Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




III. Der Anbruch der Revolution


„Man hat uns belogen und betrogen“. Das waren die Worte, die der konservative Parteiführer von Heydebrand verzweifelnd ausgerufen haben soll, als sein Fraktionskollege Graf Westarp, dem der stellvertretende Reichskanzler von Payer nebst je einem Vertreter der anderen Parteien in einer schnell einberufenen vertraulichen Konferenz die Hiobspost vom Zusammenbruch der Armee mitgeteilt hatte, diese der Fraktion überbrachte. Mit größerem Recht als der weiland ungekrönte König und seine Freunde konnte und kann es die breite Masse des deutschen Volkes von sich sagen. Wie sie über die Entstehung des Krieges und seinen Verlauf während dessen Dauer systematisch belogen und betrogen worden ist, so auch noch heute. Und zwar sind es Parteigenossen des Herrn von Heydebrand, die jetzt in diesem Lügenfeldzug das Maßloseste leisten. Noch immer wird dem deutschen Volke in Flugschriften aller Art vorgeflunkert, daß Deutschland 1914 von boshaften und neidischen Gegnern heimtückisch zum Kriege „gezwungen“ worden – manche lügen noch frecher und behaupten rundweg überfallen worden sei. Noch immer wird ihm der Krieg so geschildert, als ob deutscherseits nur Siege erfochten und höchstens gelegentlich zu weit vorgedrungene Truppen aus strategischen Gründen „zurückgenommen“ worden seien. Nicht nur in der 1915 bei Reclam erschienenen Kriegschronik des Generalmajors Metzler wird die mehrtägige große Schlacht an der Marne, die zu den entscheidenden Schlachten der Weltgeschichte gehört, auf diese Weise vollständig verschwiegen, auch in der im November 1919 erschienenen Broschüre des Geheimen Studienrates Jaenicke Weltkrieg, Revolution, Verfassung wird der ununterrichtete deutsche Leser mit folgenden unwahren Redensarten über die Tatsache der am 12. September 1914 beendeten gewaltigen Niederlage der Armee des deutschen Kronprinzen hinweggetäuscht (die Sperrungen sind von mir. Ed.B.):

„Aber die deutschen Armeen hatten sich zu weit von ihren Versorgungsquellen entfernt. Sie mußten daher an der Marne umkehren, zumal sie hier an der Besatzung von Paris und anderen Reserven Joffres starken Widerstand fanden. Sie machten nach siegreichen Rückzugsgefechten erst hinter der Aisne und Oise halt.“

In ähnlicher Weise wird der Ausgang wichtiger Seegefechte ins Gegenteil umgedeutet. Vom Treffen am Skagerak (31. Mai 1916), das damit endete, daß die deutsche Flotte unter dem Scnutze des Nebels das Feld räumte, heißt es: „Die Engländer verkündeten ihre offenbare Niederlage aller Welt als einen großen Sieg!“ Tatsächlich war das Umgekehrte geschehen. Die englische Führung hatte zuerst nur freimütig ihre Verluste an Schiffen gemeldet und sich jeder Bemerkung über Sieg oder Niederlage enthalten, während die deutsche einen glänzenden Erfolg meldete und solange behauptete, kein einziges großes Schiff verloren zu haben, bis an die norwegische Küste getriebene Trümmer sie nötigten, den Verlust des Schlachtschiffes Pommern einzugestehen.

Mit solchen falschen Darstellungen kann man aber nur begrenzte Wirkungen erzielen. Am ehesten versagen sie gegebenenfalls bei den Truppen. Dort spricht sich die Wahrheit naturgemäß schneller herum als in der Zivilbevölkerung. Wie in der Landarmee selbst erkennt man mit Herbstanbruch 1918 in den Reihen der Marinesoldaten, daß der Krieg verloren ist, daß jedes Angriffsunternehmen nutzloses Opfern von Menschen bedeutet und den notwendigen Friedensschluß widersinnig verzögert. Die Kunde, daß die Leitung der Marine es auf eine neue Seeschlacht im größten Stil ankommen lassen will, um zum mindesten den Engländern den Verlust eines möglichst großen Teils ihrer Flotte zu verursachen, bringt gegen Ende Oktober 1918 die Besatzung der bei Kiel stationierten deutschen Kriegsschiffe in große Erregung und veranlaßt am 28. Oktober die Besatzung des Linienschiffes Markgraf zur ersten größeren Auflehnung. Sie verweigert das Ankerlichten und verhindert durch Besetzen der Windemaschinen das Auslaufen des Schiffes. Als andre Schiffe durch den Nordostseekanal nach Cuxhaven und von dort nach dem Jahdebusen geleitet werden, bemächtigt sich der Mannschaften gleichfalls die Überzeugung, es handle sich um einen Verzweiflungsstreich, der nur Menschenverluste und Verschlimmerung der Friedensbedingungen zur Folge haben könne. Auf einem Schiff nach dem anderen wiederholt sich die Weigerung auszufahren. Noch ist es indes keine revolutionäre Bewegung. Die Besatzungen verschiedener Schiffe haben folgenden Entschluß gefaßt und bekannt gegeben:

„Greift der Engländer uns an, so stellen wir unsern Mann und verteidigen unsere Küsten bis zum äußersten, aber wir selbst greifen nicht an. Weiter als bis Helgoland fahren wir nicht. Andernfalls wird Feuer ausgemacht.“

So sprechen keine Aufrührer. Allerdings hatte es auf einigen Schiffen schon im Jahre vorher Kundgebungen von Matrosen gegeben, die sich der unabhängigen Sozialdemokratie zurechneten, und brutal genug waren sie unterdrückt worden, um den Opfern der Repression die Sympathien der Kameraden zuzuwenden. Aber diese Agitation hatte doch nur erst Minderheiten erfaßt und wäre nicht imstande gewesen, zur allgemeinen Revolte zu führen, wenn nicht auch sonst sich reichlich Stoff zu solcher aufgehäuft hätte und durch Repressionsmaßnahmen zum Entflammen gebracht worden wäre.

Am 30. und 31. Oktober erfolgt auf verschiedenen Schiffen unter Nichtbeachtung des obigen Beschlusses der Befehl zum Ankerlichten und wird jenem gemäß mit dem Herausreißen der Feuer unter den Kesseln und anderen Maßnahmen beantwortet, welche eine kriegerische Aktion unmöglich machen. Es erfolgen von Seiten der Vorgesetzten Zurechtweisungen und Drohungen, die auf einigen Schiffen zu Verhaftungen in größerem Maßstabe sich steigern.

Ganz besonders werden mit solchen Massenbestrafungen in Wilheimsharen das Linienschiff „Großer Kurfürst“ und in Kiel, wohin das dritte Geschwader zurückbefohlen war, das Linienschiff Friedrich der Große bedacht. Dies bringt das Ventil zum Platzen.

Am Sonntag, den 3. November 1918, findet in Kiel auf dem großen Exerzierplatz eine von Tausenden Marineangehöriger besuchte und sich dann zu einem großen Zug formierende Protestversammlung statt, welche nach Anhören leidenschaftlicher Reden die Freilassung der Verhafteten fordert. Der Zug wird auf dem Marsch zur Marinearrestanstalt von bewaffneten Maaten und Applikanten angehalten, die ihn zum Auseinandergehen auffordern. Auf die Weigerung hin, dem Folge zu geben, wird scharf geschossen. Acht Personen werden getötet, 29 verwundet, die anderen ergreifen die Flucht, und – am nächsten Tage, den 4. November, ist die ganze Marine in Aufruhr. Offiziere, die sich den Matrosen zu widersetzen versuchen, werden mißhandelt; auf dem Linienschiff König, das die Kriegsflagge führt, kommt es zum Schießen, wobei der Kommandant des Schiffes fällt, und um die Mittagszeit sind die Matrosen die Herren aller Schiffe wie auch des Hafens, und die ganze Garnison von Kiel schließt sich ihnen an. Eine Abteilung Husaren, die von dem Hamburger Vorort Wandsbeck entsandt worden ist, die Aufrührer zur Ruhe zu bringen, muß umkehren.

Nun wird ein Soldatenrat gebildet, und dem Gouverneur von Kiel, der in einem Erlaß die Matrosen aufgefordert hatte, ihm ihre Wünsche zu unterbreiten, wird nach Beratung im Gewerkschaftshaus ein Programm radikaler Forderungen vorgelegt, von denen die wichtigsten lauten:

„Freilassung sämtlicher Gefangenen und politisch Inhaftierten. Vollständige Redeund Preßfreiheit. Sachgemäße Behandlung der Mannschaften und Aufhebung der Grußpflicht. Volle Anerkennung des Arbeiterund Soldatenrates. Offiziere, die sich mit seinen Maßnahmen einverstanden erklären, sollen willkommen sein, andere haben den Dienst ohne Anspruch auf Versorgung zu quittieren. Unterlassung aller Schutzmaßnahmen mit Blutvergießen. Die Maßnahmen zum Schutz des Eigentums trifft der Arbeiterund Soldatenrat. Das Ausfahren der Flotte hat unter allen Umständen zu unterbleiben.“

Der Gouverneur erklärt sich mit einem Teil der Forderungen einverstanden und verschiebt die endgültige Antwort bis zum Eintreffen der auf telegraphisches Ansuchen entsandten und schon auf dem Wege befindlichen Regierungsvertreter. Es sind dies der zum Staatssekretär ernannte Demokrat Haußmann und der Sozialdemokrat Gustav Noske. Das Ergebnis der mit den Genannten gepflogenen Beratungen ist der Entschluß, die Forderungen zu bewilligen. Seine Bekanntgabe wird mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Nach Annahme der Forderungen verpflichten sich die Matrosen, unbedingte Ordnung aufrechtzuerhalten, und willigen in eine Bekanntmachung ein, die verkündet, daß jeder, der beim Plündern betroffen wird, auf der Stelle standrechtlich zu erschießen ist. Haußmann kehrt nach Berlin zurück, Noske erhält Arbeitszimmer im Stationskommando eingeräumt und wird auf Wunsch der Arbeiter faktischer Gouverneur von Kiel. Tags darauf, am 5. November, tritt die Arbeiterschaft Kiels in den allgemeinen Ausstand und bildet Arbeiterräte, denen sich die schon gebildeten Soldatenräte anschließen. Die Stadt des größten deutschen Kriegshafens wie dieser selbst ist in den Händen des Proletariats. Zur Vervollständigung des Ausschusses werden von den Arbeitern zwei Führer der Unabhängigen, die Reichstagsabgeordneten Haase und Ledebour nach Kiel berufen.

Und die Lawine kam in Fluß. Noch am gleichen Tage fahren Kriegsfahrzeuge unter der roten Fahne in Hamburg und Lübeck ein, die sich der Erhebung anschließen. In Lübeck geht die öffentliche Gewalt ohne Blutvergießen in die Hände des Soldatenrats über, in Hamburg kommt es schon am Abend des 5. November nach einer Massendemonstration zu Gunsten der Kieler Beschlüsse zu einem Zusammenstoß mit dem Militär, bei dem geschossen wird. Am 6. November wird ebenfalls in Hamburg vom Militär auf einen Zug in den allgemeinen Ausstand getretener Werftarbeiter, der dem Gebot zum Umkehren nicht Folge leistet, mit Maschinengewehren geschossen, wobei 9 Tote auf dem Platze bleiben. Eine Massenkundgebung, Plünderung der Waffenläden, Erstürmung und Ausraubung der in Altona gelegenen Waffenkammer ist die Folge.

In Lübeck gibt der Soldatenrat am Abend des 5. November den Übergang der öffentlichen Macht in seine Hände in folgendem Aufruf bekannt:

„Seit heute Abend ist Lübecks Macht in unseren Händen. Wir erklären hiermit, daß mit unserer Sache den Kameraden an der Front wie hier in der Heimat gedient ist. Es mußte mit den korruptiven Zuständen und der militärischen Diktatur von gestern gründlich aufgeräumt werden. Der Zweck unserer Sache ist sofortiger Waffenstillstand und Friede. Wir bitten die Bevölkerung Lübecks, größte Ruhe zu bewahren. Es wird von uns nichts unternommen, was die Betriebe zur Aufrechterhaltung der Ordnung stören könnte. Es geht alles seinen alten Gang. Wir erwarten von der Bevölkerung bereitwillige Mitwirkung. Wir können feststellen, daß diese Umwandlungen der militärischen Dinge in Lübeck unblutig verlaufen sind und hoffentlich weiter verlaufen werden. Wir warnen vor Ausschreitungen, Plünderungen und Diebstahl werden mit dem Tode bestraft. Die Lebensmittelverteilung bleibt in den Händen der Zivil Verwaltung.“

Der Soldatenrat

Nicht ohne Zusammenstoß mit Militärs, aber dank dem Übertritt der Mannschaften ohne Blutvergießen, tritt noch am gleichen Tage Bremen dem Aufstand bei. Die militärische Gewalt geht an eine Kommission über, die aus dem Garnisonältesten, zwei Offizieren und vier Vertretern der Mannschaften besteht, so daß die letzteren in ihr die Mehrheit haben. Daneben wird ein Arbeiterrat gebildet.

Am folgenden Tage breitet sich die Bewegung nach Westen – Hannover, Braunschweig, Köln usw. und nach Süden aus, der Hauptstadt Berlin zu. Ehe sie diese erfaßt, sind Magdeburg, Leipzig, Dresden im Aufstand. Ganz Nordwest gerät in die Hände der Arbeiterund Soldafenräte.

Noch ist es aber keine zusammenfassende, auf die Änderung des Ganzen der Verfassung des Reichs gerichtete Revolution, wenngleich es in den Reihen der Kämpfer an Leuten nicht fehlt, die bewußt auf dieses Ziel lossteuern. Keine Massenbewegung vollzieht sich ohne solche Elemente. Der Anstoß zu ihnen geht immer zunächst von einzelnen aus, die, sei es auch nur der Eingebung eines Augenblicks folgend, im gegebenen Zeitpunkt die Parole ausgeben, die nun plötzlich von Mund zu Mund läuft und die Geister entflammt. Wenn nachträglich die verschiedenen sozialistischen Fraktionen über ihr Verdienst an der Erhebung streiten, so werden sie alle ein Stück Recht haben. Sie hatten alle erkannt, daß es beim alten Stand der Dinge nicht bleiben konnte und verbreiteten jede in ihrer Art diese Erkenntnis unter ihren Anhängern. Ohne dies wäre die Allgemeinheit der Bewegung unmöglich gewesen. An den meisten Orten waren die Mehrheitssozialisten die bei weitem stärkere Verbindung, war ihr Einfluß auf die Arbeiterschaft so groß, daß jede Aktion, gegen die sie sich gestemmt hätten, an diesem Widerstand gebrochen wäre. Warum er unterblieb, zeigt ein Blick auf die Vorgänge im Reichstag und der Regierung in den Wochen seit dem Eintreffen der Verzweiflungspost des großen Generalstabs.

Daß die Matrosen richtig gesehen hatten, bestätigt der aus Regierungsstellen unterrichtete Mehrheitssozialist Friedrich Stampfer in seiner Gedenkschrift Der 9. November (Berlin 1919, Vorwärts-Buchhandlung). Er schreibt dort:

„Später stellte sich heraus, daß die Matrosen recht gehabt hatten, wenn sie an den harmlosen Charakter der angeblichen Manövrierfahrt nicht glaubten. Es war beabsichtigt gewesen, die Flotte bei Helgoland hinter einer Sperrkette von U-Booten aufmarschieren zu lassen, um die Engländer, herauszulocken und den U-Booten Gelegenheit zum Angriff auf sie zu geben. Der Plan zu einer Seeschlacht großen Stils! Und dieser Plan war erdacht worden und sollte ausgeführt werden, nachdem Deutschland unter lebhafter Beteuerung seines Abscheus vor weiteren nutzlosen Opfern um Waffenstillstand und Frieden ersucht hatte! Die Urheber dieses soldatisch tapferen aber politisch idiotischen und verbrecherischen Planes versicherten später treuherzig, sie hätten dadurch, daß sie die ungebrochene Macht der deutschen Flotte zeigten, Deutschlands Stellung bei den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen – verbessern wollen.“

Tatsächlich hätte die Ausführung des Planes selbstverständlich die entgegengesetzte Wirkung gehabt, sie hätte die Bedingungen für Deutschland noch verschlechtert. Die Rückwirkung der den gleichen Gedankengängen entsprungenen Versenkung der bei Skapa Flow internierten deutschen Kriegsschiffe hat das zur Genüge bewiesen. Mit Recht heißt es daher bei Stampfer weiterhin:

„Die Mannschaften bewiesen vielmehr gesunden Menschenverstand und politischen Instinkt, indem sie ihre Beteiligung an der geplanten Abschiedsvorstellung mit großer Energie ablehnten. Wenn es wahr ist, daß jedes Recht an seinem offenbaren Mißbrauch seine Grenze findet, so war das Befehlsrecht der Vorgesetzten hier an dieser Grenze angelangt.“

Die Revolution war Notwendigkeit geworden.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008