr dem Mann gegenüber wirthschaftlich minderwerthig und ihm untergeordnet, sondern seines Gleichen. Der Kapitalist aber begnügt sich nicht damit, die Frau selbst auszubeuten, er macht sich dieselbe außerdem noch dadurch nutzbar, daß er die männlichen Arbeiter mit ihrer Hilfe noch gründlicher ausbeutet.

Die Frauenarbeit war von vornherein billiger als die männliche Arbeit. Der Lohn des Mannes war ursprünglich darauf berechnet, den Unterhalt 83 einer ganzen Familie zu decken; der Lohn der Frau stellte von Anfang an nur die Kosten für den Unterhalt einer einzigen Person dar, und selbst diese nur zum Theil, weil man darauf rechnete, daß die Frau auch zu Haus weiter arbeitet außer ihrer Arbeit in der Fabrik. Ferner entsprachen die von der Frau im Hause mit primitiven Arbeitsinstrumenten hergestellten Produkte, verglichen mit den Produkten der Großindustrie, nur einem kleinen Quantum mittlerer gesellschaftlicher Arbeit. Man ward also daraus geführt, eine geringere Arbeitsfähigkeit bei der Frau zu folgern, und diese Erwägung ließ der Frau eine geringere Bezahlung zu Theil werden für ihre Arbeitskraft. Zu diesen Gründen für billige Bezahlung kam noch der Umstand, daß im Ganzen die Frau weniger Bedürfnisse hat als der Mann.

Was aber dem Kapitalisten die weibliche Arbeitskraft ganz besonders werthvoll machte, das war nicht nur der geringe Preis, sondern auch die größere Unterwürfigkeit der Frau. Der Kapitalist spekulirte aus diese beiden Momente: die Arbeiterin so schlecht als möglich zu entlohnen, und den Lohn der Männer durch diese Konkurrenz so stark als möglich herab zu drücken. In gleicher Weise machte er sich die Kinderarbeit zu Nutze, um die Löhne der Frauen herabzudrücken; und die Arbeit der Maschinen, um die menschliche Arbeitskraft überhaupt herabzudrücken. Das kapitalistische System allein ist die Ursache, daß die Frauenarbeit die ihrer natürlichen Tendenz gerade entgegengesetzten Resultate hat; daß sie zu einer längeren Dauer des Arbeitstages führt, anstatt eine wesentliche Verkürzung zu bewirken; daß sie nicht gleich bedeutend ist mit einer Vermehrung der Reichthümer der Gesellschaft d.h. mit einem größeren Wohlstand jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft, sondern nur mit einer Erhöhung des Profites einer Handvoll Kapitalisten und zugleich mit einer immer größeren Massenverarmung. Die unheilvollen Folgen der Frauenarbeit, die sich heute so schmerzlich bemerkbar machen, werden erst mit dem kapitalistischen Produktionssystem verschwinden. –

Der Kapitalist muß, um der Konkurrenz nicht zu unterliegen, sich bemühen, die Differenz zwischen Einkaufs (Herstellungs-)preis und Verkaufspreis seiner Waaren so groß als möglich zu machen; er sucht also so billig als möglich zu produziren und so theuer als möglich zu verkaufen. Der Kapitalist bat folglich alle Interesse daran, den Arbeitstag ins Endlose zu verlängern und die Arbeit mit so lächerlich geringfügigem Lohn abzuspeisen, als nur irgend möglich. Dieses Bestreben steht in geradem Gegensatz zu den Interessen der Arbeiterinnen, ebenso wie zu denen der männlichen Arbeiten. Es gibt also einen wirklichen Gegensatz zwischen den Interessen der Arbeiter und der Arbeiterinnen nicht; sehr wohl aber existirt ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den Interessen des Kapitals und denen der Arbeit.

Wirthschaftliche Gründe sprechen dagegen, das Verbot der Frauenarbeit zu fordern. Die gegenwärtige wirthschaftliche Lage steht so, daß weder der Kapitalist noch der Mann aus die Frauenarbeit verzichten können. Der Kapitalist muß sie aufrecht erhalten, um konkurrenzfähig zu bleiben, und der Mann muß auf sie rechnen, wenn er eine Familie gründen will. Wollten wir selbst den Fall setzen, daß die Frauenarbeit auf gesetzgeberischem Wege beseitigt werde, so würden dadurch die Löhne der Männer nicht verbessert werden. Der Kapitalist würde den Ausfall an billigen weiblichen Arbeitskräften sehr bald durch Verwendung vervollkommneter Maschinen in umfangreicherem Maße decken – und in kurzer Zeit würde alles wieder sein wie vorher!

Nach großen Arbeitseinstellungen, deren Ausgang für die Arbeiter günstig war, hat man gesehen, daß die Kapitalisten mit Hilfe vervollkommneter Maschinen die errungenen Erfolge der Arbeiter zu nichte gemacht und sich derselben Ausbeutungsmöglichkeit bemächtigt haben, die sie vorher hatten.

84 Wenn man Verbot oder Beschränkung der Frauenarbeit auf Grund der aus ihr erwachsenden Konkurrenz fordert, dann ist es ebenso logisch begrundet, Abschaffung der Maschinen und Wiederherstellung des mittelalterlichen Zunftrechts zu fordern, welches die Zahl der in jedem Gewerbebetriebe zu beschäftigenden Arbeiter festsetzte.

Allein abgesehen von den ökonomischen Gründen sind es vor allem prinzipielle Gründe, welche gegen ein Verbot der Frauenarbeit sprechen. Eben auf Grund der prinzipiellen Seite der Frage müssen die Frauen darauf bedacht sein, mit aller Kraft zu protestiren gegen jeden derartigen Versuch; sie müssen ihm den lebhaftesten und zugleich berechtigsten Widerstand entgegensetzen, weil sie wissen, daß ihre sociale und politische Gleichstellung mit den Männern einzig und allein von ihrer ökonomischen Selbstständigkeit abhängt, welche ihnen ihre Arbeit außerhalb der Familie in der Gesellschaft ermöglicht.

Vom Standpunkt des Prinzips aus protestiren wir Frauen nachdrücklichst gegen eine Beschränkung der Frauenarbeit. Da wir unsere Sache durchaus nicht von der Arbeitersache im allgemeinen trennen wollen, werden wir also keine besonderen Forderungen formuliren; wir verlangen keinen anderen Schutz als den, welchen die Arbeit im allgemeinen gegen das Kapital fordert.

Nur eine einzige Ausnahme lassen wir zu Gunsten schwangerer Frauen, deren Zustand besondere Schutzmaßregeln im Interesse der Frau selbst und der Nachkommenschaft erheischt. Wir erkennen gar keine besondere Frauenfrage an – wir erkennen keine Arbeiterinnenfrage an! Wir erwarten unsere volle Emanzipation weder von der Zulassung der Frau zu dem, was man freie Gewerbe nennt, und von einem, dem männlichen gleichen Unterricht – obgleich die Forderung dieser beiden Rechte nur natürlich und gerecht ist! – noch von der Gewährung politischer Rechte. Die Länder, in denen das angebliche allgemeine, freie und indirekte Wahlrecht existirt, zeigen uns, wie gering der wirkliche Werth desselben ist. Das Stimmrecht ohne ökonomische Freiheit ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wechsel, der ‚Brief steht‘ und keinen Cours hat. Wenn die sociale Emanzipation von den politischen Rechten abhinge, würde in den Ländern mit allgemeinem Stimmrecht keine sociale Frage existiren. Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechtes wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der socialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.

In Erwägung dieser Thatsachen bleibt den Frauen, denen es mit dem Wunsche ihrer Befreiung Ernst ist, nichts anderes übrig, als sich der socialistischen Arbeiterpartei anzuschließen, der einzigen, welche die Emanzipation der Arbeiter anstrebt.

Ohne Beihilfe der Männer, ja oft sogar gegen den Willen der Männer sind die Frauen unter das socialistische Banner getreten; man muß sogar zugestehen, daß sie in gewissen Fällen selbst gegen ihre eigene Absicht unwiderstehlich dahin getrieben worden sind, einfach durch eine klare Erfassung der ökonomischen Lage.

Aber sie stehen nun unter diesem Banner, und sie werden unter ihm bleiben! Sie werden unter ihm kämpfen für ihre „Emanzipation“, für ihre Anerkennung als gleichberechtigte Menschen.

Indem sie Hand in Hand gehen mit der socialistischen Arbeiterpartei, sind sie bereit, an allen Mühen und Opfern des Kampfes Theil zu nehmen, aber sie sind auch fest entschlossen, mit gutem Fug und Recht nach dem Siege alle ihnen zukommenden Rechte zu fordern. In Bezug auf Opfer und Pflichten sowohl, wie auf Rechte wollen sie nicht mehr und nicht weniger sein als Waffensgenossen, die unter gleichen Bedingungen in die Reihen der Kämpfer aufgenommen worden sind.

85 Lebhafter Beifall, der sich wiederholt, nachdem Bürgerin Aveling diese Auseinandersetzungen ins Englische und Französische übersetzt hat.


Nachdem die Reihe der Spezialberichte, deren Entgegennahme der Congreß beschlossen hatte, erledigt ist, entspinnt sich eine Debatte darüber ob man den Anarchisten oder wenigstens einem von ihnen das Wort für länger als 15 Minuten ertheilen soll (Antrag Lafargue), damit sie sich nicht über Unduldsamkeit beklagen können, die man der Auseinandersetzung ihrer Theorien entgegengebracht habe.

Viele Delegirte machen darauf aufmerksam, daß man ja die anarchistischen Theorien mehr als zur Genüge kenne, und daß der Congreß den Beweis einer weit genug gehenden Toleranz geben würde, wenn er einem einzigen anarchistischen Redner für mehr als 15 Minuten das Wort ertheilte.

„Compagnon“ (Genosse) Montant setzt die Entstehung und Bedeutung des Wortes „Anarchie“ auseinander; er verbreitet sich weitläufig über die „absolute Freiheit“ der Anarchisten, die allein fähig sei, die Gesellschaft zum Besseren umzugestalten.

Diese Auseinandersetzungen finden nur bei einigen französischen und englischen Delegirten Beifall; die überwiegende Mehrheit ibt ihre Mißbilligung laut kund und unterbricht den Redner mit ironischen Zwischenrufen.

Bürger Franchet, Delegirter der Möbelschreiner vom Faubourg St. Antoine, beklagt, daß die Arbeiter von Paris kein revolutionäres Blut mehr in den Adern haben. Wollen sie sich abermals von einem ganz verderbten und durch und durch faulen Parlamentarismus foppen lassen? Er empfiehlt ihnen Wahlenthaltung und räth von der Forderung einer Arbeitergesetzgebung ab, welche seiner Ansicht nach unfähig sei, ihrer traurigen Lage abzuhelfen.

Die belgischen Delegirten beantragen Schluß der Sitzung; dann schlägt Bürger Vaillant im Namen des Bureaus vor, da der Congreß morgen sich bis zur vollständigen Erledigung seiner Aufgaben in Permanenz erkläre.

Dieser Antrag wird angenommen, nachdem bestimmt worden ist, daß aus der Tagesordnung des folgenden Tages nur die Discussion über die verschiedenen Punkte, welche von vorn herein auf dem Arbeits-Programm des Congresses standen, und namentlich die Abstimmung über die zu fassenden Resolutionen stehen solle. Um 3 Uhr Nachmittags wird die Sitzung aufgehoben.

* * *

Anmerkungen des Herausgebers

1. Die Devise der Republik lautet bekanntlich: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!

2. Leider auch in anderen Ländern

 

 


Zuletzt aktualisiert am 26. Dezember 2022