Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




IV. Regierung und Sozialdemokratie von Anfang Oktober bis zum 9. November 1918


Wie die Meinungsverschiedenheiten in der Sozialdemokratie Deutschlands hinsichtlich des Verhaltens im Kriege zu deren Spaltung geführt haben, muß in dieser Schrift als bekannt vorausgesetzt werden. Die Wirkung der Spaltung war gewesen, daß derjenige Flügel der Sozialdemokratie, der sich für gebunden hielt, der Reichsleitung die Kriegskredite zu bewilligen, dadurch in eine zweideutige Stellung ihr gegenüber geriet. Er konnte ihr die Mittel zur Kriegsführung nicht bewilligen, ohne seiner gegen ihre Methoden der Kriegsführung gerichteten Kritik die Wirkungskraft zu entziehen, wodurch diese Kritik einen Stich ins Unreale erhielt. Von den Gegnern der Kriegskreditbewilligung wiederum wurde ein Teil zu Gegnern der alten sozialdemokratischen Politik überhaupt und nahm die Ãœberlieferungen der unmittelbar auf den politischen Umsturz gerichteten blanquistischen Bewegung auf. Die Kluft zwischen den Kreditbewilligern und den Kreditverweigerern erweiterte sich. Diese aber, deren linker Flügel zu Ostern 1917 sich als Partei der unabhängigen Sozialdemokratie konstituiert hatte, zerfielen in Sozialdemokraten und Anhänger des blanquistisch-revolutionären Spartakusbundes oder der gleichfalls antireformistischen Gruppe Internationale.

Nicht nur im Reichstag, sondern auch im Lande selbst waren die Kreditbewilliger damals die große Mehrheit. Sie verfügten über mehr als dreiviertel der sozialdemokratischen Zeitungen – teils vom Anfang des Konflikts an, teils durch Ausnutzung des Kriegszustandes zur Ãœbernahme von in den Händen der Opposition befindlichen Organen – und konnten so auf die Arbeiter ohne Unterlaß in ihrem Sinne einwirken, während die Opposition nur in einzelnen Wahlkreisen über eigene, obendrein von der Zensur arg drangsalierte Blätter verfügte und in der Hauptsache auf die unterirdische Propaganda angewiesen war, was beiläufig nur dazu beitragen konnte, für konspirative Tendenzen Stimmung zu machen.

An Erklärungen zu Gunsten eines Verständigungsfriedens hatten es die Mehrheitler von Anfang an nicht fehlen lassen. Doch konnten diese auf die Sozialisten der Ententeländer keinen Eindruck machen, solange sie nur Begleitmusik waren zur Bewilligung von Kriegskrediten an eine Regierung, in der jene nicht mit Unrecht die Urheberin des Krieges erblickten. Ebenso ging es mit den Reden für einen solchen Frieden, die der redegewandte Führer der Mehrheitssozialisten, Philipp Scheidemann, vom Sommer 1916 ab in großen Versammlungen hielt und dann als Broschüren veröffentlichte. Auch von ihnen gilt das Obengesagte, daß sie im gegnerischen Lager nicht für wahr genommen wurden. Mehr Beachtung fand die parlamentarische Aktion für den Frieden, welche die Mehrheitssozialisten im Verein mit der Zentrumspartei und der fortschrittlichen Volkspartei im Juli 1917 unternahmen. Aber auch diese Aktion verfehlte ihre Wirkung, mußte sie verfehlen, weil sie nicht von einem so starken Druck auf Wilhelm II. begleitet war, daß dieser unmöglich das lächerliche Zwischenspiel mit Herrn Michaelis, dem Reichskanzler nach dem Herzen der Heeresleitung, dem Reichstag bieten durfte. Warum auch dessen Nachfolger Graf Hertling nicht der Mann war, die gegnerischen Mächte davon zu überzeugen, daß die Herrschaft der Militaristen in Deutschland ausgespielt sei, ward im vorigen Kapitel bemerkt. Zu dem mit allen schönen Erklärungen vom Rechtsfrieden in Widerspruch stehenden Frieden von Brest-Litowsk kam unter seiner Kanzlerschaft das zweideutige Spiel mit der Ukraine, das die Möglichkeit eines allgemeinen Friedensschlusses immer weiter hinausschob, ward zuhause der Belagerungszustand verschärft und aus Furcht vor den Konservativen die fällig gewordene Wahlrechtsform für Preußen solange von neuem vertagt, bis der Zusammenbruch der Westarmee und die bestimmten Erklärungen der Regierungen der Entente sowie des Präsidenten Wilson, unter keinen Umständen mit einer Regierung Wilhelms II. Frieden zu schließen, eine revolutionäre Situation in Deutschland schufen. Durch in erster Linie gegen die Entente gerichtete Veröffentlichungen der bolschewistischen Regierung Rußlands aus den zarischen Geheimarchiven war auch Wilhelm II. so bloßgestellt, daß er international geradezu unmöglich geworden war. Sein mit Nicolaus II. zur Zeit des russisch-japanischen Krieges geführter Briefwechsel, wo er den Zaren gegen das gleichzeitig umschmeichelte England aufzustacheln suchte, ward allgemein als Beweis einer selbst für Personen in seiner Stellung seltenen Doppelzüngigkeit aufgenommen.

Um die Situation zu verbessern, nahm Hertlings Nachfolger im Amt, Prinz Max von Baden, Anfang Oktober 1918 neben Vertretern der fortschrittlichen Volkspartei und der Zentrumspartei auch zwei Mehrheitssozialisten in sein Kabinett auf, nämlich Gustav Bauer als Staatssekretär für ein einzurichtendes Reichsarbeitsamt und Philipp Scheidemann als Staatssekretär ohne besonderes Amt („ohne Portefeuille“). Indes täuschte er sich, wenn er vermeinte, dadurch den Thron retten zu können. Die beiden Sozialdemokraten hatten zwar in Ãœbereinstimmung mit ihrer Fraktion den Eintritt in die Regierung lediglich von der Verpflichtung dieser auf ihr Friedensprogramm, sowie von der Ausgestaltung der Reichs Verfassung im Sinne der Erhebung der Volksvertretung zur ausschlaggebenden Macht, der radikalen Demokratisierung des Wahlrechts und ähnlichen Reformen abhängig gemacht, die mit einer konstitutionellen Monarchie noch zur Not vereinbar waren, und verlegten ihre Tätigkeit demgemäß in erster Linie darauf, die schnellste Erzielung des Waffenstillstandes und der Ausarbeitung der betreffenden Gesetzentwürfe und deren parlamentarische Erledigung zu erwirken. Es war aber klar, daß es sich für sie nicht um die Sicherung des Thrones oder der Dynastie, sondern nur um die Rettung des deutschen Volkes und die schleunige Herbeiführung des Friedens handelte. Als Wilson im Laufe des Oktober 1918 rundheraus zu verstehen gab, daß mit Wilhem II. kein Friede gemacht werden würde, ertönte daher zunächst in der sozialdemokratischen Mehrheitspresse immer energischer der Ruf nach dessen Rücktritt; und als dieser auf sich warten ließ, richtete Scheidemann Ende Oktober ein Denkschreiben an den Reichskanzler, worin er ihm eingehend darlegte, daß der Verzicht Wilhelms II. auf die Krone unerläßlich geworden sei, solle Deutschland nicht verderblichster Zerrüttung anheimfallen. So leicht war jedoch der Hohenzoller nicht zum Rücktritt zu bewegen. Die unmittelbare Wirkung des Schreibens war vielmehr nur die, daß Wilhelm II. am 30. Oktober 1918 Berlin verließ und sich ins große Hauptquartier begab, wo er sich gesichert glaubte.

Vorher hatte er noch – am 28. Oktober – den in den Reichstagssitzungen vom 22. bis 26. Oktober beratenen und zum Beschluß erhobenen Gesetzentwürfen über die volle Parlamentarisierung der Reichsregierung die verfassungsmäßig notwendige Unterschrift gegeben. Zugleich hatte sich die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion durch den Hinweis auf die Gefahr, daß eine Erzwingung des Rücktritts Wilhelms II. eine Gegenbewegung in den Einzelstaaten hervorrufen und Deutschland in anarchische Zustände versetzen könne, dazu bewegen lassen, die Frage der monarchischen Spitze noch zurückzustellen. Einig aber war man darin, daß die Tage der Kaiserschaft Wilhelms II. gezählt seien, und daß dessen Sohn Wilhelm erst recht unmöglich geworden sei. Im Hauptquartier zu Spaa angelangt, erklärte Wilhelm II. seinerseits dem Minister Drews, der ihm nachgereist war, um ihm von Scheidemann’s Denkschrift Mitteilung zu machen, sein Rücktritt würde die Auslieferung Deutschlands an die Entente bedeuten und furchtbare Zerrüttung nach sich ziehen, er könne es daher nicht verantworten zurückzutreten, sondern werde in seinem Amt verharren. In den oberen Militärkreisen wiederum spielte man mit der hirnverbrannten Idee, mit Hilfe zuverlässiger Truppen erneut zum Widerstand überzugehen, da Deutschland „noch nicht besiegt“ sei. Für ein solches Unternehmen wäre natürlich das Wort Hazardspiel noch zu mild gewesen. Verbrecherischer Wahnsinn war das richtige Wort.

Der Aufstand der Marinemannschaften und die sich an ihn anschließenden Erhebungen in den Hafenstädten machten nun durch alle derartigen Pläne kopflos gewordener Militärs einen dicken Strich. Sobald sie in ihrem Umfang und Charakter erkannt wurden, was freilich einige Tage dauerte, da der noch unter militärischer Zensur stehende Telegraf zuerst nur sehr abgeschwächte Meldungen über sie brachte, fanden sie im Lande allerorts in der Arbeiterschaft stärksten Widerhall. Wie nur natürlich, regten sich mit besonderem Eifer die Mitglieder des Bundes der Spartakusgruppen und die mit ihnen in Verbindung stehenden radikaleren Elemente der unabhängigen Sozialdemokratie.

Der Spartakusbund hatte am 7. Oktober 1918 in Gotha eine Konferenz abgehalten, auf der er sich für die Politik der russischen Bolschewisten – diktatorische Regierung durch Arbeiterund Soldatenräte – entschied und allerorts für die Bildung solcher Räte zu arbeiten beschloß. Obwohl an Mitgliedern nicht sonderlich stark, war er unter den gegebenen Umständen doch ein beachtenswerter Faktor. In gespannter Situation kann auch eine kleine Minderheit, der ein bestimmter Wille und eine gute. Dosis Entschlußkraft innewohnen, eine erhebliche Wirkung ausüben. An letzteren Eigenschaftei fehlte es den meist jugendlichen Spartakusanhängern nicht, und da sie an verschiedenen Orten von Bedeutung vertreten waren und ihnen nun eine bestimmte Aktion vorgezeichnet war, die alsbald in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte, wird man ihre Einwirkung auf den Ausbruch der Revolution und die ersten Äußerungen der aufgebotenen Massen nicht als unwesentlich einschätzen dürfen. Gewiß ist die bolschewistische Doktrin nur der Phrase nach marxistisch, im Wesen aber blanquistisch. Indes die blanquistische Auffassung ist, wie Schreiber dieses schon 1899 in der Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus“ dargelegt hat, nicht in allen Punkten falsch. Sie hat unter bestimmten Voraussetzungen für begrenzte politische Zwecke ihre Richtigkeit, und auf Grund ihrer unternommene Aktionen haben daher auch manche Erfolge zu verzeichnen gehabt. Hier aber waren für eine solche Aktion alle Voraussetzungen gegeben.

In Karl Liebknecht, den die neue Regierung am 21. Oktober aus dem Zuchthaus befreit hatte, zu dem ihn das Reichsmilitärgericht im Jahre 1916 für dieselbe Handlung verurteilt hatte, wegen deren ein Jahr darauf dem nun gleichfalls befreiten Wilhelm Dittmann nur Festungshaft auferlegt ward, hatte der Spartakusbund einen Führer von außergewöhnlicher Energie und Arbeitskraft. Auch die gleichfalls aus der Schutzhaft freigegebene Rosa Luxemburg stellte ihm ihre Dienste zur Verfügung. Geldmittel, die zum Teil zum Ankauf von Waffen verwendet wurden, flössen ihm durch die Berliner Botschaft der Bolschewistischen Regierung Rußlands zu. Ãœberhaupt hatte diese Botschaft große Summen aufgewendet, eine revolutionäre Propaganda in ihrem Sinne in Deutschland zu fördern. Es wurden durch ihre Kuriere in Rußland in deutscher Sprache gedruckte Aufrufe und Flugschriften, die zur Revolution aufforderten, in Deutschland eingeschmuggelt und an Mittelspersonen behufs Aushändigung an Spartakisten und andere revolutionäre Sozialisten versandt. Die Tatsache kam dadurch an den Tag, daß am 4. November 1918 am Anhaltischen Bahnhofe in Berlin einem gerade ankommenden dieser Kuriere eine mit solcher Literatur angefüllte Kiste infolge eines Stoßes zur Erde fiel und platzte, wobei der Inhalt, darunter zu Attententaten und Terror auffordernde Flugblätter, zum Vorschein kam.

Da nach dem geltenden Völkerrecht die den Botschaftern und ihrem Personal zugesicherten Privilegien – die sogenannte Exterritorialität – zur Gegenbedingung die Verpflichtung haben, sich jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Gastlandes streng zu enthalten, nahm die Regierung die nunmehr amtliche Feststellung des schon wiederholt in bürgerlichen Blättern zur Sprache gebrachten Zuwiderhandelns gegen jene Verpflichtung zum Anlaß, den diplomatischen Verkehr mit der bolschewistischen Regierung abzubrechen. Dem Botschafter Joffe und seinem Stab wurden sofort die Pässe eingehändigt, sodaß sie am 6. November 1918 Berlin verließen. Von Moskau aus hat Joffe etwas später Erklärungen veröffentlicht, in denen er die ihm vorgeworfenen Handlungen in der Hauptsache zugab und es als sein Verdienst rühmte, auf diese Weise am Sieg der inzwischen in Deutschland ausgebrochenen Revolution mitgewirkt zu haben. An diese Feststelhingen knüpfte er Bemerkungen, die so verstanden werden konnten und auch dahin ausgelegt wurden, daß führende Mitglieder der unabhängigen Sozialdemokratie von ihm Gelder zu gleichen Zwecken, das heißt zur konspirativen Organisierung der Revolution erhalten hatten. Davon war indes nur soviel richtig, daß Gelder, die der am 10. November Volksbeauftragter gewordene Emil Barth Mitte Oktober in seiner Eigenschaft als besonders tätiges Mitglied revolutionärer Gruppen von deutschen Gesinnungsgenossen für den Ankauf von Waffen erhalten hatte, in der Tat von Joffe herrührten und Barth darum gewußt hat. Joffe’s einige Tage später abgegebene Erklärung, daß er am Abend vor seiner Abreise aus Deutschland, das heißt am Abend des 5. November 1918, dem Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratie Oskar Cohn, der Rechsbeistand der russischen Botschaft gewesen war, 150.000 Mark und 150.000 Rubel zur „Förderung der Revolution“ gegeben habe, ward von diesem mit dem Bemerken rückhaltlos bestätigt, er habe gemäß seiner Ãœberzeugung, daß die Parteien der sozialistischen Internationale einander unterstützen müßten, das Geld „gern entgegengenommen“ und „seinem Zweck, die Verbreitung des Gedankens der Revolution, zugeführt“, mit den zum Ankauf von Waffen gegebenen Summen habe das jedoch nichts zu tun. Dem von Joffe als Mitwisser genannten Vorsitzenden der Unabhängigen Sozialdemokratie Hugo Haase gegenüber konnte ersterer dagegen nur aufrecht erhalten, daß er mit ihm politische Gespräche geführt und ihm politisches Material zu Reichstagsreden geliefert habe, was Haase um so eher zuzugeben in der Lage war, als er selbst schon öffentlich davon gesprochen hatte.

Der Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratie veröffentlichte am 10. Dezember 1918 in dem Organ der Partei eine Erklärung, deren entscheidende Stelle wie folgt lautet:

„Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat schon vor Monaten, längst vor der Revolution, beschlossen gehabt, Gelder, die aus russischen Quellen herrühren könnten, zurückzuweisen, da sie stets die Auffassung vertrat, daß aus fremden Staaten stammende Mittel nicht in den Dienst der Parteipropaganda gestellt werden sollten. Die Partei hat diesen Beschluß dann kürzlich noch einmal erneuert. Wir müssen die Unterstellungen des Herrn Joffe aufs Entschiedenste zurückweisen, die nur dazu dienen können, der sozialistischen Bewegung in Deutschland Schwierigkeiten zu bereiten und die Durchsetzung ihrer Ziele zu behindern.“

Damit sei die Sache für die Partei selbst erledigt, es sei nur noch Sache der von Joffe genannten Personen, zu dessen Behauptungen Stellung zu nehmen.

Grundsätzlich muß zu der Angelegenheit folgendes bemerkt werden: Es gibt keinen politischen Sittenkodex, der einer Partei verbietet, von einer ausländischen Bruderpartei Unterstützungen anzunehmen. Wie weit sie darin gehen will, bleibt ihrem eigenen Schicklichkeitsgefühl überlassen. Gründe der Reinlichkeit des politischen Lebens und der guten internationalen Beziehungen der Völker sprechen jedoch dafür, hierin sich auf Beiträge für die Propaganda von Ideen und die Unterstützung Verfolgter zu beschränken und, wo nicht zwingende Notwendigkeiten dagegen sprechen, das, was man tut, öffentlich zu tun. Wie die Sozialdemokratie die Geheimdiplomatie und die geheimen Machenschaften, Aufwiegeleien und so weiter des alten Systems verwirft, so muß sie sich selbst Öffentlichkeit ihres Handelns zum Gebot machen und von Konspirationen in anderen Ländern Abstand nehmen. Die deutsche Revolution ist ohne die mit russischem Gelde angeschafften Waffenlager gekommen. Diese konnten, da man solche Lager nicht lange verborgen halten kann, nur dazu verleiten, die bewaffnete Erhebung zu einem Zeitpunkt schon zu versuchen, wo sie mangels der nötigen Stimmung der Volksmasse mit Fehlschlag geendet hätte. Auch ist der Mißbrauch der völkerrechtlichen Ausnahmestellung von Botschaftern und Botschaftsmitgliedern zur Finanzierung und Anzettelung von Konspirationen im Gastlande aus allgemeinen Gesichtspunkten zu verwerfen. Die Sozialdemokratie hat das Völkerrecht, das internationale Gesetz für die guten Beziehungen der Nationeii zu einander, nicht nach rückwärts, sondern nach vorwärts zu entwickeln, Treu und Glauben zwischen den Nationen nicht zu untergraben, sondern zur höchsten Wahrheit zu machen. Es ist eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Bolschewismus, daß maßgebende seiner Führer unbedenklich über die elementarsten Grundsätze des internationalen Sittengesetzes sich hinweggesetzt haben, wenn sie dadurch ihre Zwecke zu fördern meinten. Daß, wenn man in diesen Dingen gewisse Schranken durchbricht, es schließlich hinsichtlich des Zuwiderhandelns gegen Treu und Glauben keinen Halt mehr gibt und, was man erst nur kapitalistischen Regierungen antat, nun später auch demokratischen und sozialistischen Regierungen gegenüber praktiziert wird, wenn sie nicht nach Wunsch handeln, haben unter anderen Österreich und Ungarn erfahren müssen. Genutzt hat es der Arbeiterklasse nirgends, es hat nur dazu beigetragen, die Korruption der Moral und die Mißachtung des Menschenlebens international zu verschärfen. Obendrein ist es zweierlei, ob eine Partei einer anderen von ihren eigenen Mitgliedern aufgebrachte Mittel zuwendet oder Staatskassen zu diesem Zweck schröpft.

Im Oktober und in den ersten Novembertagen 1918 hatte die Agitation der Spartakusleute in Deutschland um so eher Erfolge zeitigen können, als auch die Presse der Mehrheitssozialisten eine immer revolutionärere Sprache anstimmte. Aus der Weigerung Wilsons und der Entente, mit einer Regierung Wilhelms II. zu verhandeln, zog sie mit anerkennenswerter Schärfe die politischen Folgerungen. Einige Provinzblätter, geführt von der Fränkischen Tagespost in Nürnberg, die sich allerdings etwas freier bewegen durfte als damals der am Sitz der Militärzensur erscheinende Vorwärts, machten den Anfang und forderten die Absetzung Wilhelms II. Noch schien dies Vorgehen so unerhört, daß bürgerliche Blätter voller Entrüstung Protest erhoben und Einschreiten der Militärbehörden verlangten. Diese hatten indes schon ihr Selbstvertrauen eingebüßt und zauderten, in der sozialdemokratischen Partei aber mehrten sich die Rufer und fanden bald im Vorwärts einen Mitstreiter, der sich der zu leistenden Aufgabe in vollem Maße gewachsen zeigte. Kaum jemals vorher hat er in Leitartikeln von großer politischer Schärfe und Ãœberzeugungskraft das Gebot der Stunde für das deutsche Volk so eindringlich dargelegt als in jenen Tagen. Sein Absatz stieg denn auch in kurzer Zeit bis zu einer Höhe, daß er zeitweilig das verbreitetste Blatt Berlins war. Unter dem Einfluß seiner Artikel ward es der breiten Volksmasse klar, daß die Frage nunmehr so stand: entweder das deutsche Volk oder Wilhelm II. Mit Entsetzen wurden die Leiter der Militärzensur dessen inne und versuchten durch ein Verbot der weiteren Behandlung dieser Frage in der Presse die Hohenzollern-Krone zu retten. Da schrieb Ph. Scheidemann am 28. Oktober 1918 den schon erwähnten Brief an den Reichskanzler, worin er als Mitglied des Kabinetts und im Namen der sozialdemokratischen Partei selbst die Abdankung Wilhelms II. forderte; er erhob gleichzeitig Protest gegen die Eingriffe der Militärzensur in das Recht der freien Meinungsäußerung und verlangte Abhilfe. Der gerade bettlägerige Kanzler bat um einige Tage Aufschub, weil er zunächst mündlich mit Wilhelm II. über diese Frage verhandeln wollte, wozu es jedoch, da jener nun schleunigst ins Hauptquartier verschwand, nicht mehr gekommen ist.

Dann trafen die Nachrichten von der Bewegung unter den Mannschaften der Marine im Reichskanzleramt ein. Wie im dritten Kapitel mitgeteilt, entsandte die Regierung am 4. November den demokratischen Staatssekretär Haußmann und den sozialdemokratischen Abgeordneten Gustav Noske nach Kiel, mit den Aufständischen zu verhandeln. Die Abgesandten konnten aber dort nur den Sieg dieser letzteren feststellen, als deren Vertrauensmann Noske in Kiel zurückbleibt und die Funktionen des Gouverneurs übernimmt. Am 6. November fassen der nach Berlin einberufene Parteiausschuß und die Reichtagsfraktion der Mehrheitssozialisten nach längerer Beratung einstimmig folgende Entschließung:

„Fraktion und Parteileitung fordern, daß der Waffenstillstand ohne jede Verzögerung durchgeführt werde. Die Fraktion und der Parteiausschuß fordern weiter die Amnestie für militärische Vergehen und Straffreiheit der Mannschaften, die sich gegen die Disziplin vergangen haben. Sie fordern unverzüglich Demokratisierung der Regierung sowie der Verwaltung Preußens und der anderen Bundesstaaten. Die Reichstagsfraktion und der Parteiausschuß beauftragen die Parteileitung, dem Reichskanzler mitzuteilen, daß die Fraktion und der Partei ausschuß den von der Parteileitung in der Kaiserfrage unternommenen Schritt entschieden billigen und unterstützen und eine schnelle Regelung dieser Frage fordern.“

Diese Forderungen werden der Regierung übermittelt, angesichts der Unschlüssigkeit im Hauptquartier und des dadurch bedingten Zauderns des Reichskanzlers wird Tags darauf, am 7. November nachmittags 5 Uhr diesem von der Parteileitung der Mehrheitssozialisten durch Ph. Scheidemann folgendes Ultimatum zugestellt:

Die sozialdemokratische Partei fordert,

  1. daß die Versammlungsverbote für heute (die vom Oberkommando

  2. daß Polizei und Militär zur äußersten Zurückhaltung angehalten verfügt waren) aufgehoben werden,

  3. daß die Preußische Regierung sofort im Sinne der Reichtagsmehrheit umgestaltet wird,

  4. daß der sozialdemokratische Einfluß in der Reichsregierung verstärkt wird,

  5. daß die Abdankung des Kaisers und der Thronverzicht des Kronprinzen bis zum 8. November mittags bewirkt werden.

Werden diese Forderungen nicht erfüllt, so tritt die Sozialdemokratie aus der Regierung aus.

Mit Ausnahme der beiden konservativen Fraktionen samt Anhang erkannten auch die bürgerlichen Parteien an, daß der Rücktritt Wilhelms II. unabweisbar geworden war, und ließen das den Reichskanzler wissen. Dieser bietet dem Kaiser seine Entlassung an, da auch er die Abdankung für notwendig halte und nicht Kanzler bleiben könne, wenn der Kaiser anderer Meinung sei. Er wird aber von jenem veranlaßt, noch einige Tage im Amt zu bleiben, bis dessen Entscheidung gefallen sei, was in kürzester Frist geschehen werde. Offenbar hatten Wilhelm II. und seine Leute von den Vorgängen in den Hafenstädten Kunde erhalten und wollten erst abwarten, ob die Flut weiter steigen oder sich noch einmal verlaufen werde. In der Tat gelang es, durch den Hinweis darauf, daß der Abschluß des Waffenstillstandes vor der Tür stehe und durch einen Regierungswechsel einen Aufschub erleiden könne, die Führer der Mehrheitssozialisten zu bewegen, ihren Austritt aus der Regierung und die Frist ihres Ultimatums wegen Rücktritt des Kaisers und Verzicht des Kronprinzen auf einige Tage zu verschieben. Ein vom 8. November datierter Aufruf von Parteivorstand und Reichstagsfraktion teilt dies den Parteigenossen und der breiten Arbeiterschaft mit. Er stellt fest, daß ein Teil der an die Regierung gestellten politischen Forderungen erfüllt seien, weist auf die unvermeidliche Verzögerung des Abschlusses des Waffenstillstandes hin und fährt dann fort:

„Deshalb haben Parteivorstand und Reichstagsfraktion die gestellte Frist bis zum Abschluß des Waffenstillstandes verlängert, um erst das Aufhören des Blutvergießens und die Sicherung des Friedensschlusses herbeizuführen.

Sonnabend Vormittag treten die Vertrauensmänner der Arbeiter erneut zusammen.

Arbeiter! Parteigenossen! Es handelt sich also nur um einen Aufschub von wenigen Stunden.

Eure Kraft und Eure Entschlossenheit vertragen diesen Aufschub.

Der Vorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands und die Reichstagsfraktion.“

Aber die Flut war im Steigen und ließ sich durch nichts mehr aufhalten, der Aufstand rückte der Hauptstadt fast stündlich näher. In München und in Braunschweig war sogar schon die Republik verkündet. Als am Abend des 8. November noch keine bestimmte Antwort aus dem Hauptquartier vorlag, erklärten die sozialdemokratischen Mitglieder der Regierung – neben Bauer und Scheidemann waren zuletzt noch Ed. David, August Müller und Robert Schmidt in diese berufen worden – ihren Austritt, und die Parteileitung der Mehrheitssozialisten, die sich in dieser Zeit in enger Fühlung mit den Berliner Funktionären der Partei und anderen Vertrauensleuten der Arbeiterschaft gehalten hatte, versammelte diese noch am gleichen Abend zu einer Beratung der Frage um sich, ob ein weiteres Warten noch angängig sei. Die Antwort fiel verneinend aus. Es ward beschlossen, wenn am Morgen des 9. November die Abdankung noch nicht erfolgt sei, den Generalstreik zu verkünden, zu dessen Leitung auch sofort ein zwölfgliedriger Ausschuß gewählt wurde.

Auch die Leitung der Unabhängigen Sozialdemokratie und die Vertrauensmänner des Spartakusbundes trafen Vorkehrungen für Massenerhebungen. Die letzteren verfügten, wie oben mitgeteilt, über Waffen, zu deren Ankauf ihnen von bolschewistischer Seite Gelder zugewandt waren, und die man an geeignet erscheinender Stelle aufbewahrt hatte, um sie gegebenenfalls im Kampf mit der bewaffneten Macht des alten Regimes zu verwenden. Sie gingen indes dabei ihre eigenen Wege, wie sie ihnen das Vorbild der Bolschewisten vorzuschreiben schien. Ähnlich behielt sich die Unabhängige Sozialdemokratie eigene Aktionen vor. Versuche, wenigstens die beiden sozialdemokratischen Fraktionen zu gemeinsamem Vorgehen in der Friedensfrage zusammenzubringen, waren kurze Zeit vorher fehlgeschlagen.

Diese Versuche waren im Sommer 1918 ausgegangen von der Ortsverwaltung Berlin des deutschen Metallarbeiterverbandes und knüpften an eine politische Streikbewegung an, die Ende Januar 1918 in Berlin wie auch an anderen Orten Deutschlands zum Zweck der Beschleunigung des Friedens ausgebrochen war, aber von der Polizei mit Aufgebot von Militär noch hatte unterdrückt werden können. Um in den Fabriken den endlosen Streitereien zwischen den Anhängern der beiden sozialdemokratischen Parteien wegen der Gründe des Mißerfolges jener Streikbewegung eine Grenze zu setzen, beschloß die Ortsverwaltung, an die Leitung der beiden Parteien wegen einer neuen, die Gesamtheit der Arbeiter umfassenden Demonstration heranzutreten. Am 13. Juli ward mit dem Parteivorstand der Mehrheitssozialisten, am 29. Juli mit der Parteileitung der Unabhängigen Sozialdemokratie verhandelt. Bei beiden stieß man auf grundsätzliche Bereitwilligkeit, an der Organisierung und Leitung einer Massenaktion für den Frieden und die demokratischen Volksrechte sich zu beteiligen, doch erwies es sich als unmöglich, die beiden Parteien zusammenzubringen. Als nach etlichen Vorverhandlungen am 29. August 1918 an den Partei vorstand der sozialdemokratischen Partei die schon vorher (am 29. Juli) der Parteileitung der Unabhängigen vorgelegte konkrete Frage gerichtet wurde, ob er gegebenenfalls bereit sei, sich an die Spitze einer solchen Aktion zu stellen, antwortete er durch seinen Vorsitzenden Fritz Ebert:

„Nach Auffassung des Parteivorstandes muß zum Herbst unbedingt etwas geschehen, um die Friedensfrage und die Wahlrechtsfrage zu fördern, jedoch sollen erst alle parlamentarischen Mittel erschöpft werden. Um eine solche Aktion nicht von vorn herein illusorisch zu machen, ist es unbedingt notwendig, daß die Vorverhandlungen für streng vertraulich erklärt werden. Es dürfen also auch keine Flugblätter hinausgehen, auch nicht solche ohne Unterschrift. Ist die Sache reif, dann muß ein Aufruf mit Namensnennung und Beifügung des vollen Titels an die Massen des Volkes gerichtet werden.“

Die Leitung der Unabhängigen, der dieser Bescheid von den damit beauftragten Mitgliedern des Metallarbeiterverbands Gustav Heller und Wilhelm Siering überbracht worden war, antwortete unterm 18. September 1918, nach ihrer Auffassung könnten sich

„nur solche Körperschaften an einer derartigen Waffenaktion beteiligen, die eine rein proletarische Politik, d.h. den rücksichtslosen Klassenkampf zur Beseitigung des Regierungssystems und zur Herbeiführung des Friedens betreiben wollten und das durch Erfüllung nachfolgender Voraussetzungen bestätigten:

  1. Ablehnung von Kriegskrediten jeder Art.

  2. Verzicht auf Beteiligung an einem Block mit bürgerlichen Parteien,

  3. Zurückziehung der Mitglieder politischer und gewerkschaftlicher Organisationen aus Regierungsämtern.“

Auf diese Bedingungen erklärten die Mehrheitssozialisten nicht eingehen zu können. Neue Kriegskredite würden entweder bloße Entmobilmachungskredite sein oder dadurch nötig werden, daß die Gegner den Krieg fortsetzen und auf deutschen Boden tragen wollten, obwohl Deutschland Wilsons Bedingungen restlos angenommen habe. Die Partei habe das große Opfer gebracht, Mitgliedern den Eintritt in die Regierung zu gestatten, um zu einem baldigen Frieden zu gelangen, da ohne die Sozialdemokratie ein solcher nicht zustande zu bringen sei. [1] Zu ihrer Zurückziehung liege zurzeit keine Veranlassung vor. Die Forderungen der Unabhängigen könnten nur so aufgefaßt werden, daß diese die Verhandlungen unter allen Umständen zum Scheitern bringen wollten.

Die Unabhängige Sozialdemokratie beantwortete diese ihr übermittelte Erklärung am 26. Oktober 1918 mit einem längeren Schreiben, das an der ganzen Politik der Mehrheitssozialisten bittere Kritik übte und unter anderem die Behauptung, daß das Verbleiben der Sozialisten in der Regierung im Interesse der Erzielung eines Friedens geboten sei, für nicht stichhaltig erklärte. Nach Empfang des Schreibens beschloß die Kommission der Metallarbeiter einstimmig, ihre Bemühungen als gescheitert anzusehen. „Die Kommission bedauert“, endet ihr Beschluß, „daß es ihr nicht gelungen ist, in den beiden für die Arbeiterklasse so überaus wichtigen Fragen (Friede und Wahlreform) eine Einigung herbeizuführen, und sieht daher ihre Aufgabe als erledigt an.“

So standen sich die Parteien der Sozialisten Deutschlands am Vorabend der Revolution voller Mißtrauen und Bitterkeit gegenüber.

Fußnote

1. Wie Philipp Scheidemann in seiner Schrift Der Zusammenbruch (Berlin, Verlag für Sozialwissenschaften) erzählt, hatten u.a. er, Otto Landsberg und Fr. Stampfer in der Fraktionssitzung der Mehrheitssozialisten, in der die Frage des Eintritts in die Regierung zur Entscheidung kam, scharf gegen den Eintritt gesprochen, waren aber überstimmt worden, weil in der Fraktion die Meinung überwog, daß die Partei dem Lande das Opfer zu bringen habe. (Scheidemann, a.a.O., S.174/177)


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008