J.W. Stalin

 

Über die Grundlagen des Leninismus

 

I
Die historischen Wurzeln des Leninismus

Der Leninismus erwuchs und gestaltete sich unter den Bedingungen des Imperialismus, als sich die Widersprüche des Kapitalismus bis zum äußersten zugespitzt hatten, als die proletarische Revolution zu einer Frage der unmittelbaren Praxis wurde, als die alte Periode der Vorbereitung der Arbeiterklasse zur Revolution an die neue Periode des direkten Sturms auf den Kapitalismus heranrückte und in sie hinüberwuchs.

Lenin bezeichnete den Imperialismus als „sterbenden Kapitalismus“. Weshalb? Weil der Imperialismus die Widersprüche des Kapitalismus bis zum höchsten Grad, bis zu den äußersten Grenzen steigert, jenseits deren die Revolution beginnt. Von diesen Widersprüchen sind drei Widersprüche als die wichtigsten zu betrachten.

Der erste Widerspruch ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Der Imperialismus ist die Allmacht der monopolistischen Truste und Syndikate, der Banken und der Finanzoligarchie in den Industrieländern. Im Kampf gegen diese Allmacht erwiesen sich die üblichen Methoden der Arbeiterklasse – Gewerkschaften und Genossenschaften, parlamentarische Parteien und parlamentarischer Kampf – als völlig unzureichend. Entweder du ergibst dich dem Kapital auf Gnade und Ungnade, vegetierst in alter Weise weiter und sinkst immer tiefer, oder du greifst zu einer neuen Waffe – so stellt der Imperialismus die Frage vor den Millionenmassen des Proletariats. Der Imperialismus führt die Arbeiterklasse an die Revolution heran.

Der zweite Widerspruch ist der Widerspruch zwischen den verschiedenen Finanzgruppen und imperialistischen Mächten in ihrem Kampf um Rohstoffquellen, um fremde Territorien. Der Imperialismus ist Kapitalexport nach den Rohstoffquellen, wütender Kampf um den Monopolbesitz dieser Rohstoffquellen, Kampf um die Neuaufteilung der bereits aufgeteilten Welt, ein Kampf, der mit besonderer Verbissenheit von den neuen Finanzgruppen und Mächten, die „einen Platz an der Sonne“ suchen, gegen die alten Gruppen und Mächte geführt wird, die an dem Eroberten zäh festhalten. Dieser wütende Kampf zwischen den verschiedenen Kapitalistengruppen ist deshalb bedeutsam, weil er als unausbleibliches Element imperialistische Kriege in sich schließt, Kriege zur Eroberung fremder Gebiete. Dieser Umstand ist seinerseits deshalb bedeutsam, weil er zur Folge hat, dass sich die Imperialisten gegenseitig schwächen, dass die Position des Kapitalismus überhaupt geschwächt wird, dass der Moment der proletarischen Revolution näher rückt und dass diese Revolution zur praktischen Notwendigkeit wird.

Der dritte Widerspruch ist der Widerspruch zwischen der Handvoll herrschender „zivilisierter“ Nationen und den Hunderten von Millionen der kolonialen und abhängigen Völker der Welt. Der Imperialismus ist die schamloseste Ausbeutung und unmenschlichste Unterdrückung der Hunderte von Millionen zählenden Bevölkerung riesiger Kolonien und abhängiger Länder. Extraprofit herauszupressen – das ist das Ziel dieser Ausbeutung und dieser Unterdrückung. Der Imperialismus ist aber gezwungen, in den Ländern, die er ausbeutet, Eisenbahnen, Fabriken und Werke zu bauen, Industrie- und Handelszentren anzulegen. Das Aufkommen der Klasse der Proletarier, das Entstehen einer einheimischen Intelligenz, das Erwachen des nationalen Selbstbewusstseins, das Erstarken der Befreiungsbewegung – das sind die unvermeidlichen Folgen dieser „Politik“. Das Erstarken der revolutionären Bewegung in allen Kolonien und abhängigen Ländern ohne Ausnahme beweist dies augenfällig. Dieser Umstand ist für das Proletariat deshalb wichtig, weil er die Positionen des Kapitalismus an der Wurzel unterhöhlt, indem er die Kolonien und abhängigen Länder aus Reserven des Imperialismus in Reserven der proletarischen Revolution verwandelt.

Das sind im Allgemeinen die wichtigsten Widersprüche des Imperialismus, die den alten, „blühenden“ Kapitalismus in den sterbenden Kapitalismus verwandelt haben.

Die Bedeutung des imperialistischen Krieges, der vor zehn Jahren ausbrach, besteht unter anderem darin, dass er alle diese Widersprüche zu einem Knoten schürzte und sie in die Waagschale warf, wodurch er die revolutionären Schlachten des Proletariats beschleunigte und erleichterte.

Mit anderen Worten: Der Imperialismus führte nicht nur dazu, dass die Revolution praktisch unvermeidlich wurde, sondern auch dazu, dass für den unmittelbaren Sturm auf die Festen des Kapitalismus günstige Bedingungen geschaffen wurden.

Das war die internationale Situation, die den Leninismus hervorbrachte.

Das ist ja alles ganz gut, wird man uns erwidern, aber was hat das mit Rußland zu tun, das doch kein klassisches Land des Imperialismus war und es auch nicht sein konnte? Was hat das mit Lenin zu tun, der vor allem in Rußland und für Rußland gewirkt hat? Weshalb ist gerade Rußland zur Heimstätte des Leninismus geworden, zum Geburtsland der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution?

Weil Rußland der Knotenpunkt aller dieser Widersprüche des Imperialismus war.

Weil Rußland mehr als irgendein anderes Land mit der Revolution schwanger ging, und weil aus diesem Grunde nur Rußland imstande war, diese Widersprüche auf revolutionärem Wege zu lösen.

Beginnen wir damit, dass das zaristische Rußland ein Herd jeder Art von Unterdrückung war, sowohl der kapitalistischen als auch der kolonialen und militärischen, in ihrer unmenschlichsten und barbarischsten Form. Wem ist es nicht bekannt, dass in Rußland die Allmacht des Kapitals mit dem Despotismus des Zarismus verschmolz, die Aggressivität des russischen Nationalismus mit dem Henkertum des Zarismus gegenüber den nichtrussischen Völkern, die Ausbeutung ganzer Gebiete – der Türkei, Persiens, Chinas – mit der Eroberung dieser Gebiete durch den Zarismus, mit dem Eroberungskrieg? Lenin hatte Recht, als er sagte, dass der Zarismus ein „militärisch-feudaler Imperialismus“ sei. Der Zarismus war die Konzentration der ins Quadrat erhobenen negativsten Seiten des Imperialismus.

Ferner. Das zaristische Rußland war eine gewaltige Reserve des westlichen Imperialismus nicht nur in dem Sinne, dass es dem ausländischen Kapital, das so ausschlaggebende Zweige der Volkswirtschaft Rußlands wie die Brennstoff- und Hüttenindustrie in seinen Händen hielt, freien Zutritt gewährte, sondern auch in dem Sinne, dass es den westlichen Imperialisten Millionen Soldaten zur Verfügung stellen konnte. Erinnern Sie sich der russischen Vierzehnmillionenarmee, die an den imperialistischen Fronten ihr Blut vergoss, um die Riesenprofite der englischen und französischen Kapitalisten zu sichern.

Weiter. Der Zarismus war nicht nur der Wachhund des Imperialismus im Osten Europas, sondern auch eine Agentur des westlichen Imperialismus, dazu bestimmt, aus der Bevölkerung Hunderte von Millionen an Zinsen für die Anleihen herauszupressen, die ihm in Paris und London, in Berlin, in Brüssel gewährt worden waren.

Schließlich war der Zarismus der treueste Bundesgenosse des westlichen Imperialismus bei der Aufteilung der Türkei, Persiens, Chinas usw. Wem ist es nicht bekannt, dass der imperialistische Krieg vom Zarismus im Bündnis mit den Imperialisten der Entente geführt wurde, dass Rußland ein wesentliches Element dieses Krieges war?

Deshalb waren die Interessen des Zarismus und des westlichen Imperialismus miteinander verschlungen und verflochten sich schließlich zu einem einzigen Knäuel imperialistischer Interessen.

Konnte sich der westliche Imperialismus mit dem Verlust einer so mächtigen Stütze im Osten und eines so reichen Reservoirs an Kräften und Mitteln abfinden, wie es das alte, zaristische, bürgerliche Rußland war, ohne alle seine Kräfte zu einem Kampf auf Leben und Tod gegen die Revolution in Rußland eingesetzt zu haben, um den Zarismus zu verteidigen und zu erhalten? Natürlich konnte er das nicht!

Daraus folgt aber: Wer den Schlag gegen den Zarismus führen wollte, musste unvermeidlich gegen den Imperialismus ausholen, wer sich gegen den Zarismus erhob, musste sich auch gegen den Imperialismus erheben, denn wer den Zarismus zu stürzen suchte, der musste auch den Imperialismus stürzen, sofern er wirklich gedachte, den Zarismus nicht nur zu zerschlagen, sondern ihn auch restlos zu vernichten. Die Revolution gegen den Zarismus näherte sich somit der Revolution gegen den Imperialismus, der proletarischen Revolution und musste in sie hinüberwachsen.

Indessen wuchs in Rußland eine gewaltige Volksrevolution empor, an deren Spitze das revolutionärste Proletariat der Welt stand, das einen so ernst zu nehmenden Verbündeten besaß wie die revolutionäre Bauernschaft Rußlands. Bedarf es noch eines Beweises, dass eine solche Revolution nicht auf halbem Wege stehen bleiben konnte, dass sie im Falle ihres Erfolges weitergehen und das Banner der Erhebung gegen den Imperialismus aufpflanzen musste?

Deshalb musste Rußland zum Knotenpunkt der Widersprüche des Imperialismus werden, nicht nur in dem Sinne, dass diese Widersprüche wegen ihres besonders ungeheuerlichen und besonders unerträglichen Charakters gerade in Rußland am leichtesten aufbrachen; nicht nur, weil Rußland eine höchst wichtige Stütze des westlichen Imperialismus war, die das Finanzkapital des Westens mit den Kolonien des Ostens verband, sondern auch deshalb, weil nur in Rußland die reale Kraft vorhanden war, die die Widersprüche des Imperialismus auf revolutionärem Wege zu lösen vermochte.

Daraus folgt aber, dass die Revolution in Rußland unvermeidlich zu einer proletarischen Revolution werden musste, dass sie gleich in den ersten Tagen ihrer Entwicklung internationalen Charakter annehmen, dass sie folglich unvermeidlich den Weltimperialismus in seinen Grundfesten erschüttern musste.

Konnten sich die russischen Kommunisten bei einer solchen Sachlage in ihrer Arbeit auf den eng nationalen Rahmen der russischen Revolution beschränken? Natürlich nicht! Im Gegenteil, die ganze Situation, sowohl die innere (die tiefgehende revolutionäre Krise) als auch die äußere (der Krieg), trieb sie dazu, in ihrer Arbeit über diesen Rahmen hinauszugehen, den Kampf in die internationale Arena zu tragen, die Eiterbeulen des Imperialismus aufzudecken, die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus zu beweisen, den Sozialchauvinismus und Sozialpazifismus zu zerschmettern und schließlich im eigenen Lande den Kapitalismus zu stürzen und für das Proletariat eine neue Kampfwaffe, die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution, zu schmieden, um den Proletariern aller Länder den Sturz des Kapitalismus zu erleichtern. Die russischen Kommunisten konnten gar nicht anders handeln, denn nur auf diesem Wege konnte man auf gewisse Veränderungen in der internationalen Lage rechnen, die Rußland vor einer Restauration der bürgerlichen Zustände sicherzustellen vermochten.

Deshalb wurde Rußland zur Heimstätte des Leninismus und der Führer der russischen Kommunisten, Lenin, zu seinem Schöpfer.

Mit Rußland und Lenin „passierte“ hier ungefähr dasselbe wie mit Deutschland und Marx-Engels in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Deutschland ging damals ebenso wie Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der bürgerlichen Revolution schwanger. Marx schrieb damals im Kommunistischen Manifest:

Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt, und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebenzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann. [2]

Mit anderen Worten, das Zentrum der revolutionären Bewegung verschob sich nach Deutschland.

Es ist wohl kaum daran zu zweifeln, dass gerade dieser Umstand, der von Marx in dem angeführten Zitat hervorgehoben wird, die wahrscheinliche Ursache dafür bildete, dass gerade Deutschland das Geburtsland des wissenschaftlichen Sozialismus und die Führer des deutschen Proletariats, Marx und Engels, seine Schöpfer wurden.

Dasselbe gilt, jedoch in noch höherem Grade, von Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Rußland befand sich in dieser Periode am Vorabend der bürgerlichen Revolution, es sollte diese Revolution unter fortgeschritteneren Bedingungen in Europa und mit einem entwickelteren Proletariat als Deutschland in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts (ganz zu schweigen von England und Frankreich) vollbringen, wobei alle Umstände dafür sprachen, dass diese Revolution zum Ferment und Vorspiel der proletarischen Revolution werden musste.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Lenin schon im Jahre 1902, als die russische Revolution erst zu keimen begann, in seiner Schrift Was tun“ die folgenden prophetischen Worte schrieb:

Die Geschichte hat uns [d.h. den russischen Marxisten. J.St.] jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist.

Die Verwirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern (wir können jetzt sagen) auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen. (Siehe 4. Ausgabe, Bd.5, S.345 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.1, S. 197].)

Mit anderen Worten, das Zentrum der revolutionären Bewegung musste sich nach Rußland verschieben.

Bekanntlich hat der Verlauf der Revolution in Rußland diese Voraussage Lenins vollauf bestätigt.

Ist es nach alledem verwunderlich, dass das Land, das eine solche Revolution vollbracht hat und ein solches Proletariat besitzt, zum Geburtsland der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution geworden ist?

Ist es da verwunderlich, dass der Führer des russischen Proletariats, Lenin, zugleich auch zum Schöpfer dieser Theorie und Taktik und zum Führer des internationalen Proletariats geworden ist?

 

 

Anmerkung

2. K. Marx und F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1939, S.60 [deutsch in Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.I, S.54].

 


Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004