J.W. Stalin

 

Über die Grundlagen des Leninismus

 

V
Die Bauernfrage

Aus diesem Thema greife ich vier Fragen heraus:

  1. die Fragestellung;
  2. die Bauernschaft während der bürgerlich-demokratischen Revolution,
  3. die Bauernschaft während der proletarischen Revolution;
  4. die Bauernschaft nach der Festigung der Sowjetmacht.
     

1. Die Fragestellung. Manche glauben, dass das Grundlegende im Leninismus die Bauernfrage sei, dass die Frage der Bauernschaft, ihrer Rolle, ihrer Bedeutung den Ausgangspunkt des Leninismus bilde. Das ist völlig falsch. Die Hauptfrage im Leninismus, sein Ausgangspunkt ist nicht die Bauernfrage, sondern die Frage der Diktatur des Proletariats, der Bedingungen ihrer Eroberung, der Bedingungen ihrer Festigung. Die Bauernfrage als die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats in seinem Kampf um die Macht ist eine abgeleitete Frage.

Dieser Umstand nimmt ihr jedoch nicht im Geringsten die ernste, lebenswichtige Bedeutung, die ihr für die proletarische Revolution zweifellos zukommt. Es ist bekannt, dass eine ernste Bearbeitung der Bauernfrage in den Reihen der russischen Marxisten gerade am Vorabend der ersten Revolution (1905) begann, als die Frage des Sturzes des Zarismus und der Verwirklichung der Hegemonie des Proletariats sich in ihrer ganzen Größe vor der Partei erhob und die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats in der bevorstehenden bürgerlichen Revolution zu einer lebenswichtigen Frage wurde. Bekannt ist auch, dass die Bauernfrage in Rußland noch aktueller wurde zur Zeit der proletarischen Revolution, als die Frage der Diktatur des Proletariats, ihrer Eroberung und Behauptung zur Frage nach den Verbündeten des Proletariats in der bevorstehenden proletarischen Revolution geführt hatte. Das ist auch verständlich: Wer zur Machtergreifung schreitet und sich auf sie vorbereitet, der muss sich für die Frage interessieren, wer seine wirklichen Verbündeten sind.

In diesem Sinne ist die Bauernfrage ein Teil der allgemeinen Frage der Diktatur des Proletariats und als solche eine der lebenswichtigsten Fragen des Leninismus.

Das gleichgültige, zuweilen geradezu ablehnende Verhalten der Parteien der II. Internationale gegenüber der Bauernfrage erklärt sich nicht nur aus den besonderen Entwicklungsbedingungen im Westen. Es erklärt sich vor allem daraus, dass diese Parteien nicht an die proletarische Diktatur glauben, die Revolution fürchten und nicht daran denken, das Proletariat zur Macht zu führen. Wer aber die Revolution fürchtet, wer nicht daran denkt, die Proletarier zur Macht zu führen, der kann sich auch nicht für die Frage nach den Verbündeten des Proletariats in der Revolution interessieren – für ihn ist die Frage nach den Verbündeten eine gleichgültige, nicht aktuelle Frage. Die Ironie, mit der sich die Helden der II. Internationale zur Bauernfrage verhalten, gehört bei ihnen zum guten Ton, gilt als Zeichen des „echten“ Marxismus. In Wirklichkeit gibt es hier auch nicht ein Gran Marxismus, denn die Gleichgültigkeit gegenüber einer so wichtigen Frage wie der Bauernfrage am Vorabend der proletarischen Revolution ist die Kehrseite der Ablehnung der Diktatur des Proletariats, ist ein unzweifelhaftes Merkmal des direkten Verrats am Marxismus.

Die Frage ist die: Sind die revolutionären Möglichkeiten, die in der Bauernschaft infolge bestimmter Bedingungen ihrer Existenz schlummern, bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind, besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für die proletarische Revolution nutzbar machen, die Bauernschaft, ihre ausgebeutete Mehrheit, aus einer Reserve der Bourgeoisie, die sie in den bürgerlichen Revolutionen des Westens war und heute noch ist, zu einer Reserve des Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können?

Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht, dass in den Reihen der Mehrheit der Bauernschaft revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese im Interesse der proletarischen Diktatur nutzbar zu machen.

Die Geschichte der drei Revolutionen in Rußland bestätigt die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Leninismus in vollem Umfang.

Daraus ergibt sich die praktische Folgerung, dass die werktätigen Massen der Bauernschaft in ihrem Kampf gegen Knechtung und Ausbeutung, in ihrem Kampf für die Befreiung von Unterdrückung und Elend unterstützt werden müssen. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Proletariat jede Bauernbewegung unterstützen muss. Es handelt sich hier um die Unterstützung solcher Bewegungen und Kämpfe der Bauernschaft, die direkt oder indirekt die Befreiungsbewegung des Proletariats fördern, die so oder so Wasser auf die Mühle der proletarischen Revolution leiten und dazu beitragen, die Bauernschaft in eine Reserve und einen Verbündeten der Arbeiterklasse zu verwandeln.
 

2. Die Bauernschaft während der bürgerlich-demokratischen Revolution. Diese Periode umfasst den Zeitraum von der ersten russischen Revolution (1905) bis zur zweiten (Februar 1917) einschließlich. Das charakteristische Merkmal dieser Periode ist die Loslösung der Bauernschaft vom Einfluss der liberalen Bourgeoisie, die Abkehr der Bauernschaft von den Kadetten, die Hinwendung der Bauernschaft zum Proletariat, zur Partei der Bolschewiki. Die Geschichte dieser Periode ist die Geschichte des Kampfes zwischen den Kadetten (liberale Bourgeoisie) und den Bolschewiki (Proletariat) um die Bauernschaft. Der Ausgang dieses Kampfes wurde durch die Dumaperiode entschieden, denn die Periode der vier Dumas war für die Bauernschaft ein Anschauungsunterricht, der den Bauern augenfällig zeigte, dass sie aus den Händen der Kadetten weder Land noch Freiheit erhalten würden, dass der Zar ganz und gar für die Gutsbesitzer ist, die Kadetten aber den Zaren unterstützen, dass die einzige Kraft, auf deren Hilfe man rechnen kann, die städtische Arbeiterschaft, das Proletariat ist. Der imperialistische Krieg hat die Lehre der Dumaperiode nur bestätigt, indem er die Abkehr der Bauernschaft von der Bourgeoisie, die Isolierung der liberalen Bourgeoisie vollendete, denn die Jahre des Krieges hatten gezeigt, wie vergeblich, wie trügerisch die Hoffnungen waren, vom Zaren und seinen bürgerlichen Bundesgenossen den Frieden zu erlangen. Ohne die anschaulichen Lehren der Dumaperiode wäre die Hegemonie des Proletariats unmöglich gewesen.

So bildete sich das Bündnis der Arbeiter und Bauern in der bürgerlich-demokratischen Revolution. So bildete sich die Hegemonie (Führerrolle) des Proletariats in dem gemeinsamen Kampf für den Sturz des Zarismus, die Hegemonie, die zur Februarrevolution des Jahres 1917 führte.

Die bürgerlichen Revolutionen des Westens (England, Frankreich, Deutschland, Österreich) gingen, wie bekannt, einen anderen Weg. Dort hatte die Hegemonie in der Revolution nicht das Proletariat inne, das wegen seiner Schwäche keine selbständige politische Kraft darstellte und auch nicht darstellen konnte, sondern die liberale Bourgeoisie. Dort erhielt die Bauernschaft die Befreiung von den feudalen Zuständen nicht aus den Händen des Proletariats, das zahlenmäßig schwach und unorganisiert war, sondern aus den Händen der Bourgeoisie. Dort marschierte die Bauernschaft gemeinsam mit der liberalen Bourgeoisie gegen die alte Ordnung. Dort bildete die Bauernschaft eine Reserve der Bourgeoisie. Dort führte infolgedessen die Revolution zu einer gewaltigen Verstärkung des politischen Gewichts der Bourgeoisie.

In Rußland dagegen zeitigte die bürgerliche Revolution ganz entgegengesetzte Resultate. Die Revolution in Rußland führte nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung der Bourgeoisie als einer politischen Kraft, nicht zur Vermehrung ihrer politischen Reserven, sondern zum Verlust ihrer grundlegenden Reserve, zum Verlust der Bauernschaft. Die bürgerliche Revolution in Rußland rückte nicht die liberale Bourgeoisie in den Vordergrund, sondern das revolutionäre Proletariat, um das sie die Millionenmassen der Bauernschaft zusammenschloss.

Daraus erklärt sich unter anderem auch die Tatsache, dass die bürgerliche Revolution in Rußland in verhältnismäßig kurzer Zeit in die proletarische Revolution hinüberwuchs. Die Hegemonie des Proletariats war der Keim der Diktatur des Proletariats und die Übergangsstufe zu ihr.

Wie erklärt sich diese eigenartige Erscheinung in der russischen Revolution, die ohne Präzedenzfälle in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen im Westen ist? Woher kam diese Eigenart?

Sie erklärt sich daraus, dass sich die bürgerliche Revolution in Rußland unter entwickelteren Bedingungen des Klassenkampfs entfaltete als im Westen, dass sich das russische Proletariat zu dieser Zeit bereits in eine selbständige politische Kraft verwandelt hatte, während die liberale Bourgeoisie, durch den revolutionären Geist des Proletariats erschreckt, jeden Schimmer revolutionären Geistes verloren hatte (besonders nach den Lehren des Jahres 1905) und nun Kurs nahm auf ein Bündnis mit dem Zaren und den Gutsbesitzern gegen die Revolution, gegen die Arbeiter und Bauern.

Es sind folgende Umstände zu berücksichtigen, die die Eigenart der russischen bürgerlichen Revolution bestimmten:

  1. Die beispiellose Konzentration der russischen Industrie am Vorabend der Revolution. Es ist zum Beispiel bekannt, dass in Rußland 54 Prozent aller Arbeiter in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern beschäftigt waren, während in einem so entwickelten Land wie Nordamerika in gleichartigen Betrieben nur 33 Prozent aller Arbeiter beschäftigt waren. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass schon dieser Umstand allein beim Bestehen einer so revolutionären Partei wie der Partei der Bolschewiki die Arbeiterklasse Rußlands zu einer gewaltigen Kraft des politischen Lebens des Landes werden ließ.
  2. Die ungeheuerlichen Formen der Ausbeutung in den Betrieben, verbunden mit dem unerträglichen Polizeiregime der Zarenschergen, ein Umstand, der jeden ernsthaften Streik der Arbeiter in einen überaus bedeutsamen politischen Akt verwandelte und die Arbeiterklasse stählte, bis sie eine bis zum letzten revolutionäre Kraft wurde.
  3. Die politische Schlappheit der russischen Bourgeoisie, die sich nach der Revolution von 1905 in Liebedienerei vor dem Zarismus und in direkte Konterrevolution verwandelte, was sich nicht nur aus dem revolutionären Geist des russischen Proletariats erklärt, das die russische Bourgeoisie in die Arme des Zarismus trieb, sondern auch aus der direkten Abhängigkeit dieser Bourgeoisie von Regierungsaufträgen.
  4. Das Vorhandensein ungeheuerlichster und unerträglichster Überreste der Leibeigenschaft im Dorfe, ergänzt durch die Allgewalt des Gutsbesitzers, ein Umstand, der die Bauernschaft in die Arme der Revolution trieb.
  5. Der Zarismus, der alles Lebendige drosselte und mit seiner Willkür die Unterdrückung durch den Kapitalisten und Gutsbesitzer noch schlimmer machte, ein Umstand, der den Kampf der Arbeiter und Bauern zu einem einheitlichen revolutionären Strom vereinigte.
  6. Der imperialistische Krieg, der alle diese Gegensätze des politischen Lebens Rußlands zu einer tiefen revolutionären Krise zusammenfließen ließ und der Revolution ungeheure Stoßkraft verlieh.

Wo sollte die Bauernschaft unter solchen Verhältnissen hin? Bei wem sollte sie Unterstützung suchen gegen die Allgewalt des Gutsbesitzers, gegen die Willkür des Zaren, gegen den verheerenden Krieg, der ihre Wirtschaft ruinierte? Bei der liberalen Bourgeoisie? Aber sie ist ein Feind – davon zeugte die langjährige Erfahrung aller vier Dumas. Bei den Sozialrevolutionären? Die Sozialrevolutionäre sind allerdings „besser“ als die Kadetten, und ihr Programm ist „etwas Passendes“, beinahe bäuerlich; aber was können die Sozialrevolutionäre bieten, wenn sie sich auf die Bauern allein zu stützen gedenken und in der Stadt schwach sind, dem Ort, woher der Gegner seine Kräfte in erster Linie nimmt? Wo ist die neue Kraft, die vor nichts haltmachen wird, weder auf dem Lande noch in der Stadt, die kühn in den vordersten Reihen gegen den Zaren und den Gutsbesitzer kämpfen und der Bauernschaft helfen wird, sich von Unterjochung, Landnot, Unterdrückung, Krieg frei zu machen? Gab es überhaupt eine solche Kraft in Rußland? Ja, es gab sie. Das war das russische Proletariat, das bereits im Jahre 1905 seine Kraft, seine Fähigkeit, bis zum letzten zu kämpfen, seinen Mut und seinen revolutionären Geist gezeigt hatte.

Jedenfalls gab es keine andere solche Kraft, und man hätte sie nirgends finden können.

Deshalb gelangte die Bauernschaft, die sich von den Kadetten abwandte und den Sozialrevolutionären zuwandte, zugleich zur Erkenntnis der Notwendigkeit, sich der Führung eines so mutigen Führers der Revolution unterzuordnen, wie es das russische Proletariat ist.

Das sind die Umstände, die die Eigenart der russischen bürgerlichen Revolution bestimmten.
 

3. Die Bauernschaft während der proletarischen Revolution. Diese Periode umfasst den Zeitraum von der Februarrevolution (1917) bis zur Oktoberrevolution (1917). Es ist dies eine verhältnismäßig kurze Periode, im ganzen acht Monate – aber diese acht Monate können, vom Standpunkt der politischen Aufklärung und der revolutionären Erziehung der Massen, getrost ganzen Jahrzehnten gewöhnlicher verfassungsmäßiger Entwicklung gleichgestellt werden, denn es waren acht Monate Revolution. Der charakteristische Zug dieser Periode ist die weitere Revolutionierung der Bauernschaft, ihre Enttäuschung über die Sozialrevolutionäre, die Abkehr der Bauernschaft von den Sozialrevolutionären, eine neue Wendung der Bauernschaft zum direkten Zusammenschluss um das Proletariat als die einzige, bis zum letzten revolutionäre Kraft, die das Land zum Frieden führen konnte. Die Geschichte dieser Periode ist die Geschichte des Kampfes der Sozialrevolutionäre (der kleinbürgerlichen Demokratie) und der Bolschewiki (der proletarischen Demokratie) um die Bauernschaft, um die Gewinnung der Mehrheit der Bauernschaft. Das Schicksal dieses Kampfes wurde entschieden durch die Koalitionsperiode, durch die Kerenskiperiode, durch die Weigerung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, das Land der Gutsbesitzer zu konfiszieren, durch den Kampf der Sozialrevolutionäre und Menschewiki für die Fortführung des Krieges, durch die Junioffensive an der Front, durch die Todesstrafe für die Soldaten, durch den Kornilowaufstand.

War früher, in der vorhergehenden Periode, der Sturz des Zaren und der gutsherrlichen Macht die Hauptfrage der Revolution, so wurde jetzt, in der Periode nach der Februarrevolution, wo es keinen Zaren mehr gab und wo der nicht enden wollende Krieg die Wirtschaft des Landes restlos zerrüttete und die Bauernschaft völlig zugrunde richtete, die Frage der Liquidierung des Krieges zur Hauptfrage der Revolution. Das Schwergewicht verschob sich offenkundig von den Fragen rein innerer Natur auf die Hauptfrage, den Krieg. „Schluss mit dem Krieg!“, „Heraus aus dem Krieg!“ – das war der allgemeine Schrei des erschöpften Landes und vor allem der Bauernschaft.

Um sich aber aus dem Kriege herauszureißen, musste man die Provisorische Regierung stürzen, musste man die Macht der Bourgeoisie stürzen, musste man die Macht der Sozialrevolutionäre und Menschewiki stürzen, denn sie, und nur sie, verschleppten den Krieg bis zum „siegreichen Ende“. Einen anderen Ausweg aus dem Kriege als den Sturz der Bourgeoisie gab es praktisch nicht.

Das war eine neue Revolution, eine proletarische Revolution, denn sie fegte die letzte, die äußerste linke Fraktion der imperialistischen Bourgeoisie, die Partei der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, von der Macht hinweg, uni eine neue, die proletarische Macht, die Macht der Sowjets, zu schaffen, um die Partei des revolutionären Proletariats, die Partei der Bolschewiki, an die Macht zu bringen, die Partei des revolutionären Kampfes gegen den imperialistischen Krieg und für einen demokratischen Frieden. Die Mehrheit der Bauernschaft unterstützte den Kampf der Arbeiter für den Frieden, für die Macht der Sowjets.

Einen anderen Ausweg gab es für die Bauernschaft nicht. Einen anderen Ausweg konnte es auch nicht geben.

Die Kerenskiperiode war somit für die werktätigen Massen der Bauernschaft eine gewaltige praktische Lehre, denn sie zeigte anschaulich, dass sich das Land unter der Herrschaft der Sozialrevolutionäre und Menschewiki nicht aus dem Kriege herausreißen wird, die Bauern weder Land noch Freiheit zu sehen bekommen werden, dass sich die Menschewiki und Sozialrevolutionäre von den Kadetten nur durch ihre süßen Reden und verlogenen Versprechungen unterscheiden, in Wirklichkeit aber dieselbe imperialistische, kadettische Politik treiben, dass die einzige Macht, die imstande ist, das Land aus der Sackgasse zu führen, nur die Macht der Sowjets sein kann. Die weitere Verschleppung des Krieges bestätigte nur die Richtigkeit dieser Lehre, trieb die Revolution voran und drängte die Millionenmassen der Bauern und Soldaten auf den Weg des direkten Zusammenschlusses um die proletarische Revolution. Die Isolierung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki wurde zur unumstößlichen Tatsache. Ohne den Anschauungsunterricht der Koalitionsperiode wäre die Diktatur des Proletariats unmöglich gewesen.

Das sind die Umstände, die den Prozess des Hinüberwachsens der bürgerlichen Revolution in die proletarische Revolution erleichterten. So entstand die Diktatur des Proletariats in Rußland.
 

4. Die Bauernschaft nach der Festigung der Sowjetmacht. Handelte es sich früher, in der ersten Periode der Revolution, hauptsächlich um den Sturz des Zarismus und dann, nach der Februarrevolution, vor allem um das Ausscheiden aus dem imperialistischen Kriege durch den Sturz der Bourgeoisie, so traten jetzt, nach der Liquidierung des Bürgerkriegs und der Festigung der Sowjetmacht, die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus in den Vordergrund. Die nationalisierte Industrie stärken und entwickeln; zu diesem Zweck die Industrie mit der Bauernwirtschaft durch den vom Staat regulierten Handel verknüpfen; die Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer ersetzen, um dann durch allmähliche Herabsetzung der Naturalsteuer den Austausch von Industrieerzeugnissen gegen die Produkte der Bauernwirtschaft herbeizuführen; den Handel beleben und die Genossenschaften entwickeln, in die die Millionenmassen der Bauernschaft einbezogen werden – so umriss Lenin die nächsten Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus auf dem Wege zur Errichtung des Fundaments der sozialistischen Wirtschaft.

Man sagt, diese Aufgabe könne die Kraft eines Bauernlandes wie Rußland übersteigen. Manche Skeptiker sagen sogar, dass sie einfach utopisch, unausführbar sei, denn die Bauernschaft sei eben Bauernschaft – sie bestehe aus Kleinproduzenten und könne deshalb nicht zur Organisierung des Fundaments der sozialistischen Produktion herangezogen werden.

Aber die Skeptiker irren, denn sie berücksichtigen nicht gewisse Umstände, die im gegebenen Fall von entscheidender Bedeutung sind. Untersuchen wir die wichtigsten dieser Umstände.

Erstens. Man darf die Bauernschaft der Sowjetunion nicht mit der Bauernschaft des Westens verwechseln. Eine Bauernschaft, die durch die Schule dreier Revolutionen gegangen ist, die zusammen mit dem Proletariat und mit dem Proletariat an der Spitze gegen den Zaren und die bürgerliche Macht gekämpft hat, eine Bauernschaft, die Boden und Frieden aus der Hand der proletarischen Revolution erhalten hat und infolgedessen zur Reserve des Proletariats geworden ist – eine solche Bauernschaft muss sich zwangsläufig von einer Bauernschaft unterscheiden, die während der bürgerlichen Revolution unter der Führung der liberalen Bourgeoisie gekämpft hat, die den Grund und Boden aus der Hand dieser Bourgeoisie erhalten hat und infolgedessen zur Reserve der Bourgeoisie geworden ist. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Sowjetbauernschaft, die die politische Freundschaft und die politische Zusammenarbeit mit dem Proletariat schätzen gelernt hat und die dieser Freundschaft und dieser Zusammenarbeit ihre Freiheit verdankt, für die ökonomische Zusammenarbeit mit dem Proletariat ganz besonders geeignet sein muss.

Engels sagte: „Die Eroberung der politischen Macht durch die sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt. Um aber die politische Macht zu erobern, muss diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehen, muss eine Macht werden auf dem Land.“ (Siehe Engels, Bauernfrage, Ausgabe 1922. [16]) Das schrieb er in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Hinblick auf die Bauernschaft des Westens. Braucht erst noch nachgewiesen zu werden, dass es den russischen Kommunisten, die in dieser Beziehung im Verlauf dreier Revolutionen eine kolossale Arbeit geleistet haben, bereits gelungen ist, sich auf dem Lande einen Einfluss und eine Stütze zu schaffen, von denen unsere Genossen im Westen nicht einmal zu träumen wagen? Wie kann man leugnen, dass dieser Umstand es von Grund aus erleichtern muss, die ökonomische Zusammenarbeit zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft Rußlands in die Wege zu leiten?

Die Skeptiker reden immer wieder von den Kleinbauern als einem Faktor, der mit dem sozialistischen Aufbau unvereinbar sei. Hören wir jedoch, was Engels über die Kleinbauern des Westens sagt:

„Und wir stehe ja entschieden auf Seite des Kleinbauern; wir werden alles nur irgend Zulässige tun, um sein Los erträglicher zu machen, um ihm den Übergang zur Genossenschaft zu erleichtern, falls er sich dazu entschließt, ja sogar um ihm, falls er diesen Entschluss noch nicht fassen kann, eine verlängerte Bedenkzeit auf seiner Parzelle zu ermöglichen. Wir tun dies nicht nur, weil wir den selbst arbeitenden Kleinbauern als virtuell zu uns gehörend betrachten, sondern auch aus direktem Parteiinteresse. Je größer die Anzahl der Bauern ist, denen wir den wirklichen Absturz ins Proletariat ersparen, die wir schon als Bauern für uns gewinnen können, desto rascher und leichter vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung. Es kann uns nicht dienen, wenn wir mit dieser Umgestaltung warten müssten, bis die kapitalistische Produktion sich überall bis auf ihre letzten Konsequenzen entwickelt hat, bis auch der letzte Kleinhandwerker und der letzte Kleinbauer dem kapitalistischen Großbetrieb zum Opfer gefallen sind. Die materiellen Opfer, die in diesem Sinn im Interesse der Bauern aus öffentlichen Mitteln zu bringen sind, können vom Standpunkt der kapitalistischen Ökonomie aus nur als weggeworfenes Geld erscheinen, aber sie sind trotzdem eine vortreffliche Anlage, denn sie ersparen vielleicht den zehnfachen Betrag bei den Kosten der gesellschaftlichen Reorganisation überhaupt. In diesem Sinn können wir also sehr liberal mit den Bauern verfahren.“ (Ebenda.)

Das sagte Engels im Hinblick auf die Bauernschaft des Westens. Ist es aber nicht klar, dass das von Engels Gesagte nirgends so leicht und so vollständig verwirklicht werden kann wie im Lande der Diktatur des Proletariats? Ist es nicht klar, dass man nur in Sowjetrußland sofort und vollständig den Übergang des „virtuell zu uns gehörenden selbst arbeitenden Kleinbauern“ auf unsere Seite durchsetzen, die dazu erforderlichen „materiellen Opfer“ bringen und das dazu nötige „sehr liberale Verfahren mit den Bauern“ praktizieren kann, dass diese und ähnliche Maßnahmen zugunsten der Bauern in Rußland bereits durchgeführt werden? Wie kann man leugnen, dass dieser Umstand seinerseits den wirtschaftlichen Aufbau des Sowjetlandes erleichtern und vorantreiben muss?

Zweitens. Man darf die Landwirtschaft Rußlands nicht mit der Landwirtschaft des Westens verwechseln. Dort vollzieht sich die Entwicklung der Landwirtschaft in den gewöhnlichen Bahnen des Kapitalismus, unter den Verhältnissen einer tiefgehenden Differenzierung der Bauernschaft, mit großen Gütern und privatkapitalistischen Latifundien auf dem einen Pol und mit Pauperismus, Elend und Lohnsklaverei auf dem andern. Dort sind infolgedessen Zerfall und Zersetzung ganz natürlich. Anders in Rußland. Bei uns kann die Entwicklung der Landwirtschaft schon deswegen nicht diesen Weg gehen, weil das Bestehen der Sowjetmacht und die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsinstrumente und -mittel eine solche Entwicklung nicht zulassen. In Rußland muss die Entwicklung der Landwirtschaft einen anderen Weg gehen, den Weg des genossenschaftlichen Zusammenschlusses von Millionen Klein- und Mittelbauern, den Weg der Entwicklung von Massengenossenschaften auf dem Lande, die vom Staat durch Gewährung von Vorzugskrediten unterstützt werden. Lenin hat in seinen Artikeln über das Genossenschaftswesen treffend darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der Landwirtschaft bei uns einen neuen Weg gehen muss, den Weg der Einbeziehung der Mehrheit der Bauern in den sozialistischen Aufbau durch die Genossenschaften, den Weg der allmählichen Durchdringung der Landwirtschaft mit den Prinzipien des Kollektivismus, zuerst auf dem Gebiet des Absatzes und dann auch auf dem Gebiet der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse.

Höchst interessant sind in dieser Beziehung einige neue Erscheinungen auf dem Lande im Zusammenhang mit der Tätigkeit der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Es ist bekannt, dass innerhalb des Allrussischen Verbands landwirtschaftlicher Genossenschaften [17] neue große Organisationen für einzelne Zweige der Landwirtschaft, für Flachs, Kartoffeln, Öl usw., entstanden sind, die eine große Zukunft haben. Unter diesen umfasst zum Beispiel die Flachszentrale ein ganzes Netz von Produktivgenossenschaften der Flachsbauern. Die Flachszentrale beliefert die Bauern mit Saatgut und Produktionsinstrumenten, kauft dann von denselben Bauern den gesamten erzeugten Flachs auf und setzt ihn im großen auf dem Markt ab; sie sichert den Bauern Beteiligung am Gewinn und verknüpft so die Bauernwirtschaft durch den Allrussischen Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften mit der staatlichen Industrie. Wie soll man eine solche Organisationsform der Produktion nennen? Meiner Ansicht nach ist es ein Heimgewerbesystem staatssozialistischer Großproduktion in der Landwirtschaft. Ich spreche hier vom Heimgewerbesystem staatssozialistischer Produktion in Anlehnung an das Heimgewerbesystem des Kapitalismus, zum Beispiel in der Textilproduktion, wo die Heimarbeiter, die vom Kapitalisten die Rohstoffe und Werkzeuge erhielten und ihm ihre gesamten Erzeugnisse ablieferten, faktisch halbe Lohnarbeiter waren, die zu Hause arbeiteten. Das ist eins der vielen Kennzeichen dafür, welchen Weg die Entwicklung der Landwirtschaft bei uns gehen muss. Von anderen Kennzeichen der gleichen Art in anderen Zweigen der Landwirtschaft will ich hier absehen.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die gewaltige Mehrheit der Bauernschaft gern diesen neuen Entwicklungsweg beschreiten und den Weg der privatkapitalistischen Latifundien und der Lohnsklaverei, den Weg des Elends und des Ruins verschmähen wird.

Über die Entwicklungswege unserer Landwirtschaft sagt Lenin:

„Die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft usw. – ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, allein aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als Krämerei behandelt haben und die wir in gewisser Hinsicht jetzt, unter der NÖP, ebenso zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.33, S.428 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.989].)

Lenin spricht weiter von der Notwendigkeit der finanziellen und sonstigen Unterstützung der Genossenschaften als des „neuen Prinzips der Organisierung der Bevölkerung“ und der neuen „Gesellschaftsordnung“ unter der Diktatur des Proletariats wie folgt:

„Jede Gesellschaftsordnung entsteht nur, wenn sie durch eine bestimmte Klasse finanziell unterstützt wird. Man braucht nicht an jene Hunderte und aber Hunderte Millionen Rubel zu erinnern, die die Geburt des ‚freien‘ Kapitalismus kostete. Jetzt müssen wir erkennen, dass gegenwärtig diejenige Gesellschaftsordnung, die wir über das gewöhnliche Maß hinaus unterstützen müssen, die genossenschaftliche Ordnung ist, und diese Erkenntnis in die Tat umsetzen. Aber unterstützen müssen wir sie im wahren Sinne dieses Wortes, das heißt, es genügt nicht, unter dieser Unterstützung die Förderung eines beliebigen genossenschaftlichen Umsatzes zu verstehen, unter dieser Unterstützung muss man die Unterstützung eines genossenschaftlichen Umsatzes verstehen, an dem wirkliche Massen der Bevölkerung wirklich teilnehmen.“ (Ebenda, S.429, russ. [S.990, deutsch].)

Wovon zeugen alle diese Umstände?

Davon, dass die Skeptiker unrecht haben.

Davon, dass der Leninismus recht hat, der die werktätigen Massen der Bauernschaft als Reserve des Proletariats betrachtet.

Davon, dass das an der Macht stehende Proletariat diese Reserve heranziehen kann und muss, um die Industrie mit der Landwirtschaft zusammenzuschließen, den sozialistischen Aufbau zu entfalten und für die Diktatur des Proletariats jenes unerlässliche Fundament zu schaffen, ohne das der Übergang zur sozialistischen Wirtschaft unmöglich ist.

 

 

Anmerkungen

16. Siehe F. Engels, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, 1922, S.41 und 66/67 [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.II, S.395 und 408].

17. Der Allrussische Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften bestand von August 1921 bis Juni 1929.

 


Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004